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Ein literarischer Meisterkoch wärmt Altes neu auf

Normalerweise ist man von dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami, der seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gilt, Meisterwerke zu zwischenmenschlichen Beziehungen und psychischen Abgründen gewöhnt. Sein neuer Roman Die Ermordung des Commendatore, dessen erster Band Eine Idee erscheint nun in deutscher Sprache vorliegt, ist dagegen leider eine Enttäuschung. Denn zu sehr spielt Murakami mit etablierten Motiven, sein Buch bringt nur wenig Neues.


Der Erzähler des Romans ist diesmal namenlos und Porträtmaler. Nachdem seine nichtssagende Ehe in eine Scheidung mündete, reist der Protagonist ziellos durch Japan, bis er schließlich in die Berge zieht, in eine Hütte des Vaters eines früheren Kommilitonen. Isoliert in den Bergen, sich unfähig zu jeder Art von Malerei fühlend, ergeben sich hier nun mehrere Handlungsstränge, die noch nicht ersichtlich miteinander koinzidieren. Zum einen beauftragt ihn der exzentrische und dubiose IT-Millionär Wataru Menshiki für ein besonderes Porträt, jedoch mit anderen Zielen im Hinterkopf. Ebenso versucht der Erzähler seine sexuelle Vergangenheit und seine eigentümliche Beziehung zu seiner toten Schwester in Rückblenden aufzuarbeiten. Und, vielleicht am wichtigsten, auch wenn dies eher so nebenbei geschieht, findet der Maler auf dem Dachboden ein altes Gemälde: Die Ermordung des Commendatore. Dieses Bild, das eine Szene aus der Oper Don Giovanni adaptiert, zieht ihn fortan in den Bann und bringt ihn in Kontakt mit einer unklaren materialisierten Idee aus einer anderen, zeitlosen Welt.

All diese Motive, ein farbloser Ich-Erzähler, ein Einzelgänger, der gerne ein Künstler wäre, Parallelwelten, schlechter Sex und nicht aufgeklärte mystische Geheimnisse, sind dem Murakami-Leser keinesfalls neu. Auch der enttäuschte Künstler, der sich in die Natur zurückzieht, ist nicht gerade eine kreative Idee. Generell ist vieles in dem Roman berechenbar. Es scheint, als ob der Meisterkoch der Literatur nur ein altes Gericht wieder aufgewärmt hätte. Frisch ist daran nur sehr wenig: etwa, dass der männliche Erzähler, diesmal fasziniert ist von einem Mann, nämlich Menshiki, aber auch überfordert, und dass er diesmal kein erfolgloser Schriftsteller oder Architekt ist, sondern Porträtist, der gerne freie Kunstwerke zeichnen und malen würde.

Insgesamt scheinen dieses Mal die Figuren farblos gestaltet zu sein. Während es in seinen früheren Romanen charakteristisch war, dass der Ich-Erzähler farblos war oder sich so empfand – so etwa in seinem melancholischen Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki –, sind nun alle Figuren mehr oder weniger farblos. Das könnte einerseits dazu dienen, ihnen bei der Auflösung im zweiten Band, der im April erscheinen soll, Tiefe zu verleihen und sie nun geheimnisvoll zu gestalten; andererseits hat der Künstler prinzipiell Probleme Gesicht oder Charakter von Menshiki auf einer Metaebene zu malen. Es scheint, dass nur der Commendatore als Idee und die Vergangenheit des Hausbesitzers literarische Plastizität besitzt.

Doch selbst wenn dies Methode und womöglich einen Sinn hat, den der Leser noch nicht durchschaut, so ist es doch über einen ganzen Roman hinweg ziemlich langatmig. Daher ist es wohl auch keine gute Idee, das Projekt zweibändig zu gestalten, denn dadurch entstehen lästige Längen, und auch spannende Cliffhanger zählen – das zeigt auch sein an sich epochaler dreibändiger Roman 1Q84 – nicht zu Murakamis Stärken. Dafür ist sein Stil im neuen Werk modifiziert: Er beschreibt nun, seinem Erzähler angemessen, seine Umwelt wesentlich bildhafter, plastischer, farbiger, und in seiner literarischen Verarbeitung von Gemälden und Opern, generiert er eine künstlerische Kombination auf einer Metaebene.

Tatsächlich ist das Abdecken verschiedenster Kunstformen die größte Stärke von Die Ermordung des Commendatore, Bd. 1. Denn natürlich bleibt Murakami ein genialer Stilist. Jedoch scheinen ihm die Ideen für Neues auszugehen, so als ob ihm (hoffentlich nur zwischenzeitlich) die Luft während der Produktion ausgegangen ist. Darum ist auch im ersten Teil dieses Werkes noch kein großer Gehalt ersichtlich. Kreativ, innovativ, tiefsinnig und grandios sind eher seine anderen Romane und Erzählungen.


Haruki Murakamis Die Ermordung des Commendatore, Band I: Eine Idee erscheint, übersetzt von Ursula Gräfe, erschien am 22. Januar 2018 beim Dumont Verlag Köln.

Titelbild: © Dumont Verlag

Verlängerte Abstimmfrist beim Buchblog-Award

Am 13. Oktober ist es so weit: Auf der Frankfurter Buchmesse wird erstmals der Buchblog-Award verliehen. Da der Award eine ziemlich große Sache für die deutschsprachige Bloglandschaft und eine wichtige Anerkennung von Autor٭innen abseits der großen Feuilletons ist, seien ihm ein paar Kinderkrankheiten wie technische Probleme im Abstimmungsverfahren für die Shortlist nachgesehen. Zumal mittlerweile alles gefixt ist.

Außerdem wurde fairerweise die Votingfrist verlängert. Noch bis zum 14. September kann man also noch für seine Lieblingsblogs, zum Beispiel für postmondän oder einen der großartigen anderen, abstimmen. Und zwar hier:

Longlist Buchblog-Award 2017

Osteoblast. Jeff Smiths „Bone – Flucht aus Boneville“

Den Comics von Jeff Smith fehlt es nicht an vielem. Ein kleiner Einwand aber bleibt nach der Lektüre von „Bone – Flucht aus Boneville“.


Die Abenteuer von Bone lesen sich wie ein Zeichentrickfilm – eine entsprechende Animationsvariante ist in Planung. Das Besondere an Bone scheint die Kombination aus Disney-artigen Cartoon-Protagonisten und epischer Fantasy-Monster-Good/Evil-Action zu sein. Man taucht in eine fabelhafte Welt ein, die meistens unschuldig, albern, gewitzt ist – und manchmal unheimlich. Am Ende des ersten Bandes gibt es einen Cliffhanger, der eindeutig darauf hinweist, dass die Geschichte um Bone, der eigentlich viel zu weich aussieht, um „Knochen“ zu heißen, noch lange nicht abgeschlossen ist.

Der stets geldgeilgiergetriebene Göchtegernganove Phoncible B. „Phoney“ Bone wird aus Boneville verjagt, weil er schon wieder was Unverschämtes angestellt hat bei seiner ständigen Jagd nach Profit. Seine beiden ungleich sympathischeren Freunde Smiley Bone und Fone Bone – der eigentliche Protagonist dieser unterhaltsamen Comicreihe für Kinder und Jugendliche – begleiten Phoney (= verlogen, unecht), weil sie nun mal trotz seiner charakterlichen Makel zu ihm stehen. Doch auf der Flucht verlieren sich die drei aus den Augen. Fone lernt in einem mittelalterlich-mysteriösen Tal die schöne Thorn und ihre herrlich rüstige, da offenbar mit Popeye-Genen (vgl. Kinnstruktur) ausgestattete Großmutter Ben kennen, die offenbar eine gemeinsame Geschichte mit dem netten Roten Drachen hat, der Fone und den Rest der guten Bande regelmäßig vor den Übergriffen der Rattenmonsterschergen beschützt, die ihrerseits über leuchtend rote Augen und insgesamt ein ästhetisch sehr ansprechendes Gruseläußeres verfügen.

Das Einzige, was man kritisieren könnte, zumindest an diesem ersten Band der fast 1.400 Seiten starken Gesamtausgabe, ist vielleicht der Umstand, dass Smith seine Welt eine Idee zu nett ausgestaltet hat; ein paar schrägere Ecken und schroffere Kanten hätten dem Werk – und dieser Einwand lässt sich auf sehr viele Bücher, und natürlich nicht nur Bücher, anwenden – gutgetan.

Titelbild: Jeff Bone (1991), © Corey Bond/Commons Wikimedia

Thomas J. Hauck – Leonie oder der Duft von Käse

Thomas J. Haucks „Leonie oder der Duft von Käse“ ist ein schwer zu kategorisierendes Buch. Sören Heim mit Überlegungen zu der Frage, ob Rezensenten junge Leser unterschätzen.

Ein Gastbeitrag von Sören Heim


Kinderliteratur zu besprechen ist eine komplizierte Angelegenheit. Man ist ja als Besprechender ja für gewöhnlich kein Kind mehr. Und so klar man heute sagen zu können glaubt, was gute, was weniger gute Literatur ausmache, als Kind oder Jugendlicher stand man auf Sachen, die das erwachsene Heute dem jungen Damals kaum guten Gewissens aushändigen würde. Darum bin ich vorsichtig mit dem Besprechen von Kinder- und Jugendliteratur, esseidenn es geht darum die normativen Ansprüche zurückzuweisen, die andere Erwachsene gern an solche Texte herantragen.

Eine Ausnahme mache ich gern, nachdem mir das schmale Bändchen Leonie oder der Duft von Käse von Thomas J. Hauck in den Briefkasten geflattert ist. Ich habe Hauck vergangenes Jahr auf einer Lesung kennengelernt und die Art, wie er für Kinder liest, beeindruckt. Damals war es Sing Jacob, Sing, ein Langgedicht in melodischen freien Versen, vorgetragen mit Mut zur Musikalität und sichtlich in der Überzeugung, man müsse Kindern Literatur nicht in vorgekaut all zu verdaulichen Happen darreichen. Ein Gedicht von teils bedrückender Schwermut, das sich zur Hoffnung hin öffnet, ohne dass dabei der Zeigefinger erhoben würde.

Leonie oder der Duft von Käse geht in dieser Hinsicht sogar noch einen Schritt weiter. Die Geschichte um die neunzehnjährige Leonie, die zuerst ungern bei der eigenen Mutter ausziehen möchte und überhaupt ein besonders enges Verhältnis zur Mutter pflegt, die mit ihren Tränen den Pralinen der Mutter eine ganz besondere Note verleiht und später von einem Marktbeschicker, der streng nach Käse riecht – namentlich von dessen besonderem Duft – doch aus dem Haus der allein erziehenden Mutter gelockt wird, lässt sich kaum auf eine bestimmte Zielgruppe festnageln. Die Sprache ist von größter Einfachheit, in kurzen Haupt- mit seltenen Nebensätzen erhalten. Doch auch durch den Wechsel zwischen etwas längeren und immer wieder eingeworfenen ganz kurzen Satzbrocken von mitreisend rhythmischem Fluss. Und zwar, wie viele Werke Haucks, parallel auf Deutsch und Französisch.

Damit kommen sicher schon ganz junge Leser zurecht. Das Alter der Protagonistin und auch die angeschnittenen Themen sind für ein Kinderbuch dagegen eher ungewöhnlich, und hinter den Geschmacks- und Duftbildern, die sich mit dem Erwachen erste Liebe verbinden (besser vielleicht: Neugier, denn Haucks Figuren sind keine psychologisch konstruierten im Sinne des bürgerlichen Romans) scheint fast zwingend metaphorisch eine noch täppische Sexualität durch, was aber wiederum in dieser Erzählweise kaum die gewöhnliche Lektüre von Altersgenossinnen der Protagonistin sein dürfte:

Ein „Buch für alle und keinen?“ oder vielleicht ein Buch, das, ich habe den Verdacht ja bereits mehrfach geäußert, mal wieder darauf hinweist, wie die durchweg marktförmige Gesellschaft dazu tendiert, Kinder und Jugendliche zu unterschätzen? Hauck und Illustratorin Hanneke van der Hoeven haben wohl zu aller erst Texte und Bilder vorgelegt, die in sich stimmig sein sollen und dem eigenen Anspruch genügen. Eine Leser- und Betrachterschaft wird sich dann schon finden. Denn auch die teils in Montagetechnik erstellten, teils handgezeichneten surrealistischen Illustrationen, die den deutschsprachigen Text auf der oberen Hälfte der Buchseite vom französischsprachigen abtrennen sind nicht einfach gefällige Untermalung des Textes, sondern wollen eigentlich eingehend für sich und eingehender noch unter Berücksichtigung des Ganzen betrachtet werden. Schade, dass in dem schmalen Taschenbuch die Bilder dazu ein wenig klein ausfallen.

Illustration „Leonie oder der Duft von Käse“ von Hanneke van der Hoeven

Es ist, für Kinder und Jugendbücher durchaus ungewöhnlich, ein Text, der schwer im Ganzen zu greifen ist. Nicht zwingend einer, von dem sich sagen lässt, er habe keine Botschaft. Doch einer der vor allem Grübeln macht, was am Ende diese Botschaft genau sein soll. Ein Text, dessen Sprache den Leser förmlich durch das Buch rauschen lässt während die Illustrationen geradezu kontrapunktisch einhalten lassen, zum genauen Hinsehen auffordern.

Es bleibt die unbeantwortete Frage nach der Zielgruppe. Und die bleibt vielleicht zum Glück unbeantwortet. Am Ende dürfte Hauck, Autor von unzähligen Kinder und Jugendbüchern, seine Leser kennen.


Sören Heim Autorenfoto

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.


Titelbild: © Christoph Busse

_postmondän und der Buchblog-Award

Ihr Lieben,

gestern wurde die Longlist für den Buchblog-Award 2017 veröffentlicht, der dieses Jahr im Rahmen der Frankfurter Buchmesse erstmals verliehen wird. Neben vielen großartigen Seiten hat es auch postmondän in diese wundersame Liste geschafft. Nun läuft vom 1. bis 11. September ein Voting für die Shortlist – und wenn du mitmachen und deine Lieblingsseite unterstützen möchtest, dann klick doch einfach mal auf dieses hübsche Logo hier und lass deine Stimme hinterlassen. Geht auch ganz schnell. Unter allen Teilnehmern verlosen wir ein Lächeln.

Zum Voting für den Buchblog-Award 2017:

Longlist Buchblog-Award 2017Wir danken euch vielmals für eure Aufmersamkeit, Treue  und Unterstützung über die letzten zwei Jahre,

eure Postmondänen

 

Momentaufnahme des Antisemitismus

So mancher Dichter und Denker aus dem 19. Jahrhundert scheint verloren zu sein. Zum Glück haben wir Literaturarchäologen wie Martin A. Völker, die die Werke solcher Figuren aufspüren und neu herausgeben. Und was passt besser in unsere Zeit als ein literarischer Hybridtext über das rassistische Phänomen des Antisemitismus?!


In Zeiten, in denen der Rechtsextremismus wieder salonfähig wird, in Zeiten, in denen Religionskritik fast nur noch rassistisch kommuniziert wird, erscheint es umso dringlicher das Phänomen des Antisemitismus zu untersuchen – nicht allein wegen einem impliziten Antisemitismus, der in manchen Teilen der Gesellschaft vorherrscht, sondern auch um Parallelen zum Antiislamismus von nationalistisch-christlicher Seite aufzuzeigen. Schon Hannah Arendt sah den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts als eine der entscheidenden Ursprünge und Säulen des Aufstiegs des Totalitarismus. So überrascht es nicht, dass sich auch zahlreiche Schriftsteller und Philosophen im 19. Jahrhundert mit der Thematik Antisemitismus beschäftigt haben. Leider wurden einige dieser Texte später nur noch wenig beachtet.

Martin A. Völker jedoch ist Literaturarchäologe. Er gibt immer wieder scheinbar vergessene Bücher neu heraus. Sein neuester Fund ist Gerhard von Amyntors kurzer Text Eine moderne Abendgesellschaft von 1881, den Völker mit dem Untertitel Plauderei über Antisemitismus betitelt hat. Die Wahl eines Textes von Amyntor drängt sich da auf, da er erstens, heute kaum noch Beachtung und Rezeption findet und gerade er sich immer wieder in Essays und Romanen mit Antisemitismus beschäftigt hat.

Wie der Untertitel schon andeutet, diskutiert eine zeitgenössische Abendgesellschaft über die Rolle der Juden im Deutschen Kaiserreich – und zwar insofern in einer Plauderei, als dass sie sehr assoziativ und sprunghaft verläuft. Im ersten Teil des Textes hat Amyntor nach eigener Aussage wortwörtlich (auch wenn dies zu bezweifeln ist) den Dialog dieses Tischgesprächs auf dramaturgische Weise wiedergegeben, an dem er teilgenommen, sich aber still verhalten hatte. Anonymisierte Protagonisten diskutieren hier, die benannt werden als Licentiat, Alte Jungfer, Arzt, Literat, Maler oder Geheimrat. Begonnen wird mit einer Religionskritik, die sich ein religiös homogenes christliches Reich wünscht, um sich sofort in rassistische Äußerungen zu ergehen über angebliche Nasenformen und die vermeintliche Geldgier von Juden. Immer wieder werden diese Formen von religiösen Antijudaismus und rassistischen Antisemitismus miteinander vermengt und sind schon gegen Mitte des Dialogs nicht mehr differenzierbar. Bis auf den Literaten sprechen sich alle gegen Juden und das Judentum aus, alleine schon des guten Tons wegen oder um ihre Ressentiments gegenseitig zu pflegen. Dies passiert natürlich – was das Ganze sehr realistisch erscheinen lässt – in unterschiedlichen Graden.

Während der Centrumsmann noch etwas gemäßigt wird (schließlich wurden Mitglieder des Zentrums im Bismarckschen Kaiserreich auch noch des internationalen und systemoppositionellen Ultramontanismus bezichtigt, und hatten als politische Minorität somit selbst zu kämpfen), demonstrieren die Alte Jungfer und der Arzt ihren Antisemitismus frei und stolz, beziehungsweise unterstellt Letzterer diesem sogar noch eine historische Rationalität, die sich durch angebliche Ausnahmen wie den gut integrierten Moses Mendelssohn nicht widerlegen ließen. Der sich in der Minderheit befindende Literat ist als ihr Antagonist zwar des Antisemitismus unverdächtig, argumentiert aber weniger für Vielschichtigkeit, sondern meint auf sehr selbstgefällige Weise, dass Juden von Natur aus (also ebenso eine biologische oder zumindest kulturelle Annahme für ein sogenanntes Volk) konservativ seien und ergo bei juridischer und sozialer Gleichheit zur Stabilität des Reiches beitrügen, anstatt gegen die ungerechten Regeln dieses Systems zu rebellieren. Kurz gesagt, mehr als utilitaristisch-konservative Argumente bietet auch der Schriftsteller nicht auf, und kritisiert das Phänomen Antisemitismus auch nicht kategorisch oder systemkritisch.

Man könnte sagen, Amyntor hat dies aus gutem Grunde niedergeschrieben, scheint dies doch ein repräsentatives Gespräch unter der nationalen Bourgeoisie über Juden im 19. Jahrhundert gewesen zu sein. Den Grund, warum er dies niederschrieb, erfährt man jedoch im zweiten Teil, der sich vom dramaturgischen Dialog zu einer autobiographischen Erzählung wandelt. Als sich nämlich die Diskussion nur noch in wilden und chaotischen Rufen entlässt, entfernt sich der Beobachter (Amyntor) mit seiner attraktiven Tischnachbarin, die ihn daraufhin informiert Halbjüdin zu sein, und dementsprechend ihre Angst vor solchen Umtrieben äußert. Sie bittet ihn das Gespräch niederzuschreiben, und er garantiert ihr, kein Antisemit zu sein, sondern sie nach wie vor zu schätzen.

Auf den letzten Seiten wandelt sich der Text erneut zu einer sehr kurzen essayistischen Stellungname Amyntors über den Antisemitismus seiner Zeit, den er etwa als explosive Geschmacklosigkeit und pharisäische Niederträchtigkeit tituliert. Auch scheint er hier ein Theodor W. Adornos und Max Horckheimers Dialektik der Aufklärung zumindest in einem Gedanken zu antizipieren, da er im Antisemitismus eine Verbindung aus Aufklärung und Hexenverfolgung ausmachen will. Dennoch scheint Amyntor die judenfeindlichen Äußerungen Martin Luthers zu relativieren.

An sich handelt es sich hierbei um eine kurze und nicht sonderlich komplexe Momentaufnahme eines rassistischen Phänomens, mit einer teilweise recht oberflächlichen und banalen Beschreibung. Empfehlenswert wird die Neuherausgabe des Büchleins erst durch Völkers angegliederten Essay zu Amyntors Leben und Werk, der jedoch beinahe so lang ist wie der eigentliche literarische Hybridtext. Hier geht es um die partiell elitäre Ästhetik des Dichters, seine Abneigung gegen Emile Zola, woher das Pseudonym Amyntor stammt; daher nämlich, dass dieser Dichter sich als Verteidiger in schwierigen Lagen sieht, und der Name als dessen lateinischer Ursprung fungiert. Auch geht es um seine Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und der Judenfrage, und hier stellt er sich sowohl gegen den Sozialdarwinismus als auch den Marxismus und nimmt stattdessen eine Haltung eines sozialreformerischen Konservatismus ein, was höchst paradox erscheint. Jedenfalls gelingt es Völker in einer sehr komprimierten, aber eloquent-sachlichen Manier die wichtigsten Punkte zu beschreiben, die es braucht, um diesen verlorengegangenen Dichter – auch wenn es sich nicht um einen verlorengegangenen Schatz handeln mag – neu zu entdecken, kann dieser doch teilweise einem das Handwerkszeug geben, um den neuen Rechtsextremismus zu bekämpfen.

Titelbild: © Elsinor Verlag

James Tiptree Jr. – Die Mauern der Welt hoch

Dass das Genre der Phantastik sich seinen Weg aus der Nischenliteratur heraus zur Weltliteratur erarbeitet, mit universellen Themen wie Demokratie, Patriarchalismus, aber auch Liebe, Tod und Versagen zeigt der neu-übersetzte Roman „Die Mauern der Welt hoch“ von James Tiptree Jr.


Unter den Fans von Science Fiction ist James Tiptree Jr. schon lange bekannt für ihre geniale und über die Jahre hinweg gereifte Kurzprosa, mit Topoi wie Liebe, Versagen, Völkermord oder Tod auf interplanetarischer Ebene, die von witziger Erotik bis zu tiefer Trauer reichen. In den 1970ern war es wie eine Explosion in der Nischenwelt des Genres, als publik wurde, dass sich hinter dem Pseudonym James Tiptree Jr., eine Figur, die doch angeblich immer so maskulin und hart schrieb – was auch immer das bedeuten soll –, eine weißhaarige Frau mit Namen Alice B. Sheldon steckte. Ihr erster von zwei Romanen, „Die Mauern der Welt hoch“ (1978 erstmals im amerikanischen Englisch erschienen) wurde 2016 vom Septime Verlag in der neuen kongenialen Übersetzung von Bella Wohl herausgegeben – im Rahmen der Gesamtausgabe ihres literarischen Werkes.

Der Handlungsstrang des Romans ist dreigeteilt, und ermöglicht es Tiptree so, Geschehen und Orte länger und intensiver darzulegen, aber auch das Tempo, das in ihren Erzählungen und Kurzgeschichten meist recht hoch, manchmal gar kafkaesk ist, zu drosseln. Die entscheidende Entität des Romans ist ein immaterielles Wesen, das sich selbst das Böse nennt und ganze Planeten zerstört. Doch es tituliert sich nicht wegen seiner destruktiven totalen Kraft, für die es geschaffen worden sei, böse, sondern weil es in einem Krieg dieser Wesen in die Einsamkeit desertiert und auf eigene Faust durch das Universum wandelt.

Der zweite Handlungsstrang handelt von dem faszinierenden Planeten Tyree, eine paradiesische Welt, auf der riesige, fliegende rochenartige Wesen leben. Diese Bewohner kommunizieren mit ihren biolumineszierenden Körpern, mit bunt leuchtenden Mustern, die Gefühle und Erlebnisse kommunizieren. Das soziale und politische System dieses Planeten ist wohl faszinierender als die Handlung selbst. Die Tyreaner wirken archaisch, aber sind direktdemokratisch in Versammlungen organisiert. Außerdem sind sie ein patriarchalisches System, das aber matriarchalisch geprägt ist, denn die Männchen erziehen die Kinder, da sie mehr Kraft haben, und sind aus dem Grund, dass sie die Zukunft des Planeten hüten die Anführer, während die Frauen Forscher und Kämpfer sind. Manchen Männern ist auch etwas möglich, das als „Lebensraub“ bezeichnet wird: die Fähigkeit das eigene Bewusstsein in den Körper eines anderen Wesens – auch auf anderen Planeten – zu transferieren und das Bewusstsein des Wirtes mit dem eigenen zu tauschen.

Obgleich Lebensraub als Verbrechen gilt, entscheiden die Tyreaner dies systematisch zu nutzen, als der immaterielle Planetenzerstörer sich ihnen nähert und ihre Existenz somit auszulöschen droht. Sie wollen ihre Körper mit einigen Menschen auf der Erde tauschen (natürlich ohne deren Kenntnis), die metaphysische Fähigkeiten haben, ansatzweise Gedanken lesen können und manchmal auch Zukunftsahnungen haben – eine Gruppe unterschiedlicher Protagonisten mit meist psychischen Problemen, mit denen die US-amerikanische Regierung zu Zeiten des Kalten Krieges experimentiert; die Gruppe befindet sich unter Leitung eines frustrierten Mannes namens Doktor Dan, der von Gewissensbissen getrieben wird, da er seine Frau hat sterben lassen, und gerade dabei ist, sich hoffnungslos zu verlieben.

Die Handlung selbst ist faszinierend, besonders die Schilderungen des Planeten Tyree, deren politisches System, und ihre Interaktion mit den Menschen nach dem Lebensraub. Die Geschichte hat im Grunde alles, was man inhaltlich braucht, um Weltliteratur zu produzieren: die detaillierte Schilderung verschiedenster Kulturen aus der jeweiligen Perspektive der Akteure, eine Mischung aus Liebe, Trauer, Einsamkeit, technologischer und metaphysischer actiongeladenen Szenen, und einer elementaren Bedrohung, sowie tiefe philosophische Reflektionen darüber was politisch und ethisch vertretbar ist – und vor allem was nicht.

Das wird noch garniert durch den einzigartigen Stil von Tiptree und ihrem Spiel mit den Geschlechtern – was sich in Anbetracht ihrer eigenen Künstlerbiographie ja auch geradezu aufdrängt. Ihr Stil ist unprätentiös, knapp, manchmal hart, aber oft einfühlsam und unterstreicht vor allem das Faszinosum um fremde Planeten und Existenzen, was durch die neue Übersetzung umso deutlicher wird.

Jedoch merkt man, dass Tiptree aus dem Genre der Kurzprosa kommt, und es scheint, als ob sie in dieser Gattung sich besser entfalten kann. Beispielsweise verliert sie sich in der ersten Hälfte des Romans gerne in marginale Details. Dadurch verlangsamt sich die Handlung enorm, und wird vor allem von den Gefühlen von der eher grauen Erscheinung des Doktor Dan gehindert. In einer längeren Erzählung hätte sich dies auf ein spannenderes Niveau verdichten lassen. Des Weiteren befindet sich in ihrer Erzählstruktur ein eher unangenehmer Bruch. Während in der ersten Hälfte die drei Handlungsstränge sich regelmäßig abwechseln, verwischen sie in der zweiten Hälfte, und auch die drei Erzählperspektiven verändern sich, vermischen sich oder werden am sehr langatmigen Ende gar auf informatische Weise eins. Aber natürlich bleibt bei diesem Kritikpunkt fraglich, ob sich das überhaupt hätte vermeiden lassen, ohne die Handlung zum Schlechteren zu verändern.

Alles in allem hat James Tiptree Jr. mit „Die Mauern der Welt hoch“ bewiesen, obgleich sie vor allem im Bereich der Kurzprosa brilliert, auch ergreifende und komplexe Romane schreiben kann, und somit mühelos neben Science-Fiction-Giganten wie Philip K. Dick oder den Strugatsky-Brüdern eingeordnet werden kann.

© Septime Verlag

Was nehmen wir mit von 2016? Eine postmondäne Leseliste

Bevor auch wir im Jahr 2017 ankommen, haben wir uns einmal zusammengesetzt und darüber nachgedacht, welche Bücher uns das letzte Jahr über beschäftigt haben. Immerhin hat 2016 ja eine vielseitige Literaturlandschaft hinterlassen. Andererseits spielte die Geschichte auch älteren Werken ungeahnte Aktualität zu. Anbei also ein paar persönliche Leseempfehlungen fürs neue Jahr aus der postmondän-Redaktion. Übrigens ohne Verkaufs-Links.

von Martin Kulik, Lenn Colmer, Dirk Sorge, Moritz Bouws, Katharina van Dülmen, Gregor van Dülmen und Dominik Gerwens


Morgen mehr Sprache, Mut und Zauberei

Martin zu …
„Morgen mehr“ von Tilman Rammstedt

Tilman Rammstedt hat experimentiert. Über mehrere Monate hat er einen Fortsetzungsroman geschrieben, bei dem sich die geneigten Abonnenten jeden Tag auf einige Seiten bester rammstedtscher Prosa freuen konnten. Während man sich am Anfang des Projektes noch fragte: „Packt der Tilman das denn überhaupt, jeden Tag was Neues?“, war bald klar: Wenn jemand einen solch chaotischen Ritt durch ein Buch wagen kann, dann definitiv Tilman Rammstedt. Am Ende ist ein liebevoller Roman voller Fantasie entstanden, der nach jedem Leseabend nur eine Frage offenlässt „Morgen mehr?“ – bitte, Herr Rammstedt?

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„Fallensteller“ von Saša Stanišić

„Auf so einen bist du nie vorbereitet, mit seinem Gepäck voll Allerlei: Sprache, Mut und Zauberei“, das ist der letzte Satz der Erzählung Fallensteller, die dem Erzählband von Saša Stanišić seinen Namen stiftet. Dieses Zitat kann durchaus als Sinnspruch für das Erleben dieses eindrucksvollen Werkes gelten – Stanišić erschafft in seinen Geschichten eine literarische Spiegelwelt voller Seltsamkeiten, Anlässen zum Wundern und Staunen. Sein unberechenbarer Stil ist dabei ein Abbild seiner eigenen Biographie – voller Unwegsamkeiten, Brüchen und einer melancholisch angehauchten Heiterkeit.

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Cover: „Morgen mehr“ © Hanser Literaturverlage,
Cover: „Fallensteller“ © Luchterhand

Handschuhe, Verfolgung, Hools und das Politikum Ernährung

Lenn zu …
„Der goldene Handschuh“ von Heinz Strunk

Lakonisch zeichnet Strunk seine Version des damals realen Vielfachmörders Fritz „Fiete“ Honka. Geballte menschliche Abgründe treffen sich im Siff der Hamburger Absteige Der goldene Handschuh und enden vereinzelt in der mit Klosteinen gespickten Wohnung Honkas. Die auf 10 Seiten ausführlich beschriebene Hafenrundfahrt lässt Protagonist und Leser vorübergehend befreit durchatmen und doch ist man irgendwie froh, wenn man das Buch zur Seite legen kann. Bis der lang anhaltende Schmiersuff verflogen ist, vergehen immerhin noch ein paar Tage.

„Hier sitzen welche, die erst lachen, wenn Blut fließt, und wer lacht nicht gern.“

Heinz Strunk – Der goldene Handschuh

„Hart auf hart“ von T.C. Boyle

Typisch, dass es sich auch bei diesem Boyle-Roman um keine Schönwettergeschichte handelt. Eingebettet in einem Nationalpark der USA kreuzen und streifen sich drei Erzählstränge, die mit komplexen und doch einfach gestrickten Persönlichkeiten verknüpft sind. Jede beschleunigt mit ihrer je eigenen paranoiden Sicht den Leseflussabwärts – spannend, rasant, widerspenstig.

„Hool“ von Philipp Winkler

Man kann förmlich die überfüllten Aschenbecher und den Ranz schalen Alkohols beim Lesen schmecken wie in Strunks Der goldene Handschuh, doch Winklers Quasi-Coming-of-Age-Roman erzählt eine ganz andere Geschichte. Nicht minder von Gewalt und Frustration geprägt stellt sich die Welt des Protagonisten Heiko Kolbe dar, der nicht einsehen will, dass die besten Jahre seiner Hooligan-Clique angelaufen sind. Eine konsequent erzählte Geschichte.

„Die Vegetarierin“ von Han Kang

Die durch und durch graue Maus Yong-Hye verzichtet auf tierische Produkte und beeinflusst mit ihrer Entscheidung das Familienleben. Klingt erstmal ziemlich berechenbar, aber der Schein trügt. Neben dem südkoreanischen, traditionellen Familienmodell wird das desaströse wie faszinierende Innenleben von Yong-Hye zum strudelähnlichen Mittelpunkt der neurotischen Geschichte. Einerseits ist sie leicht zu lesen, enthält andererseits mehr Fleisch als so manch einer ertragen kann.

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Han Kang, © Baek Dahum

Wissen am Ende der Wahrheit?

Dirk zu „Verschwörungstheorien: Eine philosophische Kritik der Unvernunft“ von Karl Hepfer

Obwohl dieses Buch schon 2015 erschien, ist es für 2016 (und 2017?) mindestens genauso aktuell, denn die Themen Lügenpresse, Postfaktizität und Verschwörungstheorien hängen eng miteinander zusammen. Karl Hepfer schreibt in gut verdaulicher Sprache über die Struktur von Verschwörungstheorien und ihre erkenntnistheoretischen Besonderheiten und Probleme. Durch die Lektüre wird verständlich, warum Anhänger einer Verschwörungstheorie argumentativ kaum von ihrer Überzeugung abgebracht werden können und warum es so schwierig ist, echte Verschwörungen von fiktiven zu unterscheiden. Zum Glück ist es kein akademisches Buch – denn dafür ist das Thema zu wichtig!

Mehr zum Postfaktischen bei postmondän:

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Kosmopolitisches Flanieren in NYC

Moritz zu „Open City“ von Teju Cole

Während heutzutage, sehen wir es mal durch die diesjährigen Wahlergebnisse bestätigt, der Okzident mancherorts um seine vermeintliche Monokultur fürchtet, gelang dem nigerianisch-amerikanischen Schriftsteller Teju Cole bereits 2011 mit der Veröffentlichung seines Flaneur-Romans ein Plädoyer für Diversität – ohne dabei die Problematik der Suche nach Identität im großstädtischen Dickicht und ideologischer Kollektive auszusparen. Protagonist ist der junge Psychiater Julius, der seine Freizeit nutzt, um durch die endlose Zivilisation New York Citys zu streifen und somit ein Portrait des urbanen Amerikas kurz vor Obamas erster Wahl zeichnet. Die skizzierten Charaktere, denen Julius begegnet, spiegeln sowohl in positiver als auch negativer Hinsicht die verschiedensten Daseinsweisen im ethnischen, gebildeten, ökonomischen sowie biographischen Kontext wider. Nicht selten werden die Leser٭innen mit universellen Stereotypen konfrontiert, die denkwürdig erscheinen. Im Mittelpunkt steht jedoch die sukzessive Offenbarung des Protagonisten, der sich vom naiven Beobachter zu einer selbstreflektierenden Figur wandelt, die sich aufgrund ihrer schwer zu definierenden Herkunft mehr und mehr in der Bodenlosigkeit verliert. Ein Stück, das zwar auf melancholische Weise, aber mit Weitsicht einen gegenwartsnahen Abriss des urbanisierten Weltbürgertums präsentiert und dabei zugleich als intimer Reiseführer durch die einflussreichste Metropole fungiert.

Kindheit – der unsichtbare Feind?

Katharina zu „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells

Wer früh seine Eltern verliert, kämpft ein Leben lang: nicht nur mit der Trauer, sondern auch gegen die Angst vorm Verlassenwerden und vorm Alleinsein selbst. So auch Jules, der Protagonist in Benedict Wells „Vom Ende der Einsamkeit“, seine Schwester Liz und sein Bruder Marty. Und wenn jede٭r mit der Angst und der Trauer auf seine٭ihre Weisen umgeht und da kein Platz ist für die Trauer und die Angst eines٭einer anderen? Dann bleibt die Einsamkeit. Um ihr zu entkommen, flüchtet sich Jules in seine Träumerei; Liz tröstet sich mit Sex und Drogen; Marty verschanzt sich in seiner Computerwelt. Trotzdem finden die Geschwister, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, immer wieder irgendwie zusammen. Und auch andere scheinen die Traurigkeit in die Flucht schlagen zu können – wie Jules’ Schulfreundin Alva. Aber immer wenn es aussieht, als sei das Ende der Einsamkeit gekommen, schlägt das Schicksal wieder zu.

Jules’ Lebensgeschichte ist nicht linear erzählt. Der Ich-Erzähler puzzelt sie anhand seiner Erinnerungen zusammen. Dabei lesen sich seine Schilderungen fast wie die Beschreibung eines Fotos, das erst einmal nichts mit ihm zu tun hat. Keine großen Gefühlsausbrüche, keine sentimentalen Entladungen – leise bahnt sich die Geschichte ihren Weg. Seine Gefühle, aber auch die Handlungsmotive seiner Mitmenschen hinterfragt der Protagonist selten. Das sind Leerstellen, die der٭die Leser٭in füllen muss und dann mit Empathie zu kämpfen hat. Und ja, das sind die Stellen, an denen man als Leser٭in von seinen٭ihren eigenen Emotionen und nicht von denen der fein gezeichneten Charaktere überwältigt wird.

„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“

Benedict Wells – Vom Ende der Einsamkeit

 „Wunderkind“ oder „Ausnahmetalent“ wurde Benedict Wells von Kritiker٭innen genannt, wenn es um seine Romane „Spinner“, „Becks letzter Sommer“ oder „Fast genial“ ging. Bei „Vom Ende der Einsamkeit“ sprechen sie bereits vom Meisterwerk des 32-Jährigen und belohnt wurde dieses noch 2016 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union.

Benedict Wells Vom Ende der Einsamkeit Rezension

Benedict Wells, © Bogenberger / autorenfotos

Verstörendes vom Rockstar-Literaten

Gregor zu „Die Toten“ von Christian Kracht

Kein wirklicher Geheimtipp, da bereits Hermann-Hesse- und Schweizer-Buchpreis-tragend, ist Christian Krachts „Die Toten“. Zwar ordnet sich das Buch durch zahlreiche Querverweise selbst in den Literaturzirkus und Feuilettondebatten ein und machte sich so rasch zum medialen Selbstläufer, besonders zugänglich ist es dennoch nicht. Das wiederum macht es lesenswert. Besonders unbequem ist der Anfang der 1930er Jahre angesiedelte Roman darin, die Lebenswelt seiner beiden zentralen Protagonisten, eines Schweizer Filmemachers hier, eines japanischen Kulturbeamten da, auch ästhetisch nachzuzeichnen. Beide bewegen sich persönlich wie künstlerisch im Anbruch von Nationalsozialismus und Faschismus zwischen den ästhetischen Vorlieben Japans und Deutschlands, die sie zu bedienen suchen – nicht zuletzt der beiden Kulturkreisen gemeinsamen Faszination für das Tote. Doch nicht nur ihre Handlungen, auch die Ästhetik des Buchs selbst folgt diesen Motiven, was den٭die Leser٭in oftmals wohlwollend zynisch ausbuchstabiert gegen die Wand schleudert.

„Das Leiden des Offiziers in dem Film war gleichzeitig verzückt und unerträglich, eine Transfiguration des Schreckens zu etwas Höherem, Göttlichem – die Deutschen würden das doch gut verstehen in ihrer makellosen Todessehnsucht.“

Christian Kracht – Die Toten

Der Roman verstört wiederum nicht nur sprachlich, sondern schon in seiner Form. In drei Teilen zwingt er zunächst ein aufs Brutalste verlangsamtes Erzähltempo auf, das den biografischen und historischen Rahmen seiner Haupthandelnden detailreich einholt, bevor der Romanplot sie unumschweiflich aufeinanderprallen und interagieren lässt und im letzten Teil einander eilig entreißt und in knappen Shortcuts weiterverfolgt. Dass Kracht dabei genialerweise der Dramaturgie des dreiaktigen japanischen No-Theaters folgt, lässt sich für Unkundige bloß durch eine kurze Erwähnung desselben im Text erahnen. Und dass „Die Toten“ trotz aller Verstörungsdimensionen keinen Absatz lang versäumt, seine Leser٭innen zu unterhalten, rundet den Lesegenuss erst ab und lässt einen selbst in der verstörenden Wohligkeit des Morbiden zurück.

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Cover: „Die Toten“ © Kiepenheuer & Witsch,
Cover: „Mario und der Zauberer“ © Fischer Verlage

Wer „Kracht“ sagt, muss auch „Mann“ sagen. Gerade heute

Dominik zu „Mario und der Zauberer“ von Thomas Mann

Christian Krachts in den 1930er Jahren angesiedelter Roman „Die Toten“ weist nicht nur die oft angesprochene sprachliche Nähe zu den Werken Thomas Manns auf. Dessen Novelle „Mario und der Zauberer“ spielt auch noch im gleichen Zeitraum und ist auch aus gegenwärtiger Perspektive ähnlich lesenswert. Denn 2016 war wieder einmal viel Kracht. Zwar entzündete sich an „Die Toten“ nicht ein ähnlicher Literaturskandal wie im Anschluss an die Rezension von Georg Diez zum Vorgänger „Imperium“, diskutiert wurde trotzdem kontrovers, nur ging es dieses Jahr vor allem um die oft als manieriert empfundene Sprache, die aufs eine oder andere Mal in die Nähe Thomas Manns gerückt wurde.

Christian Kracht – ein zynischer Adapteur Thomas Manns?

 

Doch so ratlos der ironisierende Sound des Romans oft Kritikerrunden zurückließ, umso weiterführender ist vielleicht eine andere Parallele zu Thomas Mann: „Die Toten“ zeichnet ein Bild zweier sich faschisierender Gesellschaften an der Schwelle zum Totalitarismus in den frühen 1930er Jahren. „Mario und der Zauberer“ setzt zur gleichen Zeit ein, die Handlung spielt sich hingegen in Italien ab, wo Mussolini bereits den Umbau zum Faschismus vollzogen hatte. So lassen sich die Geschehnisse der Novelle als Warnung an jene „heißen“ Gesellschaften an der Schwelle zur Diktatur verstehen, die im Mittelpunkt von Krachts Geschichte stehen.

Recht sachlich berichtet der Ich-Erzähler der Novelle von den „atmosphärisch unangenehm[en]“ Stimmungen und Ereignissen eines Badeurlaubs im italienischen Torre di Venere. Beginnend mit kleineren Unstimmigkeiten, der die Familie des Erzählers ausgesetzt ist über Konfrontationen mit anderen Badegästen über die öffentliche Moral und Sitte, nimmt die Novelle immer weiter Fahrt auf und steigert sich – fast dem Aufbau des klassischen Dramas folgend – vom unangenehmen Sich-nicht-willkommen-Fühlen hin zu offenen und öffentlichen Diskriminierungen. Schon will die Familie abreisen, begeht jedoch einen fatalen Fehler, der zum Wendepunkt ohne Umkehr wird: Ihren bizarren Höhepunkt erfährt die Handlung im Besuch einer Zauberveranstaltung des Zauberers Cavaliere Cipolla, dessen bizarre Show trotz diskriminierender und erniedrigender Psychotricks und Hypnosespielen kein einziger Gast verlässt und die auf einen katastrophalen Schluss hinausläuft.

Auch Mann beherrschte die Pose des Literatur-Dandys

 

Das Publikum also als „Volksgemeinschaft“? Schon klar, man sollte sich immer vor allzu platten und offensichtlichen Analogien hüten. Liest man den Text dennoch bewusst politisch, so denkt kommt schon der Gedanke an Aufstieg der Identitären Bewegung in Europa, insbesondere der Neuen Rechten in der Bundesrepublik auf. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Brüche und Diskontinuitäten in der politischen Biographie des Autors. Denn der frühe Thomas Mann, jener, der 1915 – 1918 die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ geschrieben hatte, lässt sich bedenkenlos ebenjener deutschnationalen Strömung der „Konservativen Revolution“ einordnen, die nicht nur teilweise zu intellektuellen Steigbügelhaltern und Sekundanten der NS-Ideologie werden sollte, sondern auch zum Vorbild neurechter Think Tanks der AfD wie Götz Kubitscheks „Institut für Staatspolitik“ geworden ist; jener Institution in Schnellroda, die Björn Höcke 2015 die Bühne für seine Rede vom „afrikanischen Ausbreitungstyp“ bot.

Man stelle sich einmal vor, Thomas Mann wäre nicht zu Kriegsbeginn ausgemustert worden, sondern im Ersten Weltkrieg gefallen. Statt der Abwendung von den Denkern der Konservativen Revolution und dem Bekenntnis zu Weimar wären die polemischen Äußerungen zum Einmarsch ins neutrale Belgien, die Bejahung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und die Ansicht, dass niemals „der mechanisch-demokratische Westen bei uns Heimatrecht“ erhalten werde.

Manns Abwendung von den Nationalisten und sein Bekenntnis zur Demokratie erfolgte allerdings bereits 1922. Trotzdem stellt sich die Frage, wie politisch man die Novelle, die Alfred Kantorowicz immerhin als „Gipfelung seiner formalen Kunst“ bezeichnete, denn nun lesen kann. Sicherlich wird man dem Buch nicht gerecht, wenn man es ausschließlich als Parabel über den italienischen Faschismus liest. Der Autor selbst hat sie bisweilen als nahezu autobiographisches Ferienerlebnis dargestellt, bei dem er nur den Schluss umgedichtet habe. Wie stark Erzähltes und Erlebtes nun auch zusammenhängen mögen, das hieraus entstehende Sozialgefüge erweist sich als erschreckend präzise Warnung vor ideologisiertem Denken und Populismus allgemein.

Die Geschichte im Sinne einer Gleichsetzung Cipolla – Mussolini zu verstehen, würde ihr nicht gerecht, sie greift weit darüber hinaus und skizziert berichtend die Sozialdynamik sich totalisierender Gesellschaften. Sie erfährt ihren Reiz und gewiss auch ihre überzeitliche Aktualität, weil sie auch das Verlangen nach geschlossenen und totalen Weltbildern thematisiert. So wird in der Zauberveranstaltung das Verhältnis des Diktators zur gleichermaßen elektrisierten wie paralysierten Masse erfasst. Wie auch immer man das Ende der Novelle, das hier nicht vorweggenommen werden soll, auch interpretiert, so ist doch ein Detail erwähnenswert: Es sind nicht die aufgeklärten, intellektuellen und gebildeten, ja verstehenden, Kreise des Bürgertums – denen ja auch der Ich-Erzähler entstammt –, die dem Spuk des Cavaliere ein Ende machen, sondern der Kellner Mario. Dem Großteil der Zuschauer gelingt es in ihrer Trägheit und Willenlosigkeit nicht, die nur allzu offensichtliche Katastrophe abzuwenden.

Es ist sicherlich kein Anzeichen von Alarmismus, hier Gegenwartsbezüge erkennen zu wollen.


Titelbild: Cover: „Die Toten“ © Kiepenheuer & Witsch, Cover: „Vom Ende der Einsamkeit“ © Diogenes Verlag, Cover: „Mario und der Zauberer“ © Fischer Verlage, Cover: „Fallensteller“ © Luchterhand, Cover: „Verschwörungstheorien“ © transcript Verlag, Cover: „Die Vegetarierin“ © Aufbau Verlag, Cover: „Hool“ © Aufbau Verlag, Cover: „Hart auf hart“ © Hanser Literaturverlage, Cover: „Der goldene Handschuh“ © Rowohlt Verlag, Cover: „Open City“ © Suhrkamp Verlag

Bücherschätze in der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums

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Bücher erzählen Geschichten. Bücher sind wichtige Zeugen der Geschichte. Und zuletzt: Bücher haben ihre eigene Geschichte, die oft sehr persönliche Schicksale illuminieren. Diese Kombination macht Bücher zu echten Schätzen. Schätze die man entdecken kann – zum Beispiel in der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums in Berlin.


Die Bibliothek des Deutschen Historischen Museums

Wer den historischen Lesesaal des Deutschen Historischen Museums betritt, fühlt sich, sofern er in irgendeiner Weise bücheraffin ist, sofort zuhause. Der große, helle Raum bietet neben den kunstvollen Deckenverzierungen und einigen geräumigen Arbeitsplätzen vor allem eines: Bücher, so weit das Auge reicht. Doch die Ausstellungen im Lesesaal sind nur ein Bruchteil des Bestandes der Bibliothek des Deutschen Historischen Museums, der heute über 250.000 Bänden umfasst.

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Historischeer Lesesaal des Deutschen Historischen Museums

Die Bibliothek ist einerseits Dienstbibliothek für die Mitarbeiter*innen des DHM, die zahlreiche Sammlungen für ihre Forschung und Ausstellungen nutzen, andererseits ist sie aber auch eine Spezialbibliothek zur deutschen Geschichte, deren Präsenzbestände öffentlich zugänglich sind. Entstanden ist die Bibliothek aus zwei Vorgängerinstitutionen: Die Königliche (später Staatliche) Zeughausbibliothek und das Museum für Deutsche Geschichte der DDR. Seit dem Jahre 2000 nutzt die Bibliothek nun das ehemalige Gebäude der Preußischen Centralgenossenschaftskasse in Berlin.

Wir hatten die Möglichkeit von Dr. Matthias Miller, Leiter der Bibliothek und der Sammlung für Handschriften sowie Alte und wertvolle Drucke, durch die Archive der Bibliothek geführt zu werden.

Das Archiv im Tresor

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Historische Tresortür

Die Preußische Centralgenossenkasse nutzte den Keller des Gebäudes mit der Adresse “Unter den Linden 2” einst für die Verwahrung von Kreditgegenwerten in Gold. Heute befinden sich dort immer noch wertvolle Schätze – die Sammlung des Deutschen Historischen Museums. Hinter dicken Tresortüren ist der Hauptteil des Bücherbestandes des DHMs in verschiedenen Abschnitten verwahrt. So gibt es zum Beispiel den mit “rar” (für lat. rarum – selten) gekennzeichneten Bereich, der seltene Bücher und Handschriften beinhaltet. Aber auch aus den Archiven des Museums für Deutsche Geschichte gibt es noch riesige Bestände. Einer der prominentesten Teile ist der mit “g” gekennzeichnete Bereich der “gesperrten” Literatur, der vor allem aus nationalsozialistischen Werken besteht. Dabei sind Ausgaben von Hitlers “Mein Kampf” übrigens eine der häufigsten Schenkungsanfragen, berichtet Dr. Matthias Miller. Doch das DHM ist nur noch auf der Suche nach besonderen Ausführungen, wie etwa der Erstausgabe, die recht einfach durch den Einschlagband zu erkennen ist.

Teile der Sammlung werden Bücher, “die deutsche Geschichte entweder transportieren, illustrieren oder interpretieren” oder eben solche Texte, die selbst eine einzigartige Geschichte überliefern. Einige Beispiele für die verschiedenen Prachtschätze der Bibliothek präsentiert uns Dr. Miller im historischen Lesesaal.

Bücher erzählen einzigartige Geschichten

Manchmal sind die Geschichten der Überlieferung von Textzeugen schon kurios. So ist beispielsweise das “Fragment P” (ca. 830) aus dem Heliand-Lied einer der wenigen noch existierenden Texte, die in altsächsisch verfasst wurden. Entdeckt wurde die Handschrift auf einem Pergamentblatt in einer Bibliothek in Prag – aber nicht etwa in einer Vitrine, sondern als bloße Einschlagsseite für ein anderes Werk. Nachdem der Prager Bibliotheksmitarbeiter festgestellt hatte, dass der Einband seines zu restaurierenden Buches wesentlich älter als das Original war, wurde die Handschrift als Staatsschenkung an das Deutsche Historische Museum übergeben.

Das Deutsche Historische Museum hat aber nicht nur eine einzigartige Sammlung von Handschriften – auch seltene Drucke führt uns Dr. Matthias Miller stolz vor. Dabei sind seltene Ausgaben oft solche, die sich durch ihren besonderen Inhalt, oder ihre besondere Form abheben. Die Erstausgabe von Max und Moritz (1865)  ist etwa ganz einfach durch den Druckfehler auf der ersten Seite zu erkennen. Dort heißt es nämlich:”Ach, was muss man oft von bösen Kinder hören oder lesen!”

Einige der präsentierten Kostbarkeiten scheinen zunächst auch gar nicht in eine Bibliothek zu gehören. Als Dr. Miller eine kleine Tüte mit Tomatensaat aus einem Briefumschlag holt, muss er selber schmunzeln. Tatsächlich verbirgt sich in dem kleinen Behälter aber nicht nur Saatgut, sondern auch ein kleines Heft mit dem Titel “Der letzte Appell”, in dem Autor Gustav Regler unmittelbar vor dem Kriegsausbruch 1939 vor dem Wahnsinn eines zweiten Weltkrieges warnt.

Eine Auswahl der Bücherschätze des DHM

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Bücher erzählen lebendige Geschichte

Sammlungen von Bibliotheken und Museen werden erst dann richtig interessant, wenn man sie in ihren individuellen Kontexten erlebt. Deshalb sei neben dem Besuch der frei zugänglichen Präsenzbibliothek des DHM vor allem auch auf die zahlreichen Ausstellungen verwiesen, in denen genau diese kleinen Geschichten rund um die seltenen Bestände erzählt werden.


Homepage des Deutschen Historischen Museums mit Blog.

Öffnungszeiten der Bibliothek des DHM: Mo-Fr 9.00 bis 16.30 Uhr

Aktuelle Ausstellungen des DHM


Fotos von Gregor van Dülmen mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Historischen Museums.

Wir bedanken uns beim Deutschen Historischen Museum und Dr. Matthias Miller für den interessanten Rundgang durch die Bibliothek.

 

Regentonnen­variationen-Walk­through mit Tatjana Kruse

Tatjana Kruse, Jahrgangsgewächs aus süddeutscher Hanglage, schreibt Krimödien. Mit ihren Serien um den stickenden Ex-Kommissar Siggi Seifferheld (Knaur Verlag), die ermittelnde Opernsängerin Pauline Miller und ihren narkoleptischen Terrier (Haymon Verlag) und den greisen Schnüffelschwestern Konny und Kriemhild (Suhrkamp Verlag) hat sie deutsche Crime-Comedy-Geschichte geschrieben. Außerdem findet sie Grießbrei voll okay und ist auch Fast-Namensvetterin von Jan Wagner, um dessen Lyrik-Bestseller „Regentonnenvariationen“ es im folgenden Gespräch geht.

www.tatjanakruse.de


Daniel Ableev
Was bedeutet „Die Kirche im Torf lassen“?

Tatjana Kruse
Moorleichen. Ich sage nur Moorleichen!

DA
Wie sind die Blindheitsgrade verschiedener Gemüsesorten?

TK
Ich bin nur ein kleiner, lockiger Lurch und kenne mich mit höherer Mathematik nicht aus.

DA
Darf man die Lingua franca der Pferde als Hübrr bezeichnen?

TK
Grundsätzlich darf man alles, aber – und da will ich jetzt nicht oberlehrerhaft rüberkommen, das mache ich jetzt nur im Interesse der gesicherten Faktenlage – Hübrr ist die Lingua franca der Jockeys. Bei Pferden spricht man ganz klassisch von Wieherschnaub.

DA
Was kostet eine lichtgepanzerte Forelle, wenn man als Lichtquelle die eigenen Augen nutzt?

TK
Bin Fischallergiker. Geht das auch mit Leberwurst?

DA
Wenn der Mütter Motoren losbrüllen wie Pralinen, hüpfen Rohlinge (wenig überraschend) von der Reling?

TK
Nein, wann immer Motoren müttern, verrohen Vielhüpfer. Aber das ist ein ganz gängiger Irrglaube, das muss Ihnen jetzt gar nicht peinlich sein.

DA
Espresso : Kaffee = Esel : ?

TK
Wenn ich morgens nicht mindestens einen Liter Espresso und/oder Kaffee trinke, schreibe ich nur Eseleien. Wie? Das war gar nicht die Frage? Wer hat mir Entkoffeinierten untergejubelt?!

DA
Weiß man mittlerweile mehr über Annas Scharte?

TK
Ja, das wurde von zwei investigativen Bloggern alles enthüllt: Anna konnte ihre Scharte auswetzen, hat die im Sack gekaufte Katze an eine liebevolle Für-immer-Familie vermittelt und kalligraphiert seitdem Redensarten in einer links-rheinisch gelegenen Jurte.

DA
Und was ist eigentlich aus Ninas Brüsten geworden?

TK
Die wurden vergoldet.

DA
Wäre es erstrebenswert, aus Zeitungen mittels hochmoderner Extraktionsverfahren nicht zuletzt auch Zeit herauszulösen?

TK
Theoretisch ja. Aber wenn man das tut, kann man hinterher aus den Zeitungen keine Origami-Kraniche mehr falten. Und wollen wir unseren Kindern wirklich eine Welt ohne Origami-Kraniche hinterlassen?

DA
Wie lange muss ein durchschnittlich begabter Maulwurf graben, um Urgroßvater über Tage zu befördern? Wie ändert sich die Grabdauer bei Hinzufügen weiterer „Ur“-Präfixe?

TK
Der Urgroßvater ist der Dünger, der dem Maulwurf und seiner Familie das Erdreich zum fruchtbaren Lebensumfeld werden lässt. Und ihr wollt ihm das wegnehmen, indem ihr ihn zwingt, den Uropa auszugraben? Schande, sage ich dazu, Schande!

In diesem Zusammenhang möchte ich natürlich gern auf meinen großen Jahrhundertroman „Grabt Opa aus!“ (Haymon Verlag) hinweisen, bei dem – das kann man gar nicht genug betonen – keine Maulwürfe zu Schaden kamen!!!

DA
Was ist von „zerschweben“ zu halten?

TK
Dasselbe wie von „überlanden“.

DA
Was ist der Unterschied zwischen Assel und Stein – wenn man mal ganz ehrlich ist?

TK
Ohne meinen Anwalt möchte ich diese Frage nicht beantworten. Gemäß Paragraph 55 StPO steht mir das Aussageverweigerungsrecht zu.

DA
Wie lange muss etwas (Hühnerstall, Regenmantel, Seefahrer) am Nagel hängen, um als geschmissenes Handtuch durchzugehen?

TK
Grießbrei esse ich am liebsten mit frischem Obst. Himbeeren, Erdbeeren, Kirschen – da bin ich völlig vorurteilsfrei. Es soll ja Puristen geben, die nur Zimt auf ihren Grießbrei streuen. Zimt! Echt jetzt, Leute – macht euch mal locker!

DA
Greisenschmatzen.

TK
Ich möchte Sie mal erleben, wie Sie ohne Ihre Dritten geräuschlos ein Steak essen … Dass das Thema Altersdiskriminierung im 21. Jahrhundert immer noch so kontrovers diskutiert wird, stimmt mich bitter. No age shaming!

DA
Wenn man „begegne“ wie „Champagner“ ausspricht, dann, tja, was dann?

TK
Champagner spricht man nicht aus, Champagner trinkt man! hickst Wie war gleich nochmal die Frage?

DA
Es tickt die Zeit, das Insekt, der Staub … wer von ihnen tickt nicht ganz richtig?

TK
Tick, tack, tick, tack, tick, tack. hypnoseschlummert

DA
Yak the Ripper, Yake wie Hose, zu allem Yak und Amen sagen  …

TK
Nach jahrelangen Recherchen ist es gelungen, den fälschlicherweise als „Jack the Ripper“ bezeichneten Fall zu lösen. Täter war in Wirklichkeit ein Yak aus Tibet, was eben nicht Yake wie Hose ist, sondern ein echter Knüller! Nach dem Ende der Mordserie überkamen den Yak schwerste Gewissensbisse, er wurde religiös und widmet sich seit nunmehr über einhundert Jahren (Yaks sind langlebig) der veganen Armenspeisung. Ente gut, alles gut.

DA
Friseure, die sich selbst die Haare schneiden. Ärzte, die sich selber verarzten. Kinder, die Kinder kriegen – ja ist denn die Welt komplett _______________________ geworden?

TK
Hier bitte authentisch einsetzen. Was einem bei einer Krimiautorin echt zu denken geben sollte …

Titelbild:  © Michele Corleone