Es geht um gutes Essen, viel Alkohol und eine tragische Liebeserzählung. Und lange fragen sich die Leser*innen wie auch der Protagonist Tom, worauf das hinausläuft. Sicher ist: Es wird auf etwas hinauslaufen. Sonst wäre es kein Roman von Martin Suter.
Eigentlich soll der junge Jurist Tom den Nachlass des reichen und schwerkranken Dr. Peter Stotz, einst Politiker und Nationalrat, ordnen. Und dafür sorgen, dass jener nach seinem Tod noch so gesehen wird, wie er Zeit seines Lebens gern gesehen worden war. Für diesen Job hat ihm Dr. Stotz ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte. Sogar in die Villa am Zürichberg war Tom gezogen. Doch zwischen hervorragendem italienischen Essen der Köchin Mariella und regelmäßigen Drinks mit seinem Chef kommt er kaum dazu, die Papiere zu schreddern, so wie es ihm Dr. Stotz aufgetragen hat. Irgendwann interessiert Tom auch nur noch eins: die geheimnisvolle junge Frau, deren unzählige Porträts in der Villa hängen, und Antwort auf die Fragen zu finden, was mit ihr passiert ist.
Martin Suter ist für seinen schnörkellosen Schreibstil bekannt. Seine Romane funktionieren ohne große Ausschmückungen und Pomp. Jeder Satz in einem Text des Schweizer Bestsellerautors hat seine Berechtigung und eine Funktion, die sich später offenbart. Doch in seinem neuen Roman „Melody“ ist etwas anders. Ungewöhnlich detailliert und an einigen Stellen etwas langatmig werden Räume, Mahlzeiten, alkoholische Getränke und Gespräche beschrieben. So wird den Leser٭innen kein Wort vorenthalten, wenn Dr. Stotz – am Kamin sitzend mit unzähligen Drinks intus – ausschweifend von seiner Vergangenheit erzählt. Von seiner großen Liebe Melody, die kurz vor der Hochzeit vor 40 Jahren plötzlich und spurlos verschwand. Hier schiebt sich eine zweite Ebene ins Erzählte. Stotz wird zum intradiegetischen Erzähler, einem Erzähler in der erzählten Welt.
Seitenlang wechseln sich beide Welten ab – die Welt in der Villa und die Welt um die Liebe zu Melody. Und immer lauter wird die Frage, worauf eigentlich hingearbeitet wird. Denn erfahrene Suter-Leser٭innen ahnen: Auch für das Hinhalten wird es einen Grund geben. Der große Twist wird kommen, irgendwann. Doch zuvor merken sie, wie auch Tom immer ungeduldiger wird und anfängt, nachzuforschen: Er spricht mit Stotz’ Bediensteten über Melody. Er versucht, den Dokumenten etwas zu entnehmen. Er betritt private Räume, in denen er nichts verloren hat, und fliegt prompt auf. Denn das Haus hat Augen und nichts ist, wie es scheint. Das wird ihm irgendwann bewusst.
Vielleicht haben einige Leser٭innen bald eine Vermutung, wie das Ganze enden, ja, wohin der Plot führen wird. Und doch kommt es ganz anders als gedacht. Wie so oft bei Suters Romanen. Ob das überraschende Ende den vorherigen Spannungsbogen trägt, muss jede٭r Leser٭in selbst entscheiden. Sicher ist: „Melody“ ist ein runder, gut zu lesender Roman – wenn auch nicht Suters bester.
„Melody“ von Martin Suter erschien im März 2023 im Diogenes Verlag und hat 336 Seiten.
Lesen hilft so oder so. Ob zur Ablenkung in der Quarantäne oder zur Einordnung von Isolation, Wahnsinn, Leben und Tod. Moment, das Intro kommt dir bekannt vor? Gut aufgepasst: Vor sechs Wochen sind hier schonmal Buchtipps für die Quarantäne erschienen. Hier kommen neue.
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Die Straße von Cormac McCarthy
Es gibt Bücher, die sind wie Kometen: Man begegnet ihnen, liest sie, stellt sie ins Regal – und Jahre später kommen sie wieder ins Leben zurück. „Die Straße“ ist für mich so ein Buch.
Bestimmt ist es mehr als vier Jahre her, als ich die Erzählung zum ersten Mal gelesen habe. Nun, in Corona-Zeiten, fiel das Buch mir wieder in die Hände. Ein kurzes Blättern, und die vielen Bilder und klaren Szenen waren gleich wieder präsent. Cormac McCarthy zeigt hier seine großartige Erzählkunst in Perfektion. Kein Wunder, dass er hierfür 2007 den Pulitzer-Preis bekam.
Die Story selbst ist schlicht. Das Szenario ist die USA in einer Endzeitsituation. Es gibt kaum noch Menschen, eine moderne Infrastruktur ist so gut wie nicht mehr vorhanden. In dieser Welt macht sich ein Vater mit seinem Sohn auf dem Weg. „Wenn er im Dunkel und in der Kälte der Nacht im Wald erwachte, streckte er den Arm aus, um das Kind zu berühren, das neben ihm schlief.“ Wenn ein Roman so beginnt, dann ist klar: Der Leser bleibt nicht auf Distanz, sondern soll mitkommen auf diesen Weg, der an die Küste führen soll. Man begibt sich nicht unbedingt gerne, aber eben unweigerlich in die Obhut der beiden.
Warum die Reise eigentlich an die Küste gehen soll? Was erwarten die beiden dort? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Wie eine Sehnsucht, die gar nicht näher bestimmt ist, entwickelt sich dadurch der Sog, der den Roman so bestimmt.
Die Straße wirkt wie ein Vakuum: Sie zieht einen hinein in die Geschichte. Es gibt Begegnungen mit anderen Menschen; kalte Nächte und die Suche nach Essen dominieren den Alltag. Doch das Eigentümliche und auch wundervoll Rätselhafte an der Erzählung ist, dass das Vakuum tatsächlich leer bleibt. Vielleicht ist es so, dass in einer Welt, in der alles infrage gestellt ist, allein schon die Erkenntnis trägt: Jede Leere ist mehr als das Nichts.
Die Straße erschien in der Übersetzung Nikolaus Stingls mit 256 Seiten bei Rowohlt.
Die Tage in der Quarantäne sind alle gleich. Oder ist es immer derselbe Tag, den wir erleben? Denn wer sagt denn, dass Zeit vergeht? Martin Suters „Die Zeit, die Zeit“ basiert auf der Theorie, „dass es keine Zeit gibt. Es gibt nur die Veränderungen. Wenn diese ausbleiben, steht das, was wir Zeit nennen, still.“
Eigentlich will Peter Taler nur den Tod seiner Frau Laura rächen: Ihren Mörder finden, umbringen und dann Selbstmord begehen. Anders sein alter Nachbar und Zeitnihilist Knupp, der ebenfalls um seine Frau trauert: Der will nämlich einen Moment wiederherstellen, an dem Martha noch lebt, und ihren Tod verhindern. Taler soll ihm helfen, sträubt sich aber zunächst. Doch Knupp hat etwas, das er braucht, um Lauras Mörder zu finden. Und was ist, wenn sein seltsamer Nachbar recht hat? Wenn es stimmt, dass die Zeit nicht existiert? Dass ein bestimmter Moment wiederhergestellt werden kann, indem alle Veränderungen aufgehoben werden? Dann bestünde ja die Chance, Laura wiederzusehen.
Das Faszinierende an Suter ist doch, dass er das scheinbar Unmöglichste, ja, Unglaubwürdigste, mit einer Leichtigkeit und einer Portion Sachlichkeit glaubhaft macht. Sei es ein rosaroter leuchtender Elefant oder eben das Zurückdrehen der Zeit – alles ist möglich, ergibt Sinn, ja, ist logisch, verständlich und spannend zugleich. „Die Zeit, die Zeit“ ist einer der besten Romane Suters. Und die Zeit in der Quarantäne sollte genutzt werden, um ihn zu lesen.
Dabei könnte es sein, dass die Leser٭innen der Ausgabe von 2012 einen anderen Schluss lesen als die einer Ausgabe nach 2015. Denn laut Tages-Anzeiger hat Suter das Ende noch einmal umgeschrieben. Das würde ja heißen, beide Fassung existieren trotz Veränderung zur gleichen Zeit. Explodierender-Kopf-Emoji.
Der junge niederländische Historiker Rutger Bregman hat in den letzten Jahren Aufsehen erregt. Nicht nur durch seine Wutrede gegen die Reichen auf dem Weltwirtschaftsgipfel 2019 in Davos, sondern auch durch seine kämpferischen und visionären Bücher. Und es gibt wohl kaum einen besseren Zeitpunkt als jetzt, sich Gedanken darüber zu machen, wie unsere Zukunft aussehen sollte. Die COVID19-Pandemie sorgt dafür, dass einige der Utopien, die Bregman in seinem Buch „Utopien für Realisten“ vorstellt, gar nicht mehr so weit von unserem Alltag entfernt scheinen: so stellt er uns beispielsweise die 15-Stunden-Woche als Antwort auf die Digitalisierung der Arbeit und das bedingungslose Grundeinkommen als realistische Option vor.
Bregmans Rede in Davos:
Quelle: YouTube
Doch Bregman ist nicht nur utopischer Realist, sondern auch Optimist. In seinem aktuellen Buch „Im Grunde gut“ stellt er eine These vor, die sich in der aktuellen Lage noch bewähren muss – der Mensch, so Bregman, sei im tiefsten Kern seines Wesens gut. Damit meint er vor allem, dass der Mensch eben nicht nur auf den eigenen Vorteil bedacht, sondern ein soziales, sanftmütiges und solidarisches Geschöpf ist. In Zeiten, in denen im Supermarkt kein Klopapier mehr zu finden ist, sicher eine steile Behauptung, die dem Pessimismus der plötzlichen Krise aber erfrischend widerspricht. „Das wahre Problem unserer Zeit ist nicht, dass es uns nicht gut ginge oder dass es uns in Zukunft schlechter gehen könnte. Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.“, sagt Bregman. Versuchen kann man es ja mal …
Utopien für Realisten erschien in der Übersetzung Stephan Gebauers bei Rowohlt und hat 304 Seiten.
Gregor van Dülmen empfiehlt …
Miroloi von Karen Köhler
Karen Köhlers Debütroman Miroloi warnt vor sozialen Gefahren dauerhafter Isolation, und ist damit im Moment noch aktueller als bei seinem Erscheinen letzten Sommer.
Das Buch erzählt aus dem glücklosen Leben einer namenlose Protagonistin, die als Findelkind in einem fast völlig von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf auf einer abgeschlagenen Insel aufwächst und systematisch gemobbt und misshandelt wird. Eigentlich ließe sich die Geschichte locker in ein historisches Setting übertragen, zumal sie Informations- und Machtmechanismen nachzeichnet, die geschichtlich schon zu manchem gedanklichen und gesellschaftlichen Rückschritt geführt haben. An manchen Stellen würde man sich das sogar wünschen. Doch Köhler wählt einen fiktiven Handlungsraum, um die Kausalketten, passend zum Thema, zu isolieren. Das hat den entscheidenden Vorteil, dass sie mit Konservatismus, religiösem Fanatismus und dem Patriarchat abrechnen kann, ohne konkrete Personen zu diffamieren. Auch wenn Miroloi teilweise karg und rau erzählt ist, ist Köhler damit ein lesenswertes, wichtiges Buch gelungen. Nicht zuletzt zeigt es uns, wie gut wir es haben, dass das Internet noch vor COVID-19 erfunden wurde. Besonderes Highlight: Miroloi wird mit einem Hannah-Arendt-Zitat eingeleitet und diesem voll und ganz gerecht.
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gestern wurde die Longlist für den Buchblog-Award 2017 veröffentlicht, der dieses Jahr im Rahmen der Frankfurter Buchmesse erstmals verliehen wird. Neben vielen großartigen Seiten hat es auch postmondän in diese wundersame Liste geschafft. Nun läuft vom 1. bis 11. September ein Voting für die Shortlist – und wenn du mitmachen und deine Lieblingsseite unterstützen möchtest, dann klick doch einfach mal auf dieses hübsche Logo hier und lass deine Stimme hinterlassen. Geht auch ganz schnell. Unter allen Teilnehmern verlosen wir ein Lächeln.
Zum Voting für den Buchblog-Award 2017:
Wir danken euch vielmals für eure Aufmersamkeit, Treue und Unterstützung über die letzten zwei Jahre,