Bilderbuch haben es getan. Dat Adam tun es. Nun auch noch die Hamburger Band Der Ringer. Ihr Debütalbum Soft Kill strotzt von überzogenen Autotune-Effekten. Warum sie sich damit nicht einfach bloß dem Trash hingeben oder im Schatten von Cher und den Black Eyed Peas stehen, zeigt ein etwas tieferer Blick auf kunstaffine Subkulturen und die Logik des Geschmacks.
Am 27.1. erscheint das Debütalbum der Hamburger Band Der Ringer. Es klingt, so viel kann verraten werden, nach vielem, nach düsterem Synthpop etwa, nach verschrobenem Indie oder verträumter Selbstmord-Romantik, bloß nicht nach einem Debütalbum. Woran liegt das? Zum einen sicher daran, dass sie beim Berliner Label Staatsakt unter Vertrag stehen, das schon Bonaparte, Fraktus oder Isolation Berlin in ihren Unterscheidungsmerkmalen förderte. Zum anderen vermutlich an der Radikalität, mit der sie bestimmte Sounds einsetzen, allen voran Autotune-Effekte im Gesang – jene, so könnte man urteilen, Waffe des Mainstream, jenes Abfallprodukt der 90er. Aber Autotune ist viel mehr als das und Der Ringer machen sich, wie neuerdings auch andere Künstler, auf, dies zu beweisen. Denn was ist Autotune? Wofür stand es?
Aufstieg und „Tod“ des Autotunes (als ernsthafter Kunst)
Mit einem Blick auf seine Anfänge verwundert es durchaus, dass Gesangs-Effekte auf Basis von Autotune überhaupt jemals eine solche Präsenz in der Popmusik erlangen konnte. Denn als der Hersteller Antares 1996 seine neue Software Auto-Tune vorstellte (mittlerweile gibt es viele Softwares und der einstige Markenname wurde dabei zum Decknamen), präsentierte er es als ein Tool, von dem im Grunde nur Sänger٭innen etwas mitbekommen sollten, nicht aber deren Publikum. Denn das Programm korrigiert zunächst einmal bloß Abweichungen gesungener Töne von den gespielten Harmonien – ein Revolution auch für das Live-Geschäft und Künstler٭innen aller Genres. Plötzlich klangen die Refrains auf Konzerten wie auf Alben, Sänger٭innen konnten noch mehr tanzen oder konzentrierter E-Gitarre spielen.
Schnell gingen jedoch auch einige Künstler٭innen gegenüber dem vermeintlichen Korrekturprogramm in die Offensive, und setzten es voller Stolz ein, bekanntestes Beispiel dafür Cher, die in Songs wie Believe (und allem, was sie danach gemacht hat) die Einstellungen von Auto-Tune ausreizte. Durch eine Erhöhung der Geschwindigkeit, in der mit Autotune der Gesang korrigiert wird, lassen sich mit dem Programm bei Übergängen zwischen einzelnen Tönen nämlich auch jene mechanisch anmutenden, synthetisch gurgelnden Tonsprünge erzeugen, die sich unter dem Namen Cher-Effekt etablierten und ihre Früchte trugen.
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Mit der Etablierung digitaler Vocal-Effects in den Hörgewohnheiten, die sich seit den 90ern vollzog, wurden aber auch den kunstvollsten und ernsthaften Zweigen der Popmusik viel losgetreten – man denke an Radioheads Kid A-Session oder Daft Punks harder, better, faster, stronger vollzogene Verwandlung zu Robotern, die ja zumindest als Projekt interessant ist. Vor allem wurden aber Mainstream-Pop, Hiphop und R’n’B in diesen Effekten ertränkt – und werden es noch immer. Dass diese Früchte vor allem hier wuchsen, gilt auch als Verdienst des Rappers T-Pain, der seit Mitte der 2000er Autotune und Cher-Effekte in jedem seiner Songs aufgreift und so in großen Schritten zu dessen Popularität als Mainstream-Effekt beitrug. Bekannte Beispiele, die ihm folgten, sind allseits bekannte Songs von Snoop Dogg, Chris Brown, The Black Eyed Peas oder Lady Gaga. Irgendwann zum Ende der 2000er schlug der Effekt plötzlich so stark um sich, dass Jay-Z 2009 mit einem Song aufsehen erregen konnte, nur weil er ihn einfach mal wegließ und einen Song mit ganz normal gesungenem Refrain präsentierte. „Death of Autotune“ hieß der Song, zum Tod des Effekts führte er jedoch nicht.
Der „Cher-Effekt“ war sicher nicht immer Trash, bei ihr selbst konnte er noch als stolze Neuerfindung einer seit Jahrzehnten etablierten Künstlerin verstanden werden. Doch er entwickelte sich so rasant auf die produktionstechnische Spitze zu, dass er eben zu Trash zerschellte. Dass diverse Künstler٭innen sich nach wie vor Trümmer dieses kurzen Glanzes zu eigen machen, ohne jemals künstlerisch über diesen hinausgehen zu können, prägte auch das öffentliche Bewusstsein von Autotune. Dass nun jedoch auch andere Bands anfangen, aus den Trümmern, wie Der Ringer es tun, selbstbewusst ein eigenes Mosaik daraus formen, ist bemerkenswert – doch kulturgeschichtlich kein Einzelphänomen. Denn wenn sich über Geschmack auch nicht viel Objektives sagen lässt, so doch zumindest über seine Logik. Diesen Gedanken notierte Susan Sontag schon 1964 in einem Aufsatz, den sie als Notes on Camp veröffentlichte. Es gibt gute Gründe, ihn mal wieder zu lesen.
Mechanismen und Logiken des Geschmacks
Susan Sontag bezieht sich nämlich auf ein kulturelles Phänomen, das unter anderem in ihrer Zeit in New York aufflammte, sich aber auch heute wieder beobachten lässt. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg drohte der intellektuelle Kultur-Diskurs immer abstrakter und komplexer zu werden und schloss immer weniger leicht zugängliche Kunstwerke von Moderner (Bildender) Kunst bis Stockhausens Zwölftonmusik mit ein. Doch anstatt sich, wie die kritische Theorie, immer weiter vom Pop zu entfremden und damit auch von der Kultur zu isolieren, die sie einfangen wollten, schlugen viele Künstler٭innen und Autor٭innen eine Gegenbewegung ein, die sich heute zu wiederholen scheint.
Zum einen öffneten sich viele Kritiker٭innen wieder für Kunstwerke, die sie unter kritischen Vorgaben eigentlich ignorieren sollten. Ein prominentes Beispiel ist für Sontag das Aufkommen von Listicals à la „Die 10 besten schlechten Filme, die ich je gesehen habe“ in der Filmkritik. Zum anderen begannen aber auch viele Künstler٭innen damit, bewusst und spielerisch Elemente aufzugreifen, die von einem kritischen Standpunkt aus als minderwertige Kunst oder Kitsch erscheinen würden. Ein Beispiel hierfür sieht Sontag beispielsweise im heutigen Kultfilm La Dolce Vita, in dem Regisseur Federico Fellini seine Hauptdarstellerin Anita Ekberg dazu bringt, noch einmal die leidlich oft in kitschigen Filmen dargebotene hilflose Frau zu geben, die sich vom männlichen Helden erobern lässt. In seiner Inszenierung wirkt Ekberg jedoch erstmals dabei von ihm bewusst stark überzeichnet, womit Fellini sie in gewisser Weise dazu bringt, sich selbst zu parodieren. Wer Camp nicht verstand, ging damals bescheiden, wer es doch tat, mutig ins Kino. Das Phänomen hinter diesen Entwicklungen erfasst Sontag unter dem Begriff „Camp“.
Im von ihr gekürten Camp-Geschmack geht es um eine konsequent ästhetische Erfahrung der Welt, um eine spielerische, anti-seriöse Verdrängung des Ernstes, die diesen nicht bloß ironisiert, sondern eine völlig neue, komplexe Beziehung zum „Ernsthaften“ anbietet. Der Grundgedanke ist: Wer auf hohe und ernste Vergnügen besteht, beraubt sich des Vergnügens. Denn dabei wird die Möglichkeit des Genusses immer stärker eingeschränkt, so stark, dass er sich in absehbarer Zeit nicht mehr bedienen lässt. An dieser Stelle tritt der Camp-Geschmack mit seiner hedonistisch-therapeutischen Wirkung ein.
Die Liebe zur Übertreibung
Allgemein lässt sich Camp demnach als eine bewusste und reflektierte Liebe zum Übertriebenen bis zum Übergeschnappten verstehen, als eine Betrachtung der Welt unter Gesichtspunkten eines speziellen Stils. Denn warum fingen Intellektuelle in den 1960er Jahren wieder an, kitschige Schlager zu hören oder verschnörkelte Vasen aus dem 19. Jahrhundert zu sammeln? Was finden sie plötzlich wieder an den Filmen Leni Riefenstahls, die sich für sie doch eigentlich bereits als platte Ästhetisierung überwundener und gefährlicher Idealisierung herausgestellt hatten? Sie taten es nicht, weil sie diese Idealisierung und deren kulturellen Hintergrund teilten, sondern indem sie den darin verwirklichten kunsthaften Stil betonten – auf Kosten des Inhalts.
Im Camp werden den Möglichkeiten, einen bestimmten künstlerischen Aspekt entweder gut zu finden oder als schlecht abzutun, weitere hinzugefügt. Es wird eine Haltung eingeführt, die hinsichtlich des Inhalts neutral ist. Dadurch ist Camp ohne Frage unengagiert, un- bzw. postpolitisch. Denn es geht ihm um eine Verherrlichung des individuellen „Charakters“, um die, wie Susan Sontag schreibt, Einheit und Kraft der Persönlichkeit. Nicht zufällig ähnelt die von Sontag beschriebene Kulturbewegung heutigen Szenen, denn schon in den 60er Jahren kam für Personen, die eine Anfälligkeit für den Camp, das Andersartige, bloß beim zweiten Drübernachdenken wieder Schöne, ein Name auf, der heute wieder stark im Umlauf ist: Hipster.
Die „campy“ Hipster von damals und heute
Hörte der Hipster von damals unter ernsthaften Aspekten Jazz, unter campigen jedoch durchaus auch kitschigen Schlager, so ist es bei dem von heute auf der einen Seite vielleicht immer noch Jazz, vielleicht aber auch Radiohead, Animals as Leaders oder New Weird Bavaria, auf der anderen findet er neben viel, viel Trash aber eben auch wieder Zugang zu Cher. Künstler٭innen, Kritiker٭innen und Konsument٭innen nehmen vermehrt Elemente auf, die sie rationalerweise eigentlich überwunden hatten, arbeiten gemeinsam an der Ent- und Rekontextualisiert dieser Elemente und zergliedern sich dabei untereinander immer wieder in kleinere Subkulturen, deren Gemeinsamkeiten im Streben nach Individualität und Andersartigkeit bestehen. Auf diese Gruppen nun greift Sontags Theorie voll und ganz und wird damit höchst aktuell.
Denn um diese besondere Ästhetik zu verstehen, hilft eine von ihr formulierte Unterscheidung ungemein: So gibt es, wie sie feststellt, verschiedene Erlebnisweisen von Kunst, die allesamt schöpferisch sind, zunächst die klassische, in der ein Kunstwerk wegen seiner Bedeutung und Würde geschätzt wird. Weitere schöpferische Erlebnisweisen wiederum zeichnen sich abseits der Ernsthaftigkeit ab, etwa in der Komödie oder Tragödie. Der Camp wiederum ist eine dritte schöpferische Erlebnisweise, nämlich diejenige der gescheiterten Ernsthaftigkeit, der Theatralisierung der Erfahrung. Im Camp werden sowohl die Harmonien der traditionellen Ernsthaftigkeit als auch die Risiken der rückhaltlosen Identifikation mit extremen Gefühlslagen ab. Hier spannt sich der Bogen zum Autotune.
Autotune-Mosaiken in Austro-Art-Punk, Berliner Cloud-Rap und Hamburger Cyber-Postpunk: Formen von Camp?
Denn auch Autotune kann nach Susan Sontags Verständnis gerade deswegen als Camp verstanden werden, weil es in der Camp-Ästhetik nicht um Schönheit, sondern um den Grad der Kunstmäßigkeit geht, um eine Stilisierung. Denn Kunst wird hierbei immer in ihrem kulturellen Kontext erfasst, der gleichzeitig überwunden wird. Personen oder Gegenstände als Camp wahrzunehmen, heißt, Existenz überhaupt als das Spielen einer Rolle zu begreifen. Die Erlebnisweise des Camp spricht auf einen doppelten Sinn an, in dem sich einige Dinge begreifen: den Unterschied zwischen dem Ding in seiner Bedeutung, und dem Ding als reinem Kunstprodukt. Die kulturelle Bedeutung von Autotune wiederum scheint klar: Es war plötzlich möglich und praktisch, also fand es Verwendung, das damit Machbare wurde in kurzer Zeit maßlos ausgereizt und Künstler٭innen, die den Effekt aufgreifen, dürften unter seriösen Aspekten eigentlich keine Beachtung finden.
Dennoch erleben wir ihn nach wie vor als pompöses, übermenschliches und gleichzeitig mechanisches Stilelement, das verquere Ansprüche an Künstler٭innen in Frage stellt. Es gibt eine gleichbleibende Erlebnisweise, die einem bestimmten Geschmack zugrunde liegt und ihn erzeugt. Im Falle von Autotune ist dies das Synthetische. Das Aufgreifen von Autotune bei Der Ringer nun gleicht demnach einem Geheimcode, der besondere Subkulturen anspricht, die diesen verstehen. Ist ein Wesensmerkmal des Camp die Liebe zum Übernatürlichen, zum Trick und zur Übertreibung, so erscheint es wiederum ohnehin schon als längst überfällig, dass auch eine Band wie die Wiener Art-Punker Bilderbuch Autotune aufgreift:
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Bei Bilderbuch ist der Effekt eine Facette in einer ohnehin schon vollständig stilisierten eigenen Kunstwelt, die bereits über drei Alben ausgebaut wurde und ohne Frage „campy“ ist. Ähnlich, wenn auch weniger verspielt, findet sich der Effekt auch bei der Berliner „Cloud Rap“-Combo Dat Adam und ihrem 2016er Debüt-Album Hydra Verwendung, das eben stark überzogen und mystisch verkünstelt klingt. Bei Der Ringer hingegen ist er einfach nackt, wirkt wie neu erfunden, und ragt aus einem ansonsten nicht wirklich individuellen Bandsound hervor, was die Verwendung eben noch etwas radikaler als in den anderen Beispielen macht. Ihre Musik kann als eine Betonung des individuellen Charakters verstanden werden. Im Camp-Geschmack geht es, wie Sontag schreibt, auch darum, kleine Triumphe und lästige Heftigkeiten des „Charakters“ zu genießen, anstatt Urteile über diese zu fällen. Und so authentisch bspw. ein Folk-Song in unseren Hörgewohnheiten auch klingen mag, ist die Vortragssituation, in der dabei ein Seelenleben besungen und bespielt wird, ohnehin durch die Vortragssituation immer schon künstlich. Der Ausdruck des Charakters steht hinter technischen, musikalischen, gesanglichen Fähigkeiten zurück, die Hörer٭innen als ansprechend oder abstoßend bewerten und das Urteil über die Musik bestimmen. Ein Ausdruck individuellen Charakters als Normabweichung wird hier bisweilen eher als störend wahrgenommen.
Diese Distanz lässt sich mit Hilfe von Autotune überwinden. Man muss seine bisherigen Einsatzmöglichkeiten hierzu bloß völlig überwinden und auf ihre abstrakte Erscheinungsweise zurückführen. Denn was eigentlich als entcharakerlichendes Element in Popsong-Refrains eingesetzt wurde, kann Interpret٭innen auch wieder näher an das heranführen, was er ausdrücken will, weil es sie unabhängig von einer Bewertung technischer Fertigkeiten macht. Kein Zufall ist es da, dass Der Ringer auf ihren EPs, welche dem Album vorangingen, gesanglich Autotune-frei noch eher nach Hamburger Schule und Bands wie Tomte klangen, die eine Verweigerung von Melodien etablierten – eben nicht nur als Selbstschutz, sondern um den narrativen Charakter der Songs in den Vordergrund zu rücken. Der Einsatz von Autotune in sämtlichen Liedern des Albums ist ein weiterer, großer Schritt in diese Richtung. Technische Fähigkeiten zu zeigen scheint bei der Musik, die sie machen zu wollen, schlicht und einfach eher hinderlich.
„Das Androgyn ist ohne Zweifel eines der großen Leitbilder der Camp-Sehweise.“
Susan Sontag. Zur Erinnerung:
Der Ringer – fotografiert von Markus Alexander Voigt
Der Camp beruht folglich auf Naivität, untergräbt sie jedoch gleichzeitig. Camp ist, wie Sontag schreibt, entweder völlig naiv oder durch und durch bewusst, wenn man sich etwa etwa ein Spiel daraus macht, „campy“ zu sein. Dass aufstrebende Mainstreampopsternchen Autotune aufgreifen, ist naiv, weil sie es als Voraussetzung des Erfolgs ansehen. Dass Bilderbuch und Der Ringer es aufgreifen, untergräbt dies, kopiert die Mechanismen nicht nur, sondern überzeichnet sie dabei auch gleichzeitig, denn die Naivität wird selbstbewusst ausgespielt. Das Verhältnis ihrer Musik zu der von Cher und T-Pain wirkt eher sentimental. Das Kennzeichen des Camp ist, wie Sontag schreibt, der Geist der Extravaganz (der bei Bilderbuch doch recht explizit wird). Camp ist Kunst, die sich ernst gibt, aber durchaus nicht ernst genommen werden kann, weil sie schlicht „zu viel“ ist.
Klingen Der Ringer denn nun gut? Keine Ahnung, beim ersten Hören wird der Sound sicher viele irritieren, aber so blöd es klingt: Darum geht’s nicht. Denn was sie machen, lässt sich nunmal durch und durch mit der Bedienung eines sehr speziellen Geschmacks erklären, den Sontag als Camp erfassen würde. Und dieser wendet sich eben vom Gut-schlecht-Schema der gewöhnlichen ästhetischen Wertung ab. Camp wertet Dinge nicht bloß um, erfasst sie nicht bloß als „cool, weil scheiße“, sondern bietet gleichzeitig neue Normen für die Bewertung von Kunst und Leben an. Genau darin sind Der Ringer, genau wie Bilderbuch, avantgardistisch. Niemand möchte, so eine Mutmaßung, Soft Kill hören, weil er٭sie den Einsatz des Cher-Effekts einfach nur schön findet und im Werk von Der Ringer eine kontinuierlichen Weiterentwicklung von Believe erkennt. Vielmehr erscheint das Aufgreifen des Effekts hier reflektiert und stilisiert.
Des Ringers düsterer Dreampop
Bilderbuchs Musik spricht eine größere Gruppe an, weil ihre Musik verspielter ist und sie nicht nur jene kleinen urbanen Subkulturen ansprechen, die den Cher-Effekt als Camp verstehen, sondern auch ein breiteres, vor allem jüngeres Publikum abholen, das von den Gewohnheiten des aktuellen Mainstreams aus bloß Lust auf etwas Cooleres hat und sich abholen lässt. Dagegen ist der abstraktere, düsterere Sound von Der Ringer spezieller, expliziter und damit auch elitistischer. Sie staffieren ihn textlich mit charmanten Außenseiterpositionen à la „Was spricht dagegen ohnmächtig zu sein? Nichts zu spüren, muss doch schön sein“ weiter aus. Auch findet sich schlagwortbasiertes Schreiben wieder, etwa wenn sie singen: „Mikroskop. Schau ganz tief in mich hinein“, oder: „Schwarze Materie versperrt mir meine Sicht“. Was dabei herauskommt, ist vermutlich so etwas wie düsterer Dreampop, den ihnen erstmal jemand nachmachen soll. Der Band Der Ringer gewährt der Einsatz deutlicher Autotune-Effekte die Möglichkeit, von Anfang an einen verschrobenen und sehr eigenen Sound auszuprägen und macht Soft Kill zu einem mutigen Album.
Quelle: YouTube
Die meisten jungen Bands mühen sich anfangs noch über mehrere Alben hinweg ab, technische Fähigkeiten zu präsentieren, bevor sie einen wirklich eigenen Sound finden. Das zeigt beispielsweise ein vergleichender Blick auf die Arctic Monkeys, die berühmt wurden, weil sie musikalisch so gut, verspielt, prägnant waren, nach fünf Alben jedoch komplett anders klingen und eigentlich erst jetzt ihren eigenen Sound ausprägten, einen Crossover aus R’n’B und schwermütigem Nordengland-Indie. Der Ringer überspringen dagegen eben einfach die ersten vier Alben und setzen sich dadurch von fast allen Bands im Geschäft ab. Für einen wirklichen kommerziellen Erfolg ist der Sprung zwar wahrscheinlich zu krass, aber wer sich auf ihr Album einlassen kann, wird ihm sicher sehr viel abgewinnen können. Sontag wiederum schließt ihre „Notes on Camp“ übrigens mit der Bemerkung, dass Camp eben auch deswegen gut ist, weil es schrecklich ist. Aber wie festgestellt wurde, ist alles eine Frage der Einbettung, die hier sehr wohl gelungen ist.
Hörempfehlung: Der Ringer: „Soft Kill“, Staatsakt, Berlin/Hamburg 2017.
Leseempfehlung: Susan Sontag: „Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen“, Fischer, Frankfurt a. M. 2015 [1982].