Lebendig, wortgewaltig und erschreckend nah steht uns der Mörder Meursaults im Studio der Schaubühne gegenüber. Wir sehen den Fremden von Albert Camus. Oder sind es die Fremden von Philipp Preuss? Gespielt von von Bernardo Arias Porras, Iris Becher und Felix Römer.
Meursaults hat einen Mord begangen. Unter der brennenden Mittagssonne am Strand von Algier stehend erschoss er einen Mann. Fünf Schüsse hat er abgegeben, dabei war sein Opfer bereits nach dem Ersten tot. Doch warum hat er geschossen? Und warum fünf Mal? Nun ist er angeklagt. Für diesen Mord?
In seinem Buch „Der Fremde“ zeichnet Camus das Bild eines Menschen, der sein eigenes Leben als teilnahmsloser Beobachter beschreibt. Aber nicht nur diese Beobachtung ist frei von Emotionen, auch der Mann, der hier beobachtet wird, ist es. Er besteht darauf, das Recht zu haben, keine Emotionen zu haben, da das, was er empfände, doch ohnehin nichts an der Situation ändere. Aus diesem Grund kann er zur Rechtfertigung seines Mordes auch nicht mehr hervorbringen, als dass er geschossen habe, weil die Sonne so heiß geschienen hätte.
Doch ist es nicht der Mord, für den er verurteilt wird, es ist seine Teilnahmslosigkeit an allem. Diese völlige Losgelöstheit von jeder menschlichen Emotion gipfelt darin, dass er nicht einmal zum Tod seiner eigenen Mutter die erwarteten Gefühlsregungen zeigt. Ist es erlaubt, keine Emotionen zu haben, oder wird ein solcher Mensch in der Gesellschaft immer ein Fremder bleiben? Der einzige Spiegel in einem Raum, in dem sich niemand spiegeln kann?
Philipp Preuss führt dem Publikum diese Fremdheit vor Augen. Mit Blick auf ein minimalistisches Bühnenbild erlebt das Publikum auf mitreisende Weise die Teilnahmslosigkeit und die Absurdität in den Taten von Meursaults. Gespielt wird dieser sowie die wenigen Personen, mit denen er agiert, von Bernardo Arias Porras, Iris Becher und Felix Römer. Indem diese drei sich fortwehend in der Darstellung der Rollen abwechseln, gelingt es ihnen nicht nur, das sehr nah am Originaltext aufgeführte Theaterstück lebendig zu machen, sie schaffen es auf diese Weise auch, dem Publikum sowohl die Perspektive des Beobachters als auch die des Beobachteten zur Verfügung zu stellen. Die hieraus entstehende Dynamik auf der Bühne lässt die Fremdheit Meursaults gegenüber jeder menschlichen Regung nur noch deutlicher hervortreten. Unterstützt wird das Geschehen dadurch, dass die Lichtinstallation an den Rändern der Bühne es erlaubt, das Publikum sowohl ins Dunkel der Gefängniszelle des Angeklagten Meursaults als auch an den Strand unter die erbarmungslos scheinende Sonne an die Seite des Mörders Meursaults zu befördern.
Aber ist das alles wirklich so absurd oder ist uns einfach jede Person fremd, deren Regungen wir nicht verstehen können? Diese Frage ist es, die Camus’ Fremder stellt. Und aus der Beschäftigung mit dieser Frage, zieht die Aufführung „Der Fremde“ ihre Aktualität. Unberührt bleiben allerdings die Fragen, welchen Wert dieses Buch für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Frankreichs hat und warum es immer noch niemanden interessiert, wer eigentlich das Opfer von Meursaults war. Dieser unbequemen Frage geht die Schaubühne aus dem Weg.
Titelbild: © Thomas Aurin