Schlagwort: Buchbesprechung

Liebesgeschichte im Alkoholrausch. Martin Suters „Melody“

Es geht um gutes Essen, viel Alkohol und eine tragische Liebeserzählung. Und lange fragen sich die Leser*innen wie auch der Protagonist Tom, worauf das hinausläuft. Sicher ist: Es wird auf etwas hinauslaufen. Sonst wäre es kein Roman von Martin Suter.


Eigentlich soll der junge Jurist Tom den Nachlass des reichen und schwerkranken Dr. Peter Stotz, einst Politiker und Nationalrat, ordnen. Und dafür sorgen, dass jener nach seinem Tod noch so gesehen wird, wie er Zeit seines Lebens gern gesehen worden war. Für diesen Job hat ihm Dr. Stotz ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte. Sogar in die Villa am Zürichberg war Tom gezogen. Doch zwischen hervorragendem italienischen Essen der Köchin Mariella und regelmäßigen Drinks mit seinem Chef kommt er kaum dazu, die Papiere zu schreddern, so wie es ihm Dr. Stotz aufgetragen hat. Irgendwann interessiert Tom auch nur noch eins: die geheimnisvolle junge Frau, deren unzählige Porträts in der Villa hängen, und Antwort auf die Fragen zu finden, was mit ihr passiert ist.

Martin Suter ist für seinen schnörkellosen Schreibstil bekannt. Seine Romane funktionieren ohne große Ausschmückungen und Pomp. Jeder Satz in einem Text des Schweizer Bestsellerautors hat seine Berechtigung und eine Funktion, die sich später offenbart. Doch in seinem neuen Roman „Melody“ ist etwas anders. Ungewöhnlich detailliert und an einigen Stellen etwas langatmig werden Räume, Mahlzeiten, alkoholische Getränke und Gespräche beschrieben. So wird den Leser٭innen kein Wort vorenthalten, wenn Dr. Stotz – am Kamin sitzend mit unzähligen Drinks intus – ausschweifend von seiner Vergangenheit erzählt. Von seiner großen Liebe Melody, die kurz vor der Hochzeit vor 40 Jahren plötzlich und spurlos verschwand. Hier schiebt sich eine zweite Ebene ins Erzählte. Stotz wird zum intradiegetischen Erzähler, einem Erzähler in der erzählten Welt.

Seitenlang wechseln sich beide Welten ab – die Welt in der Villa und die Welt um die Liebe zu Melody. Und immer lauter wird die Frage, worauf eigentlich hingearbeitet wird. Denn erfahrene Suter-Leser٭innen ahnen: Auch für das Hinhalten wird es einen Grund geben. Der große Twist wird kommen, irgendwann. Doch zuvor merken sie, wie auch Tom immer ungeduldiger wird und anfängt, nachzuforschen: Er spricht mit Stotz’ Bediensteten über Melody. Er versucht, den Dokumenten etwas zu entnehmen. Er betritt private Räume, in denen er nichts verloren hat, und fliegt prompt auf. Denn das Haus hat Augen und nichts ist, wie es scheint. Das wird ihm irgendwann bewusst.

Vielleicht haben einige Leser٭innen bald eine Vermutung, wie das Ganze enden, ja, wohin der Plot führen wird. Und doch kommt es ganz anders als gedacht. Wie so oft bei Suters Romanen. Ob das überraschende Ende den vorherigen Spannungsbogen trägt, muss jede٭r Leser٭in selbst entscheiden. Sicher ist: „Melody“ ist ein runder, gut zu lesender Roman – wenn auch nicht Suters bester.


„Melody“ von Martin Suter erschien im März 2023 im Diogenes Verlag und hat 336 Seiten.

Buchcover: © Diogenes Verlag

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Fett, Schweiß und Zersetzung in Niendorf 

Wenn der Verlag einen Roman als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘“ ankündigt, sind die Erwartungen hoch. Es sei denn die Betonung liegt auf „eine Art“. Denn bei einem Vergleich zwischen Thomas Mann und Heinz Strunk wird man beiden nicht gerecht.


Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Aber ja, vielleicht ist er eine Art „Tod in Venedig“, dann aber auch eine Art „Die Verwandlung“ oder eine Art „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Am Schluss ist er jedoch ein Roman, der für sich und gleichzeitig ganz in der Tradition der Heinz-Strunk-Werke steht. Denn worum geht es? Es geht um die Abgründe des männlichen Seins, es geht um das Unappetitliche, es geht um menschliche Ausdünstungen, Essensmief, Körper- und andere Flüssigkeiten. Es geht um „einen eifleckigen, einen Geruch hinter sich herziehenden Freak“.

Dabei fängt er doch so sauber und geordnet an, der Plot. Anwalt Dr. Roth, 51, mitten im Berufsleben stehend, gönnt sich eine dreimonatige Auszeit zwischen zwei Jobs im schleswig-holsteinischen Niendorf an der Ostsee. Als Ortsteil der Gemeinde Timmendorfer Strand verspricht dieser Aufenthaltsort wenig Aufregung und Ruhe zum Schreiben. Genau das, was der Protagonist sucht, will er doch nichts weniger als einen Bestseller schreiben – über seine bürgerliche Familie. Diese Rechnung hat er jedoch ohne seinen Vermieter, dem Strandkorbverleiher und Spirituosenladenbesitzer Breda, gemacht. Herr Breda ist die Personifizierung von allem, was Roth verabscheut. Von allem, was Roth niemals werden will, niemals sein möchte, nie sein wollte. Doch die Langweile, die Trostlosigkeit, die Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft regelt das. Und viel zu später merkt Roth, dass seine Verwandlung bereits in vollem Gange ist.

Aber ist es wirklich eine Verwandlung? Kämpft sich da nicht eher etwas an die Oberfläche, was immer schon tief in ihm geschlummert hat? Oder ist es doch ein Befreiungsschlag aus einem Leben, das er schon lange nicht mehr leben wollte? Fest steht, irgendwas passiert mit dem Protagonisten. Und lange ist nicht klar, wohin das führen wird und was das alles in der Konsequenz bedeutet.

Währenddessen werden die Leser*innen durch den Plot geführt wie durch ein Horrorkabinett. Denn Strunk porträtiert einmal mehr den Blick seines Protagonisten auf seine Mitmenschen. Und dieser ist meist kein freundlicher, wohlwollender, sondern ein abfälliger, ein oberflächlicher, auf das Äußere reduzierender Blick: Ihre abstoßenden Gerüche werden beschrieben, ihre gelb verfärbten Achselhöhlen und ihre Haut, die die „Farbe von fauligem Obst angenommen“ hat. Das ist nicht neu, werden doch die Protagonisten (nicht gegendert, da ausschließlich männlich) in Strunks Romanen weniger über die Schilderung ihrer Gefühlswelt, ihres Innenlebens charakterisiert, als mehr darüber, wie sie die Welt um sich herum sehen, ertasten, riechen, schmecken und verurteilen. Und das ist es, was Strunks Werke ausmacht: seine sehr detailreichen Beschreibungen neben den pointierten Dialogen, die lustig und tieftraurig zugleich daherkommen.

Doch zwischen diesem Abstoßenden und Trübsinnigen gibt es einen Lichtblick in „Ein Sommer in Niendorf“: das ältere Ehepaar Klippstein. Können sie Dr. Roth retten?

Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Und auch keine Sommerlektüre im klassischen Sinne. Aber er liest sich schnell und er unterhält. Doch eines muss wirklich einmal ausführlich analysiert und diskutiert werden: das Frauenbild ins Strunks Werken. Denn auch in diesem Roman wirft es einige Fragen auf.


„Ein Sommer in Niendorf“ von Heinz Strunk erschien im Juni 2022 im Rowohlt Verlag und hat 240 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag 

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Chor aus der Dunkelheit – ein Autorengespräch

Im März veröffentlichte Philip Dingeldey, auch bei postmondän ein fleißiger Autor, seinen ersten Roman „Chor aus der Dunkelheit“. Gutes Timing, denn er erzählt eine dystopische Geschichte, zwar ohne Pandemie, Shutdown und Abstandsregeln, dafür mit Großkonzernen, die in Europa die Regierung übernommen haben, Konzentrationslagern, in denen Menschen zu Opfergaben gezüchtet werden – achja, und Vampiren. Gregor, ebenfalls Autor bei postmondän, hat den Roman mittlerweile durchgelesen, und ein paar Fragen ihn.


Alles Gute zum Buchrelease! Hand aufs Herz: Wie autobiographisch ist der Roman?

Im Grunde gar nicht. Die meisten Autoren möchten ja etwas autobiographisches als Debüt vorlegen, in dem man sich intensiv mit seinem Innenleben auseinandersetzt. Das wollte ich für meinen ersten Roman vermeiden, denn ich finde, damit ist der Markt schon überflutet und ich wollte gern etwas anderes machen. Es ist nur insofern autobiographisch, dass er meine persönlichen Gedanken zu Politik und Gesellschaft umfasst, dafür aber nichts zu meinem Leben. Es gibt auch keine Figur, in der ich mich wiedererkenne.

Worum geht es denn in der Geschichte?

In der Ausgangslage ist Europa im 22. Jahrhundert ein zusammenhängender Staat mit neofeudalem System geworden ist. Plötzlich verbreiteten sich Vampire, die, vampirtypisch, das Tageslicht meiden und Blut trinken müssen. Es gab einen kriegerischen Konflikt, der mit einem Vertrag zwischen Regierung und Vampiren beigelegt wurde. Dieser besagt, dass Vampire für Menschen arbeiten, ihre körperlichen Fähigkeiten für sie einsetzen und zum Beispiel Ökostrom produzieren, wofür sie Blut geliefert bekommen. Für die Blutlieferungen werden Lager errichtet, in denen später Menschen gezüchtet werden. Damit das Gleichgewicht erhalten bleibt, ist es verboten, dass Vampire sich reproduzieren, also ihre Opfer in Vampire verwandeln, sie dürfen sie einfach nur töten.

Im Roman bricht eine Vampirin diese Abmachung und verwandelt ein Opfer aus dem Lager in einen Vampir, was der beaufsichtigende Wächter, George, zulässt. Der Grundkonflikt besteht also in einem Vertragsbruch und darin, dass die Vampire erkennen müssen, dass ihnen das System, auf das sie sich eingelassen haben, keinen Vorteil bringt, und neben ihnen auch noch Menschen unterdrückt. Sie beschließen, Widerstand zu leisten, und geraten zwischen verschiedene politische Fronten.

„Chor aus der Dunkelheit“. Was hat es mit dem Buchtitel auf sich?

Der Roman wird eingeleitet durch Brecht-Zitat:

„Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.“

„Die im Dunkeln“ sind dabei ja die Subalternen, die keine Stimme haben, weder gesehen noch gehört werden und unterdrückt sind. Das sind in dieser Situation zum einen die Lagerinsassen, die für die Vampire geschlachtet werden, zum anderen die Vampire, die kein Mensch mag, aber mit denen man einen Frieden schließt, in dem sie ausgebeutet werden. Der Hauptcharakter Septimus, der frisch verwandelte Vampir, bemerkt irgendwann, dass dahinter eine Reihe von Grundproblemen stehen, und sich die unterdrückten Vampire und Menschen eigentlich zusammenschließen müssten. Das ist der Chor aus der Dunkelheit: die, die das System am Laufen halten, also brav singen, aber nichts zu melden haben – also im Dunklen stehen.

Kannst du damit leben, wenn jemand deinen Roman grotesk findet?

Mit Groteske hab ich eigentlich kein Problem, der Roman hat viele übertreibende Elemente und wird an vielen Stellen auch bizarr, was auch gewollt ist. Ich komme damit klar. Vielleicht trifft es dadurch nicht jeden Geschmack, denn Groteske muss man natürlich wollen.

Ich verstehe dein Buch als eine Dystopie mit Science-Fiction- und Fantasy-Elementen. Du auch?

Ja, so war es auf jeden Fall gedacht. Mein Verlag war der Meinung, es gehört auch zum Horror-Genre, was auch nicht komplett falsch ist, da Vampire dort ja oft eingeordnet werden. Es ist aber kein typischer Gruselroman, sondern eher ein Horrorszenario, eine Dystopie. Ich hab versucht, das Fantasy-Element der Vampire in eine zukünftige Gesellschaft hineinzudenken. Das gab es so bisher noch nicht wirklich, vor allem nicht politisiert.

Stehen sich die beiden Genres Science Fiction und Fantasy nicht eigentlich gegenseitig im Weg?

Jein. Es gibt schon viele Science-Fiction-Romane, die ein metaphysisches Wesen haben – oder eines, dessen Technik oder Funktionsfähigkeit nicht erklärt werden kann. Wir wissen auch gar nicht, wie metaphysisch diese Vampire sind: Sie haben übermenschliche Kräfte, aber keine übersinnlichen. In anderen Romanen können sie Gedanken lesen oder zaubern. Hier können sie bloß in gewisser Weise ihre Form ändern, sich zum Beispiel Flügel wachsen lassen, sich aber nicht in Fledermäuse oder Wölfe verwandeln oder Tiere kontrollieren. Insofern sind sie beschränkt metaphysisch. Es ging darum, eine Entität zu finden, die nichtmenschlich ist, aber intelligenter ist als etwa ein Zombie, der einfach nur Gehirne fressen will und kein anderes Motiv damit verbinden kann. Während Vampire einfach als intelligenter gelten und sich besser organisieren können, mehr Gefühle und Gedanken äußern können. Man hätte als Pendant auch eine Alienrasse nehmen können, wenn man daraus ein Space Adventure hätte machen wollen.

Vielleicht im nächsten Roman.

Genau.

Um das Buch in eine Beziehung zum laufenden Jahrhundert zu setzen: Findest du okay, wenn man eine Kritik am Neoliberalismus herausliest?

Wenn man möchte, ja. Eigentlich möchte ich das natürlich dem Leser überlassen, weil der Autor ja nicht die Deutungshoheit hat. Aber aus meiner Sicht ist es definitiv angedacht. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass sich das System im Roman als freiheitlich, kosmopolitisch und progressiv versteht und Gleichberechtigung als wichtiges Motiv sieht – Schlagworte wie Nachhaltigkeit bedient. Andererseits verteufeln sie jede Form von Gleichverteilung, sind brutale Ausbeuter und unzufrieden mit dem Vampirvertrag, der ja eine Planwirtschaft festhält, an die sie sich halten müssen.

Es ist selbst kein neoliberales System mehr, weil es auch einfach unrealistisch ist, dass der Neoliberalismus so lange Bestand haben wird. Aber natürlich spielen Elemente dort hinein: die vollkommene Macht der Wirtschaft, die völlige politische Kontrolle durch Unternehmen ist angedacht. Es hat mit dem Neoliberalismus zu tun, ist aber viel, viel schlimmer.

Kannst du dir vorstellen, dass wir momentan auf eine solche Herrschaft der Konzerne zusteuern?

Nicht in diesem offensichtlichen und dreisten Maß, wie es im Roman passiert, in dem Regierungen ja schlicht nicht mehr bestehen, bloß Pressesprecher in Erscheinung treten und Konzerne alles unter sich regeln. Die Tendenz dazu würde ich aber auf jeden Fall sehen. Politik hängt heute immer mehr davon ab, Konzernlobbys zu befriedigen, sich Gesetzesentwürfe von Konzernen schreiben zu lassen und durchzuwinken. Diese Elemente steuern ja bereits auf eine vollkommene Privatisierung hin.

Wie gefährlich wäre das?

Das kann sehr gefährlich werden, denn man kann über unser System sagen, was man will, muss es auch nicht mögen, aber es hat nach wie vor Grundfeste, die man verteidigen kann. Eine beschränkte Volksmacht gibt es noch immer. Gefährlich wäre, wenn die Bürger auch diese Kontrolle verlieren.

Auch Städte haben in deinem Buch Markennamen übernommen, „Walt Disney City“ oder „Telekom City“ zum Beispiel. Das erinnert mich an Ideen aus Infinite Jest oder Quality Land. Glaubst du, dass im ausschweifenden Neoliberalismus derzeit das größte dystopische Potenzial für die Literatur liegt?

Ja, das könnte man sagen. Beziehungsweise im Ende des Neoliberalismus. Man könnte ja auch schon den Neoliberalismus selbst als Horrorszenario bezeichnen, in dem alles kommerzialisiert werden kann, inklusive Städtenamen. Eigentlich basierte diese Idee bei mir eher auf dem Film Fightclub, wo es in einer Szene darum geht, dass große Konzerne die Namen von Planeten bestimmen dürfen. Ich fand die Idee so reizvoll, dass ich es auf Städte übertragen habe.

Žižek hat einmal gesagt, es fällt uns heute leichter, das Ende der Welt zu denken als eine Welt ohne Kapitalismus. Und da wir gar nicht wissen, wie es nach dem Neoliberalismus weitergehen wird, ist das Potenzial für Spekulation und Horrorszenarien natürlich hoch. Also einerseits der Neoliberalismus, andererseits die Frage: Was kommt danach? Wenn man zusätzlich dazu bestimmte Staatschefs wie Trump oder Johnson beobachtet, glaubt man sich manchmal näher an der Apokalypse als an der Überwindung der Ungerechtigkeit.

Sind Vampire Menschen ethisch überlegen?

Sie haben eine andere Art, miteinander umzugehen. Zwar sind sie weniger herzlich, aber ihr Eigentumsbegriff ist bedürfnisorientiert und alle sind in jederlei Hinsicht gleichberechtigt: rechtlich, politisch, sozial. Zumindest am Anfang des Romans gibt es unter ihnen keine sichtbaren Hierarchien. Vielleicht sind sie ethisch nicht überlegen, aber politisch sind sie partizipatorischer, egalitärer und solidarischer als Menschen heute und im 22. Jahrhundert. Dennoch sind sie korrumpierbar und müssen davon leben, Menschen zu töten. Den Weg des Vegetarismus könnten sie sich zum Beispiel nicht einfach aussuchen. Sie haben einfach eine andere Kultur, die auf eine Art rückständig ist, auf eine andere Art egalitärer.

Glaubst du wirklich, wenn wirklich eine Vampir-Invasion ansteht, ließe sich ein pragmatischer Friedensvertrag mit ihnen schließen?

Es gibt in diese Richtung ja auch wissenschaftliche Gedankenexperimente wie „Zombies in international relations“, wo dasselbe Problem mit einer Zombie-Invasion thematisiert wird. Mit denen ist ein Deal weniger leicht möglich, Vampire sind dagegen vernunftbegabt, und man kann sich fragen: Was sind die primären Interessen von Vampiren? Sie möchten ein dunkles Versteck und Blut. Im Falle einer Ausbreitung von Vampiren wäre es doch naheliegend, dass Menschen sagen: Wenn wir sie nicht besiegen können, da sie zu stark sind, sollten wir einen Friedensvertrag schließen. Wenn wir sie nicht unterdrücken können, unterdrücken wir eben andere und beuten alle aus. Als Lohn erhalten sie, was ihre primäre Interessen sind: Blut und Sicherheit.

Warum können Vampire in Romanen nie Sex haben?

Es gibt schon einige Romane, in denen Sex angedeutet wird, zum Beispiel in Ann Rices „Chronik der Vampire“. In meinem Roman sind sie im Grunde entsexualisiert. Der Sexualtrieb und die Fähigkeit dazu, sich fortzupflanzen, ist hier sexuall gar nicht nötig: Vampire reproduzieren sich nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern dadurch, dass sie ein menschliches Opfer verwandeln. Das läuft bei mir durch einen Blutaustausch. Das Opfer wird nicht nur ausgetrunken, sondern bekommt Blut des Vampirs. Dadurch wird logisch, dass nicht jedes Opfer zum Vampir wird. Denn es musste einen Unterschied geben. Wenn wir dadurch eine Reproduktion haben, wird Sex biologisch überflüssig. Manche Vampire bereuen im Roman auch sehr, dass sie dazu nicht mehr fähig sind.

Deine Vampire sind anders als jüngste Adaptionen wie „I am Legend“ oder „Twilight“ eher klassisch angelegt: mit Buckel, Vampirzähnen, Flügeln und Verglühen im Sonnenlicht. Das ist ja nicht besonders progressiv. Gibt es andere progressive Aspekte in deinem Roman?

Was Vampire betrifft: Stimmt, die Darstellung ist nicht progressiv, sondern konventionell. Sie entsprechen im Grunde dem hässlichen Nosferatu-Bild und kommen nicht mit der Sonne klar. Ich bin mir aber nicht sicher, ob neue Romane wirklich dadurch progressiv werden, dass Vampire im Sonnenlicht einfach nur glitzern. Meiner Meinung nach ist das zu vereinfachend. Im Grunde sind Vampirfähigkeiten doch etwas Tolles: Du hast übermenschliche Fähigkeiten, lebst, wenn du möchtest, ewig. Diese Vorteile musst du teuer bezahlen – was ein sehr gängiges Motiv in Fantasy-Romanen ist. Erstens dadurch, dass du nur durch den Tod anderer lebst, zweitens durch die Vermeidung von Sonnenlicht. Wenn sich ein Vampir nicht mehr davor scheuen muss, ist für mich der dialektische Reiz an der Figur verloren.

Was hat es mit dem Christlichen Staat auf sich?

Der Christliche Staat ist eine Untergrund-Organisation, ein Pendant zum IS in einer säkularisierten Zeit. Der vorherrschende neokapitalistische Feudalismus hat mit Religion nicht mehr viel zu tun und funktioniert durch andere Mechanismen: wirtschaftliche Rationalität, Effizienz, Freiheitsideologie. Das Christentum, vor allem der Katholizismus, hat hier nicht mehr viel zu bieten. Im Gegensatz zum Protestantismus hat er große Probleme, sich in ein solches System einzugliedern. Da ihrer Meinung nach durch den Deal mit den Vampiren, welche sie für Dämonen halten, in Europa der Teufel herrscht, ist das gesamte System für sie verkommen. Es gibt für sie keine Möglichkeit, allzu offen Kritik zu üben. Darum gründen sie diese reaktionäre Untergrundorganisation, die das Ganze rückchristianisieren und auch die Vampire besiegen möchte.

Im Buch gibt es zwei Verwandlungen: Ein Mensch wird zum Vampir, ein anderer zum Cyborg. Was von beidem ist erstrebenswerter?

Ich weiß nicht, ob ich sagen würde, dass eines davon erstrebenswert ist. Das eine ist das Science-Fiction-, das andere das Fantasy-Element. Der Wärter wird zum Cyborg, der instrumentalisiert wird. Er kann ziemlich viel, ist aber immer noch sterblich. Er kann tagsüber hinaus und muss, anders als Vampire, nicht Menschen töten, um zu überleben. Das ist natürlich ein Vorteil für ihn, aber aus meiner Sicht auch nicht unbedingt erstrebenswert.

Wenn du es dir ganz frei aussuchen könntest, wo würdest du am liebsten leben: im Europa der Konzerne, im Christlichen Staat oder in der Vampirgesellschaft?

Wenn man die Vampire, die in Clans leben, für sich isoliert sehen kann, und sich anschaut, wie das Leben innerhalb der Clans aussieht, würde ich sagen, okay, lieber etwas unterentwickelt leben, aber dafür eine gewisse Gleichheit und volle Handlungsfreiheit innerhalb des Hoheitsgebiets haben. Dass man in kleinen Gruppen lebt, in denen man alles ausdiskutieren kann, ist ein urdemokratisches Bild, das ich vorziehen würde. Bloß mit den externen Konflikten, in die sie wieder hineingezogen werden, würde ich mich eher ungern auseinandersetzen. Vielleicht ist es aber trotzdem besser als das Europa der Konzerne.

Der christliche Staat kommt aber trotzdem nicht in Frage?

Nein, der ist raus.

Danke für das Gespräch.


„Chor aus der Dunkelheit“ von Philip Dingeldey erschien in der Reihe APEX HORROR des Apex-Verlags und hat 372 Seiten.

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Stinkende Straßen und der Wunsch des Vergessens

Lyrik muss nicht immer erhaben sein; Lyrik muss nicht immer romantisch sein; und vor allem muss Lyrik nicht immer schön sein. Fabian Lenthes Gedichte sind nichts davon. Sie sind verstörend, sie thematisieren Armut, Elend, Isolation und das Leben auf der Straße. 25 neue Gedichte von ihm sind jetzt in einem dünnen Bändchen erschienen, zusammen mit ebenso vielen dazugehörigen Illustrationen des Künstlers Michael Blümel. Da draußen lautet ihr gemeinsames Werk schlicht.


Lenthe legt keine fein ziselierte Wortkunst vor, wie man es vom Gros des Mainstreams der Lyrik gewohnt ist. Bei ihm geht es um materielle, rohe Umstände, die als solche dargestellt werden. Seine Gedichte sind Momentaufnahmen prekärer Lebensumstände. Mal umfassen sie nur einen Augenblick, mal sind sie eine Reflexion des lyrischen Ichs auf immer gleiche sich wiederholende frustrierende Wochen, Monate oder gar Jahre. Es sind kleine Szenen verschiedener Figuren des Unterschichten-Milieus: dem Obdachlosen, dem eine Decke fehlt, dem frustrierten Trinker in der Bar, dem Pfandflaschensammler, der doch nur ein Bier will, alle umgeben von einer düsteren, schweißtriefenden Stadt, deren Atem einen die Luft raubt. „Sie [die Stadt] stinkt aus dem Maul/ Nach Wodka und Angst/ Zwischen den Zähnen/ Verwende Träume“, wie es in einem der stets unbetitelten Texte des leider unpaginierten Büchleins heißt. Zusammen ergibt dieses Prekariat einen urbanen Organismus. Diesen prägen dieselben Motive: Das ist nicht nur der ökonomische Mangel, sondern auch Frust, Depression und Trunkenheit, meist um zu vergessen. Das Vergessen überhaupt ist das dominanteste Motiv der Gedichte. Die Protagonisten wollen dies stets, wollen verdrängen, aber können nicht vergessen, können nicht dauerhaft ignorieren, dass sie nur von einem Tag auf den anderen leben, von der Hand in den Mund, und dass dies die ständige Wiederkehr des Immergleichen ist.

Stilistisch sind die Texte in dem Band in zweierlei Hinsicht auffällig: Erstens, sind sie oft roh in der Sprache, direkt, unbarmherzig in ihren Feststellungen. Sie ergreifen den Leser sowohl analytisch als auch emotional, haben eine depressive Wirkung. Doch trotz der häufigen vulgären Schilderungen, wird das Werk selbst nicht ordinär. Zwar lebt das lyrische Ich draußen, wo sich die Ratten zwischen den Freiern streiten, wo Liebe Geld kostet, wie es in einem bittereren, dunklen Gedicht heißt. Aber die einzelnen (banalen) Bilder und Analogien entfalten in der Summe eine zu große, auch tiefgreifende Wirkung; fantastische Metaphern zeigen geheime Träume, die unerfüllt bleiben müssen; und die Melancholie ist zu erschütternd, als dass die Schilderungen so profan blieben, wie es zunächst scheinen mag.

Dennoch ist die Rohheit und Vulgarität durchaus angebracht. Geschmacklosigkeit macht das Leben aus, die Zumutungen, denen die Protagonisten ausgesetzt sind, sind häufig geschmacklos und ernüchternd – und genau dies komprimiert Lenthe in seinen Gedichten. Doch zweitens, unterscheiden sich diese neuen Gedichte von denen seines Debütbandes In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel. Zwar geht es in beiden Büchern um recht ähnliche Topoi, und beide ergeben eine Lyrik des Prekariats. In seinen ersten Gedichten gab es jedoch in den letzten Versen meist einen kleinen Wendepunkt, einen kleinen Hoffnungsschimmer, und sei es nur durch die kurze Unterbrechung der Isolation durch liebevolle Vereinigungen, die auf eine Ablenkung (oder gar Katharsis) durch Zärtlichkeit hoffen. Diese Elemente sind aus den neueren Gedichten fast komplett verschwunden. Was bleibt, sind Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit.

Gelungen wird dies von Blümel unterstrichen. Blümel ist unter anderem bereits bekannt dafür, dass er auch während Lesungen zeichnet. Hier hat er aber etwas noch Schwierigeres unternommen: Lyrik, die wohl abstrakteste Literaturform, zu bebildern. Dennoch schafft dieser Profi es mit Bravur, jedes Gedicht zu illustrieren. Seine schwarz-weißen Zeichnungen sind oft grob, wirr und düster. Menschen und Gegenstände verwachsen miteinander, auf den Gesichtern der Straßenmenschen zeichnen sich Zorn und desillusionierte Frust ab. Oft bleiben sie selbst vage, deuten etwa bestimmte Formen und Figuren nur an. Meist braucht es einen zweiten Blick, um besser das Verschwommene, das Verworrene zu erkennen. Bezüglich der Motive erinnern die Illustrationen an den Expressionismus der Weimarer Zeit. Arme, Obdachlose und Einbeinige dominieren die traurige städtische Landschaft. Dennoch bleiben Blümels Zeichnungen abstrakter, abgehakter, bewusst kritzlig. Ihnen wohnt eine gewisse Dringlichkeit inne, sie fassen eine starke Emotion, die in ihrer Grobheit (die die Grobheit der dargestellten Leben zeigt) Herz und Hirn erschüttern können. Sie machen sichtbar, was die bloße Fotographie nicht zu greifen vermag. Seine Kunst entfremdet und legt die Entfremdung der Protagonisten offen.

Da draußen ist ein bedeutendes Kooperationsprojekt zwischen Poesie und bildender Kunst, wie es selten noch vorkommt – und weder Lyrik noch solche unbequemen Zeichnungen erregen noch oft großes öffentliches Aufsehen. Dennoch ist gerade eine solche künstlerische Synthese ein gewagter stilistischer Vorstoß, der Aufmerksamkeit verdient. Denn beide betrachten ungeschönt gerade die sozialen (subalternen) Gruppen, die sonst keine Stimme haben und machen diese, wie es selten passiert, zum zentralen Punkt der Kunst. Gerade in der Kombination beider Kunstformen ergibt sich so etwas Neues: ein enges Zusammenspiel, das neue künstlerische Synergien freisetzt, im Ansatz eine Ästhetik des Hässlichen bietet, und neue Bedeutungszusammenhänge im Inhalt offenbaren kann.

So können Blümels zeichnerische Interpretationen, die manchmal sogar tierschürfender sind als die Texte des Bandes, dichterische Lücken füllen und bildstark das zeigen, was manchem Leser vielleicht erst verborgen blieb. Zugegeben, ich mag voreingenommen sein, da ich selbst in meinen eigenen Prosatexten gerne subalterne Gruppen portraitiere. Dennoch hat dies sicherlich eine intersubjektive Bedeutung, die im Literaturbetrieb gerne marginalisiert wird. Vielleicht sollten wir mehr solche Bücher lesen beziehungsweise ansehen und weniger bourgeoisere Romane zur Selbstfindung und Identitätsstiftung Jugendlicher auf teuren Reisen, die nichts mit unserer brutalen, materiellen Realität am Hut haben.

Da draußen von Fabian Lenthe und Michael Blümel erschien bei Rodneys Underground Press und hat 50 Seiten.

Coverbild: Rodneys Underground Press

Jenseits von Eden – Sarah Kuttners Kurt

Blühende Vorgärten, Kaffeegeruch am Morgen, ein Haus im Grünen und ein toter Sohn. Der neue Roman von Sarah Kuttner Kurt beschreibt das eigentlich Unbeschreibliche.


Wie erträgt man es, wenn der sechsjährige Sohn stirbt? Wie geht man mit diesem Schmerz um? Und wie sehr darf man leiden, wie traurig darf man sein, wenn es nicht der eigene Sohn ist? Wenn man nur die Stiefmutter ist, die Mitbewohnerin, die neue Lebensgefährtin des Vaters oder was auch immer? Denn das ist Lena in Sarah Kuttners neuem Roman Kurt. Sie ist die Freundin vom großen Kurt, der seinen Sohn ebenfalls Kurt genannt hat. Und mit dem ist sie gerade erst in ein Haus nach Brandenburg gezogen – irgendwo bei Oranienburg nahe dem Stadtteil Eden. Damit sie beide näher am kleinen Kurt und seiner Mutter Jana wohnen. Sie haben im neuen Haus das Kinderzimmer eingerichtet, Bäume gepflanzt. Der kleine und der große Kurt haben Kieselsäcke in den Garten geschleppt.

Häusliches Unglück

„Und dann fällt Kurt vom Klettergerüst.“ Ein Satz, der sich erst einmal unauffällig einreiht in die Beschreibung der heilen Biedermeier-Vorstadt-Welt und des glücklichen Patchworkfamilien-Idylls. Doch dann wird es dumpf. Ja, es wird dumpf. Anders ist er nicht zu beschreiben – der Ton, in dem das Buch zunächst fortfährt. Lena liest Beerdigungsgesetzestexte und Kurt ist irgendwie nie da. Lässt Lena nicht teilhaben an seinem Schmerz. Lena lässt ihn machen und zieht für ein paar Tage zu ihrer Schwester nach Berlin. Versucht, deren Dachgarten in Schuss zu bringen. Trinkt zu viel. Dabei versteckt die Ich-Erzählerin ihre Fassungslosigkeit über den Tod des kleinen Kurts sowie die Sorge um den großen Kurt hinter flapsiger Ironie und schlagfertigen Sprüchen. Ganz in bekannter Kuttner-Manier. So kommt man nicht umher in der Protagonistin die Autorin zu sehen. Doch diese schafft es in beeindruckender Weise, den Leser٭innen das Gefühl zu geben, etwas zu unterdrücken. Da ist plötzlich irgendwas, das herauswill, aber nicht kann.

Dreck im Idyll

Ja, hier wird ein bekanntes Erzählmittel gewählt: Je glücklicher und bunter das Leben der Protagonist٭innen beschrieben wird, desto härter trifft die Leser٭innen die dramatische Wendung. Doch bei Kurt ist etwas anders: Die Vorstadt-Idylle bleibt und gaukelt vor, alles sei wie immer. Die frisch gepflanzten Bäume im neuen Garten blühen bunt, die Nachbarn grillen an warmen Abenden. Die Protagonist٭innen sind eingesperrt in ein scheinbar friedliches Landleben, das sie nur noch durch einen Schleier betrachten können. Und das auch für die Leser٭innen immer unerträglicher wird. Denn jedes erwähnte Vogelgezwitscher, jeder Sonnenstahl, jeder blühende Baum unterstreicht noch einmal: Es könnte alles gut sein. Warum hat sich der kleine Kurt beim Sturz nicht nur den Arm gebrochen?

Neue Welt

Die Leser٭innen begleiten Lena in ihrer hilflosen Sorge um ihren Freund Kurt und durch ihre Wut auf ihn, dass er seine Gefühle nicht mit ihr teilt. Bis die Protagonistin endlich zu der Erkenntnis kommt, dass auch sie ein Recht darauf hat, so zu trauern, wie es sich für sie richtig anfühlt. Aber die Leser٭innen verfolgen auch eine Beziehung, die erst glücklicher nicht sein könnte in ihrer neu entdeckten Häuslichkeit und plötzlich am Schmerz zu zerbrechen droht. Dabei schafft es Kuttner immer, den richtigen Ton zu treffen, sich jedoch eine gewisse Leichtigkeit in der Sprache zu bewahren. Und mit dieser schiebt sie Lena und den großen Kurt am Ende langsam und ganz vorsichtig zurück ins Leben. Zwar ist es nicht Eden und auch nicht die glückliche Biedermeier-Vorstadt-Welt – beides gibt es ohne den kleinen Kurt nicht mehr. Aber sie entlässt sie in eine Welt, in der sie die Trauer des jeweils anderen verstehen und in der sie sich wiederfinden können. Und endlich kann auch bei den Leser٭innen das heraus, was sich die ganze Lektüre hindurch angestaut hat: Im letzten Kapitel rollen endlich die Tränen.

Kurt von Sarah Kuttner erschien am 13. März im S. Fischer Verlag und hat 240 Seiten.

Die Pyramiden von Kanada

In seinem Roman Kanada erzählt Juan Gómes Bárcena die Geschichte eines Auschwitz-Überlebenden, der versucht, ins Leben zurückzufinden. Um dessen Schicksal nachzuempfinden, hält er einen konfrontativen, eindrücklichen Stil bereit, der Schwächen bewusst in Kauf nimmt, um am Ende dann doch in der Magengrube seiner Leser٭innen einzuschlagen.


„Eine Armbanduhr kostet einhundertzwanzig Zigaretten, dreißig Zigaretten kostet eine Brotration, vier Brotrationen kostet es, den Kommandos mit der leichtesten Arbeit zugeteilt zu werden, und du verwaltest du Tarife verschwiegen, brutal, gleichgültig.“

Stell dir vor

Du hast Auschwitz überlebt. Du kehrst zurück nach Hause, findest dort aber kein Leben mehr vor, in das du wieder zurückkehren kannst. Immerhin steht dein Haus noch. Du suchst nach Ruhe und findest Isolation. Du kannst nichts dafür, doch du glaubst es dir nicht. Hättest du anders gehandelt, hättest du selbst nicht überlebt. Du kannst nichts dafür, dass du in „Kanada“, den Affektenlagern des Vernichtungslagers, arbeiten musstest.

Du findest es seltsam, vom Text in der zweiten Person angesprochen zu werden? Ist es auch. Und bleibt es auch dann noch, wenn man einen gesamten Roman lang mit dieser Ansprache konfrontiert wird. Irritierenderweise erinnert diese Erzählform, die Juan Gómes Bárcena für Kanada wählt, an Abenteuer-Jugendromane wie Die Insel der 1000 Gefahren, in denen Leser٭innen ständig aufgefordert werden, Entscheidungen zu treffen und auf eine andere Stelle im Buch zu blättern. Doch am Ende bleibt die Ansprache die einzige Gemeinsamkeit zu diesen Büchern, denn das in Kanada durchlebte Schicksal ist unausweichlich. Die Entscheidungen, die das Leben der angesprochenen Hauptfigur bestimmen, sind längst gefällt. Nun durchlebt sie den Konflikt, mit ihnen, die sie in der Hölle getroffen hat, außerhalb von ihr weiterleben zu müssen.

Die größten Verbrechen hinterlassen keine Spur

„– und wenn sie doch eine Spur hinterlassen, dann ist es eine, die die Henker noch größer macht.“

Dabei hatte diese Hauptfigur eigentlich ein unbescholtenes, ruhiges Leben als Astrophysiker an der Universität geführt. Gerade zu Beginn des Romans versucht sie noch, in diese Gedankenwelt zurückzukehren. Doch der Kosmos, den sie nun bewohnt, wird immer kleiner und es fällt ihr zunehmend schwerer, die Regeln des Universums damit zu verbinden. Sie findet gedanklich keinen Zugang mehr. Immer stärker entfalten sich Gedanken an Krieg, Deportation und Auschwitz, an Vorbilder für die Verbrechen der Nazis. Wie wird man Auschwitz gedenken? Wie wird sich der Millionen Opfer erinnert werden? Die Azteken hatten ja auch unzählige Menschen hingerichtet. Und heute bewundert man ihre Pyramiden, die Opferstellen, als Denkmäler der Baukunst und Monumente menschlicher Größe.

„Die Jahrhunderte werden über das Lager hinweggehen. Das Fleisch seiner Geopferten, dein Fleisch, wird verfaulen, und zurückbleiben wird nur die Absicht, der Glaube, der seine Schöpfer bewegte. Alles steht noch, Öfen, Schienen und Zäune – wie ein lebendes Museum, als wäre die Zeit ein Traum, und du würdest im nächsten Moment daraus erwachen. Auch die Pyramiden von Kanada sind noch da. Tonnenweise Schuhe, Brillen, Haarsträhnen – Touristen einer anderen Zeit werden sie betrachten, sie tun es bereits, fasziniert von der Größe der Henker und der Bedeutungslosigkeit ihrer Opfer.“

Im Reich der Pyramiden

Was die Person in dem Roman nun genau erlebt hat, setzt sich erst spät zusammen. Einen zentralen Wendepunkt hat die Erzählung an einer Stelle, in der der überraschende Anblick einer nackten Frau die Erinnerung an die zahllosen nackten Leichen hervorschießen lässt, die die größten der Pyramiden von Auschwitz bildeten, zwischen denen sie einige Jahre gelebt und Zwangsarbeit verrichtet hat. Den Leser٭innen, wie ihr selbst wird nun endgültig die Unfähigkeit weiterzuleben offenbar. Bilder der Leichenberge und Haufen von den Koffern der Deportierten, persönlichen Gegenständen und Wertsachen, die nach der Befreiung des Lagers vorgefunden wurden, sind heute vielen bekannt. Daran, dass Menschen, nicht nur deutsche Aufseher, auch Inhaftierte, jahrelang einen bizarren Alltag zwischen diesen Pyramiden führen mussten, deren eigene Arbeit aus dem Anhäufen dieser Berge bestand, erinnert Juan Gómes Bárcena in diesem Zusammenhang eindrücklich. Dafür, dass sie die Opfer eines monströsen Verbrechens sind und bleiben, aber sich, alleingelassen mit ihren Gedanken, auch selbst in Schuldgefühlen verlieren, findet er einen beklemmenden Erzählstil.

Unbehagen, Trauma, Nachhall

Dass die Vorgeschichte des Romans sich erst nach und nach zusammensetzt, ist eine Schwäche des Erzählstils, die Gómes Bárcena in Kauf nimmt: Hier wird eine Gefühlswelt nachvollzogen, über die die Leser٭innen beim Lesen die meiste Zeit nur sehr wenig wissen und die sie dennoch ständig auffordert, nachzuvollziehen, wie man selbst sich denn nun fühlen müsste. Das Buch zwingt uns als seinen Leser٭innen eine Rolle auf, über die wir aber lange nur wenige Informationen haben, zunächst bloß, dass wir in unsere Wohnung zurückkehren. Dann erhalten wir immer mehr merkwürdige Information über uns selbst, zum Beispiel, dass wir uns gewünscht hätten, sie wäre im Krieg zerstört worden. Dass der Nachbar die Wohnung, nachdem sie ausgeräumt wurde, mit gefundenen Möbeln neueingerichtet hatte, nehmen wir als weiteren Quell von Unbehagen auf.

In welchem Land die Wohnung sich befindet, warum wir deportiert wurden, welche Erfahrung wir im Konzentrationslager gemacht haben, warum uns nicht zuletzt das Gefühl der Scham umtreibt, setzen wir uns durch kleine Randinformationen zusammen. Den eigentlichen Konflikt während des Lesens nachzuvollziehen, wird dadurch fast unmöglich. Erst auf den letzten Seiten setzt sich alles vollständig zusammen, so als hätten wir es selbst eigentlich schon gewusst und verdrängt – und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum der Roman nach dem Lesen noch so lange nachhallt. Nicht nur erzählt Juan Gómez Bárcena in Kanada eine der abermillionen unerzählten und auch in der Erinnerungskultur wenig Gehör findenden Schicksale des Holocaust. Er zeigt einmal mehr die Dimensionen des Verbrechens auf.


Kanada von Juan Gómez Bárcena erschien 2018 im Secession Verlag für Literatur und hat 192 Seiten.

Der Spaß am Lesen

Spätestens seit seinem Mammutwerk, dem Roman Unendlicher Spaß, gilt der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace auch in Deutschland als literarischer Gigant. Sukzessive sind seine Werke posthum übersetzt worden, und nun ist in der deutschen Editionsgeschichte seines Œuvres ein Höhepunkt erreicht: Denn jetzt liegt auch die umfangreiche Sammlung sämtlicher Essays vor – ein vielseitiges, stilistisch hochwertiges und durch und durch humorvolles Werk, das Einblick in verschiedene Schaffensphasen und Topoi gibt. Der Spaß an der Sache heißt das von Ulrich Blumenbach herausgegebene Buch.


Vorab sei erwähnt: Editorisch gesehen ist der Band schon eine Besonderheit, denn er fasst die Übersetzungen von drei amerikanischen Essaybänden, und ist damit als einbändige komplette Sammlung ein großes Stück Editionsgeschichte – im Grunde ist diese Gesamtausgabe sogar den amerikanischen Fassungen überlegen.

Der Spaß an der Sache wiederum ist nicht chronologisch, sondern thematisch von Blumenbach untergliedert: in die Rubriken Tennis, Ästhetik, Sprache und Literatur, Politik, Fernsehen, Film und Radio, Unterhaltungsindustrie und alltägliches Leben. Damit ist dies wohl eine der vielseitigsten Sachtextsammlungen. Diese zeigt auch, dass David Foster Wallace über 20 Jahre hinweg ein wahrer Tausendsassa des New Journalism war, ob es sich nun um Auftragsarbeiten von Magazinen handelt, um Reden, Reportagen, Portraits oder eigenständige Reflexionen über den Wert literarischer Arbeit.

Der Autor hat beispielsweise für den Rolling Stone den Vorwahlkampf von John McCain im Jahr 2000, aber auch Radiomoderatoren, die als Hassprediger und Verschwörungstheoretiker fungierten, begleitet, hat ausführliche Rezensionen zum Verfall von Blockbusterfilmen verfasst, sich, schon bevor das Thema fancy wurde, zur Komik von Kafka geäußert, oder auch eine Luxuskreuzfahrt gemacht. All diese Texte weisen eine eigentümliche Ambivalenz auf: Einerseits versucht Foster Wallace wirklich ernsthaft, teilweise absurde Phänomene zu verstehen, nachzuvollziehen und gegen sie zu argumentieren – etwa bezüglich des Bedürfnisses der Superreichen auf einem Kreuzfahrtschiff mal zu entspannen, oder den seltsamen PR-Techniken und moralischen Abgründen von McCains und George W. Bushs Wahlkampfteam –, andererseits ergießt er sich häufig nur so vor höhnischem Witz und Biss.

Zwischen Philosophie und Atmosphärenerzählung

Gerade die Ironie, die sich hinter einer sehr atmosphärischen und bildhaften Erzählweise oder seinem Festklammern an kleinen optischen und eigentlich nebensächlichen Details verbirgt, sorgt dabei jedoch dafür, dass man zwar die Abneigung gegen bestimmte Akteure bemerkt, aber Foster Wallace dabei nie ausfallend oder beleidigend wird. Stattdessen muss man bei Der Spaß an der Sache häufig schmunzeln. Dennoch ist seine Ironie keinesfalls eine postmoderne Ironie, die sich von den beschriebenen Absurditäten abschotten und (pseudo-)cool bleiben will. Denn Foster Wallace nimmt immer Anteil und ist immer mitten im Geschehen. Alles macht er mit, alles wird beobachtet, erfasst und aufgenommen. Er berichtet mit Witz und Charme, ohne kulturrelativistisch, distanziert oder engagiert zu werden. Er hat einfach ein sehr glückliches Händchen, was es heißt, starke Positionen humorvoll und kritisch zugleich zu vertreten oder zu analysieren.

Und gerade durch seinem Fokus auf das Alltägliche, auf die kleinen Details seiner Erlebnisse, gelingt ihm eine enorme stilistische Vielfalt, die zu einer literarischen Aufwertung der Absurditäten des Alltags führt. Angereichert wird dies durch altmodische Gags, von denen er sich den einen oder anderen hätte sparen können, und unzähligen Gedankenschlaufen in Marginalien, Fußnoten und Fußnoten von Fußnoten. Gerade Letzteres hat bei seinen Texten ja Methode. Damit laviert Foster Wallace, wie auch Blumenbach im Vorwort bemerkt, stilistisch irgendwo zwischen komplexen philosophischen Diskussionen, anhand konkreter Objekte und präzisionsfrenetischen, oft auch unübersichtlichen Satzkonstruktionen. Einen größeren Wermutstropfen hat diese Methode dennoch: Indem er sich über zig Seiten hinweg etwa über Kollegen lustig macht, anstatt über das zu schreiben, worüber er und diese Journalisten eigentlich berichten, verliert er häufig den Überblick für das Wesentliche. Jegliche Filterfunktion – die doch, als die Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Informationen, ein, wenn nicht das entscheidende Element eines guten Journalismus‘ ist – ist bei Foster Wallace zugunsten der flüssigen Erzählung deaktiviert. Ab und an gehen so zentrale Thesen, sofern es diese überhaupt gibt, in der Detailliebe unter.

Auch wenn ich ihn, anders als der Mainstream der Literaturkritik, damit nicht für ein Literaturgenie halte (auch Unendlicher Spaß erscheint mir persönlich kaum zugänglich, geschweige denn spaßig), beziehungsweise solche Attribute zeitgenössischen Autoren ungern verleihe, so hat Foster Wallace immerhin mit seinen Essays und Reportagen bewiesen, dass er ein großer Könner des Unterhaltungs- und Kulturjournalismus‘ ist, einer, der aus dem Einfachen gute Literatur machen kann. Bei jemandem, der posthum dermaßen (und teilweise zu Recht) gefeiert wird, sind die Abgründe natürlich nicht weit weg: Schon 2009 warf ihm seine Ex-Partnerin, die Schriftstellerin Mary Karr, vor, er habe sie gestalkt und sei gewaltbereit gewesen. Das tut natürlich seinem literarischen und journalistischen Werk keinen Abbruch, seiner Person jedoch sehr wohl – ein Unterschied, der in Zeiten von #Metoo auch den führenden Feuilletons gerne abhandenkommt.

Der Spaß an der Sache enthält alle Essays von David Foster Wallace in Übersetzung von Ulrich Blumenbach, der den Band auch herausgegeben hat, und Marcus Ingendaay. Die Sammlung erschien am 16. August 2018 bei Kiepenheuer & Witsch und hat 1.087 Seiten.

Coverbild: © Kiepenheuer & Witsch

Benedict Wells und die Angst vor dem Unerzählten

Leser٭innen und Kritiker٭innen lieben den Bestsellerautor Benedict Wells. Kein Wunder, schließlich hat er immer wieder Beeindruckendes abgeliefert. Doch sein neues Werk „Die Wahrheit über das Lügen“ offenbart eine Schwäche.


Benedict Wells bezeichnet sie liebevoll als „Mixtape“ – seine Kurzgeschichtensammlung, die im August im Diogenes Verlag erschienen ist. Eine recht passende Bezeichnung, denn die zehn Geschichten zusammengefasst unter dem Titel „Die Wahrheit über das Lügen“ haben wenig gemein: Sie alle stammen aus unterschiedlichen Jahren, ihre Themen könnten verschiedener nicht sein und auch der Erzähl- und Schreibstil variiert von Geschichte zu Geschichte. Da liegt der Verdacht nahe, dass hier Material, das sich über Jahre angesammelt hat und in der Schublade gelandet ist, irgendwie mal den Weg in die Öffentlichkeit schaffen sollte. Eine gute Idee?

Kein Ende der Einsamkeit

Die Antworten auf die Frage würden so unterschiedlich ausfallen wie die zehn Geschichten selbst. Fest steht jedoch: Das, was Wells mit seinem zu Recht gefeierten Werk „Vom Ende der Einsamkeit“ gelungen ist, schafft er mit diesem Buch nicht noch einmal. Nun werden einige denken: „Naja, einen Roman und einen Erzählband kann man ja auch nicht vergleichen!“ Der Vergleich aber enthüllt einen Aspekt, der „Vom Ende der Einsamkeit“ so groß gemacht hat – und zeigt eine große Schwachstelle bei „Die Wahrheit über das Lügen“ .

Eine Anleitung zum Berührtsein

Wells ist dafür bekannt, dass er sich für das Innenleben seiner Figuren interessiert, ihre Emotionen und Gedanken erforscht – und das in Bezugnahme auf ihre Vergangenheit, ihre Erfahrungen. So auch bei „Die Wahrheit über das Lügen“. Leider neigt Wells hier dazu, zu viel zu erzählen. Ganz so, als habe er Angst, die Geschichten würden zu kurz, wenn er nicht alles von vorne bis hinten auserzählte. Dabei wäre „Hunderttausend“ – die Kurzgeschichte über einen jahrelang gereiften und nie ausgesprochenen Vater-Sohn-Konflikt – viel stärker und berührender, wenn nicht jede innere Regung des Protagonisten detailliert beschrieben und analysiert werden würde. Wells lässt hier keine Leerstellen, keinen Interpretationsspielraum für die Leser٭innen. Fast scheint es, als wolle er ihnen vorgeben, wie sie sich während des Lesens fühlen sollen.

Kitschige Outtakes

Dabei haben es die Geschichten gar nicht nötig. Denn die Plots sind so angelegt, dass die Geschichten auch mit Unerzähltem funktionieren würden – und das sogar besser. Nicht nur deswegen ist eine der besten Kurzgeschichten „Ping Pong“. Hier ist die Ausgangssituationen der zwei Figuren so wenig nachvollziehbar (Denn wie fühlt man sich wohl, wenn man von Unbekannten entführt und, ohne zu wissen warum, in eine Zelle mit einer Tischtennisplatte gesperrt wird?), dass hier die Beziehung der beiden und ihr Handeln fast wie in einer Sozialstudie im Fokus stehen. Das tut der Geschichte gut und tröstet die Leser٭innen fast über die ihr vorangegangene Geschichte „Die Muse“ hinweg.

Denn während des Lesens dieser Kurzgeschichte könnte bei den Leser٭innen der Verdacht entstehen, diese stamme gar nicht aus der Feder Wells, sondern aus der von Marc Levy. So liest sie sich fast wie Outtakes aus „Solange du da bist“. Zumal Wells hier mit altbekannten Hollywood-Motiven experimentiert und dabei fast ins Kitschige abrutscht.

Das erzählte Unerzählte

Apropos Outtakes: Zwei Kurzgeschichten – „Die Nacht der Bücher“ und „Die Entstehung der Angst“ – waren einst Teil des gefeierten Romans „Vom Ende der Einsamkeit“, wurden aber noch im Schaffensprozess herausgestrichen. Mit dem Erzählband haben sie es nun doch in die Öffentlichkeit geschafft. Aber warum? Lebt nicht eben jener Roman auch vom Unerzählten, vom Unerklärten? Davon, dass die Leser٭innen nicht die Vergangenheit von Jules’ Vater kennt? Davon, dass den Leser٭innen nicht jedes Detail bekannt ist? Ist das nicht gerade die Stärke des Romans? Vor beiden Kurzgeschichten erklärt sich Wells und ordnet sie in den Romankontext ein, macht deutlich, dass er sich von diesen Schriftstücken nicht recht trennen konnte. Das alles ist ein bisschen so, als schaue man hinter die Theaterkulissen oder bei einem Filmdreh zu. Es zerstört so manche Illusionen und schmälert ein wenig den Zauber um seinen großartigen Roman.

Keinen Mut zur Lücke

Das alles klingt negativer als es soll. Schließlich lesen sich die Geschichten gut. Und die namengebende Kurzgeschichte „Das Franchise oder Die Wahrheit über das Lügen“ ist ein spannendes Gedankenexperiment, bei dem Wells mit den Namen und Geschichten echter Menschen hantiert, „Mutig, mutig“, mögen da einige Leser٭innen denken.

Aber tatsächlich bleibt am Ende dann doch dieser Beigeschmack, dass der Erzählband veröffentlicht wurde, um etwas zu veröffentlichen. Und offenbart damit den fehlenden Mut zur Lücke. Der Mut, den Leser٭innen Leerstellen zu hinterlassen, die sie mit eigenen Interpretationen füllen dürfen. Und der Mut, Herausgestrichenes als das zu sehen, was es ist: etwas, das nicht erzählt werden wollte oder erzählt werden sollte, um den Zauber des Unerklärten wirken zu lassen.

Die Wahrheit über das Lügen von Benedict Wells erschien am 29. August 2018 im Diogenes Verlag und hat 256 Seiten.

A Fitting Celebration of Revolution – Tariq Ali’s “Dilemmas of Lenin”

Tariq Ali offers a nuanced centenial hommage to the first leader of the Soviet Union and the struggles of socialism in “Dilemmas of Lenin”.

by Nicholas Babakitis

Particularly in the English speaking, western world, impressions and opinions of Vladimir Lenin over the past century have typically fallen into two, very problematic camps: the rather uncritical Marxist love to near worship of him, or the Liberal, typically ahistorical and overly critical hatred of the first dictator of the USSR. Tariq Ali’s book, “The Dilemmas of Lenin,” takes this centurial anniversary of one of the 20th century’s most defining moments and contextualizes the events around 1917 while retaining Ali’s clear admiration for the monumental figure and accomplishments of Lenin throughout his lifetime.

In the rather typical Marxist lens of Historical Materialism (although never explicitly addressed), Tariq Ali builds a landscape for the figure of Lenin through the historical challenges and upheavals the man himself experienced as a product of Imperial Russia in the late 19th and early 20th centuries. This work is by no means strictly a biography of the man Vladimir Lenin, although he is clearly its central figure and his personal biography greatly shaped him into the great revolutionary of his time. Rather, “The Dilemmas of Lenin” brings together Russian history and attitudes of past and present, and offers a somewhat critical, yet unapologetically jubilant and Marxist outlook on the dilemmas faced by the first leader of the first socialist republic.

Anyone who has even begun to scratch the surface of Russian history knows that political struggle, revolution and radical displays of violence seem to be commonplace in the years leading up to the events of February and October 1917, and Ali’s story of Lenin begins in this chaotic Russian Empire of conflicting ideas of modernity seeped in barbaric old-world attitudes, rabid anti-Semitism and terroristic outbursts against a monarchy which tend get glossed over in Liberal accounts of pre-Soviet Russian history. In this quasi-post-feudal empire is where a young Vladimir Lenin begins to take shape politically and ideologically.

Tariq Ali quickly glosses over Lenin’s rather non-rebellious childhood in a conservative-liberal household, yet takes exceptional care of depicting young Lenin’s relationship to his older brother, Sasha, who’s execution after an assassination attempt of Tsar Alexander III in 1887 thwarted Lenin into revolutionary movements slowly transforming him into the leader he would later become. While Lenin never officially joined the anarchist group “People’s Will” (Narodnaya Volya) his brother Sasha had been member of, Lenin’s contact with terrorist tactics and their abysmal failures through the 19th century greatly shaped him in his early political radicalism. His journey, discovery and adaptation into Marxist thought could not have happened without these radical, albeit impractical roots.

From Lenin’s introduction into radical revolutionary thought to the events in 1917, Lenin finds himself amongst a myriad of socialist thought, debate and political action internationally. While Tariq Ali extensively touches on Lenin’s role in Marxist internationalism during his lifetime, the history of socialist thought birthed through revolutions in Europe predating Lenin offers the appropriate backdrop when Lenin and his chapter in Marxist and socialist ideas truly take shape. Ali throughout the book maintains the theme of building histories in which Lenin is a part of rather than simply building histories around Lenin. Lenin’s actions, ideas and relationships are historical in their construction and execution, not simply a whimsical product of another “great man” telling of history.

Lenin’s accomplishments and contributions are not simply looked upon in a vacuum of his greatness, rather are contextualized are placed alongside socialist contemporaries the likes of German communist Rosa Luxemburg, the first American socialist presidential candidate Eugene V. Debs, and the various internationalist workers organizations around Europe and the United States during his lifetime. Tariq Ali’s Lenin is shown as a piece of this vast network in the “hobgoblin” (the original English translation of “specter” in the first line of the Communist Manifesto) stalking throughout Europe in the 19th and early 20th centuries soon to create quite a ruckus in Europe’s poorest empire.

In the events of 1917, Ali, as well as plenty before him, paint Lenin as the master strategist of the mass organ of revolution organizing and fine-tuning the pro-soviet propaganda, being cast into exile, the infamous “sealed train” and his return to Russia eventually toppling the provisionary government in Petrograd October 25, 1917 (November 7 in the Gregorian calendar). What Tariq Ali nicely adds in a story about the man Lenin is introduce the reader, if unfamiliar, to the vast array of often unsung female* socialists of the Revolution. While Liberals typically downplay the role of the emancipation of women’s rights after the Russian Revolution in 1917, the expansion of rights to women and projects lead by women in attempting to lift women out of literal sexual slavery in some of Russia’s most patriarchal pockets of the former empire could not have been possible without the work of women from Europe and the local Muslim communities seeking their own emancipation through revolutionary actions.

With the newly formed Russian Soviet Republic (USSR in 1922) being attacked by the Entente and their backed “White” forces and Lenin’s health and the economic situation dwindling directly in the aftermath of the Russian Civil War, Ali’s depiction of the mobilization of War Communism and the aftermath are sobering and very well-aware of the situation which lay before. Power insulated centrally in a time of life or death for the new nation barely upon its own feet becomes the framework for Lenin’s infamous successor Joseph Stalin, a hero of Russian President Vladimir Putin and has seen a resurgence in popularity and admiration amongst Russians in recent years.

The 1930s in the Soviet Union will see brutal repressions of basic rights, mass starvations, deportations and industrialization at all costs. As China Mieville beautifully asks in the epilogue to his book “October,” “Is the Gulag the telos of 1917?” This question has plagued history, Marxism and the attitudes towards socialism in the Western world since and does not seem to be answered anytime soon. However, Tariq Ali gives the reader a nuanced depiction of history, socialism and revolution which will certainly not disappoint those looking for a great read during this centennial anniversary and surely give the reader a sense of positive vicarious leftist nostalgia.


Nick Babakitis

Originally from Phoenix, Arizona, Nicholas Babakitis currently lives in Berlin and attends the John F. Kennedy Institute at the Freie Universität Berlin. He has his BA in History and Political Science from Arizona State University. He is a fan of science fiction, cats, pizza and enjoys impersonating Slavoj Zizek… poorly.

 

 

cover photo: © Wikimedia Commons

14 Facetten – Das Kinderbuch-Special

Kinderbuch Rezensionen

Was es zwischen 100 Märchen und 1001 Büchern zu entdecken und übersehen gibt, kann ein kleiner Rundblick in die Kinderbuchlandschaft beleuchten. Da sind Bücher über Bücher, die Kinder ruhigstellen, übers Blaumachen, akute Lerngefahren, das Wunder Geduld, Frösche, Bären, Katzen, Fische, Füchse, Mäuse, Hunde, Mikroben – und Bücher, die Kinder so abholen, wie sie sind: verrückt. Im Folgenden seien 14 Bücher vorgestellt – 13 Kinderbücher und 1 Meta-Kinderbuch. Fangen wir doch mit Letzterem an:


Auf die Plätze … fertig … Lies!

Julia Eccleshare (Hrsg.) – 1001 Kinder- und Jugendbücher – Lies uns, bevor Du erwachsen bist!

Nach „1001 Filme, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Bücher, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Alben, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Gemälde, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Weine, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Zitate, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“, „1001 Löcher, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“ u. a. wird die Kunstdruckschraube noch fester zugedreht, denn hier sind sie: die „1001 Kinder- und Jugendbücher“, welche verschlungen werden wollen, bevor das echte Leben (Kindheit, Jugend) vorbei ist und das Pseudo-Leben (Studium, Arbeit) beginnt. Für die meisten von uns dürfte der Zug ein bisschen abgefahren sein, für einige jedoch besteht noch Hoffnung. Ja, die Aufforderung ist erneut alles andere als nah am Realismus gebaut, denn außer Kunstrezeption muss der (heranwachsende) Mensch jede Menge Zeit dem Essen, Schlafen, Chatroulette und diversen WC-Besuchen widmen. Aber wahr ist: Nie mehr wird man so viel Zeit haben für Lesen und Bildung wie in der Kindheit und Jugend. Also, ran an das gute Buchfleisch, und los geht’s mit zahlreichen Entdeckungen.

Wie auch die anderen Titel aus der vom Londoner Verlagshaus „Quintessence Editions“ initiierten 1001-Reihe wartet dieses nach Lesealter und Erscheinungsdatum geordnete Empfehlungs- und Nachschlagewerk mit einer erstklassigen Aufmachung und viel Inhalt auf. Man entdeckt zahlreiche Titel, die man dort vermutet hat (Dr. Seuss, J. K. Rowling), natürlich die eine oder andere Überschneidung mit dem Weltliteraturkanon (Defoe, Twain, Kipling, Quinoa, Haddon) – wenn man also alle 1001 Bücher aus „1001 Bücher, die Sie riechen sollten, bevor das Leben vorbei ist“ gelesen hat, dann muss man hier nur noch etwa 930 nachholen –, aber auch (Nahezu-)Geheimtipps, was zu den großen Stärken dieser Reihe gehört. Denn bei „1001 …“ wird zum Glück nicht nur das Offensichtliche abgedeckt, sondern auch ein Profi-Auge auf das mehr oder minder Obskure geworfen. Ich jedenfalls habe mir fest vorgenommen, bei der nächsten Gelegenheit (also wahrscheinlich nie) folgende Autoren abzuchecken: Andy Griffiths, Anne Fine, Barbara Euphan Todd, David McKee, David Wiesner, John Burningham, Judith Kerr, Jutta Richter, Madeleine L’Engle, Mo Willems, Paul Jennings, Petra Mathers, Raymond Briggs, Spike Milligan, Walter Benjamin, Werner Holzwarth.

Was mir persönlich fehlt, sind ein paar mehr Empfehlungen aus östlicheren Ländern wie etwa Russland. Russland hat ja nicht nur bizarre Präsidenten und mit unmöglich starken Akzenten sprechende Filmschurken, sondern auch Kinderbuchklassiker (Marschak, Uspenski, Oster) zu bieten, die das vorliegende Werk sicher aufgewertet hätten. Aber wie dem auch sei – dies hier ist ein sehr lobenswerter Schinken für Eltern, Kinder und Jugendliche mit Qualitätsbewusstsein und Carpe-diem-Ambitionen – aber bitte nicht aufs Schulbrot.

„1001 Kinder- und Jugendbücher“ erschien 2010 bei Edition Olms

Professione: Ascensore

Kätlin Vainola und Ulla Saar: „Lift“

Der Lift ist „sehr glücklich“, heißt es gleich zu Beginn, denn er macht das, was er am besten kann: Hausbewohner befördern. Der als Gastgeber fungierende Aufzug macht den Leser nach und nach mit den unterschiedlichen, recht schrägen Charakteren bekannt.

Zunächst wäre da Frau Oktopus, die in ihrem Swimmingpool lässig „H2O“ schlürft, wenn sie nicht gerade dabei ist, mit ihrer Wäsche auf dem Dach abzuhängen. Im zweiten Stock residieren zwei dauerkichernde Eichhörnchen, denen gemeinsames Nüsseschmeißen am meisten Spaß bereitet. Herr Giraffe aus dem dritten Stock ist sehr schüchtern und verschämt ob seines langen Halses. Für den Lift rollt er den immer höflichst ein, draußen muss er ihn aber wieder aufknoten, weil er als Stadtgärtner beruflich mit Bäumen zu tun hat. Im vierten Stock wohnt Känguru, der im Wald Langstreckenlauf trainiert. Warum er dabei Boxhandschuhe anhat, weiß vielleicht nicht einmal er selbst. Der Igel aus dem fünften Stockwerk trägt nicht nur ein schickes „Igel sind spitze!“-Shirt, sondern ist auch sonst ein völliger Hipster. Sein Beruf ist Reporter, aber seine Leidenschaft gilt eindeutig der Rockmusik, weshalb man ihn nie ohne Kopfhörer und Luftgitarre antreffen wird. Im sechsten Stock schließlich haust ein Turteltäubchenpärchen: Herr Taube ist als Brieftaube tätig, während Frau Taube sich täglich in vertrauter Lästerrunde zu Kaffeekränzchen einfindet.

Nach einem dermaßen erfüllten und nicht unanstrengenden Tag voller Passagiere hat sich der Lift natürlich ein kleines Nickerchen verdient und legt sich schlummern.

Dieses zugleich wunderbar unaufgeregte wie originelle Büchlein zeigt wieder einmal eindrucksvoll, welche Kunst und Kreativität aus Estland und vergleichbaren „Geheimtipp-Ländern“ kommt. Richtung Osten muss unbedingt weitergeforscht werden.

„Lift“ erschien 2015 bei Willegoos.

Alles (bzw. nix) für die Katz

Emily Gravett – Mathildas Katze

Das Besondere an dieser warmherzig gezeichneten und erzählten Geschichte ist, dass sie den kleinen Leser ein bisschen in die Irre führt. Erst heißt es: „Mathildas Katze mag mit Wolle spielen.“ Aber auf der nächsten Seite ist „mit Wolle spielen“ durchgestrichen, und stattdessen steht „Kisten“. Aber auf der nächsten Seite ist „Kisten“ durchgestrichen, und stattdessen steht „Dreirad fahren!“, und so weiter. Bald regt sich ein Verdacht: Was, wenn Mathildas Katze nichts von alledem mag, zumal sie auf den Bildern von ihren angeblichen Lieblingsbeschäftigungen (verrückte Hüte und Kaffeekränzchen könnten ihr ebenfalls, scheint es, egaler kaum sein) geradezu angewidert wegläuft wie der Vampir (Klaus Kinski) von Vin Helsing (Werner Herzog)? Tatsächlich stellt sich am Ende heraus, dass Mathilda, ihrerseits stets in einem Katzenkostüm unterwegs, das Einzige ist, was Mathildas Katze wirklich mag.

„Mathildas Katze“ erschien 2014 bei FISCHER Sauerländer.

Wenn’s um Buch geht … Nachbar

Koen Van Biesen – „Mein Nachbar liest ein Buch“

Das Mädchen nebenan spielt Basketball, singt, trommelt, boxt – und treibt damit den feinen Nachbarn, der es nicht recht schaffen kann, sich seinem Buch zu widmen, in den Wahnsinn. Immer wieder steht der Nachbar auf und klopft an die Wohnungstür des Störenfrieds, um das Hauptmotto der Geschichte durchzusetzen: „Pssssst! Der Nachbar liest. Der Nachbar liest ein Buch.“ Bis die Konzentration irgendwann hin ist. Also ändert er seine Taktik und schenkt dem Mädchen ein Buch. Als sie es auspackt, ist endlich Ruhe eingekehrt und der Nachbar kann sich in seine Lektüre vertiefen. Bis Nachbars illiterater Hund zu bellen anfängt.

Eine vor allem grafisch ausgezeichnete Geschichte, die mit ihrem individuellen Zeichenstil den Kindern eine wichtige Lektion beibringt – nämlich dass Lesen nicht zum Uncoolsten gehört, was man in seiner Freizeit machen kann. Und wenn selbst irgendein blöder Nachbar so auf Bücher abfährt, dann sollte das doch für dich gar kein Problem sein, Kleine(r)!

Eine Besonderheit hat das Buch noch in Form der beiliegenden CD zu bieten, auf der sich eine verspielt-jazzige Hörspiel-Interpretation der Geschichte findet, komponiert und eingespielt von Autor plus Band.

„Mein Nachbar liest ein Buch“ erschien 2014 bei mixtvision.

Sei kein Frosch-, sondern Märchenking

Daniela Drescher (Ill.) – Die 100 schönsten Märchen der Brüder Grimm

Wer kennt sie nicht: „Der Froschkönig“, „Der gestiefelte Kater“, „Dornröschen“, „Fando y Lis“, „Jorinde und Joringel“ … was bitte? Das kennt sogar die Uroma nicht. Und selbst, wenn dem Kind schon einige davon bekannt sind, steht einem Lese- und Guckvergnügen nichts im Wege. Aus den Grimm’schen „Kinder- und Hausmärchen“ wurden viele berühmte und einige obskure Texte ausgewählt und mit den wunderbar farbenfrohen, nicht selten zauberhaften Illustrationen von Daniela Drescher versehen. Ihre im besten Sinne des Wortes altmodisch-seelenvollen Bilder stellen ein wertvolles, vor allem vom Nachwuchs vielleicht nicht bewusst, aber umso dringender gebrauchtes „Gegengewicht zu dem Nüchternen, Hektischen unserer heutigen Zeit“ (Vita der Künstlerin) dar. Einige sind sogar ziemlich düster und ein wenig gruselig (etwa bei „Der Gevatter Tod“), was aber mit der grundsätzlichen Affinität so mancher Märchentexte zu Grausamkeit und Groteske übereinstimmt und bei Kindern einen nachhaltigen, hoffentlich reparablen Eindruck hinterlassen dürfte.

Wichtig wäre noch zu erwähnen, dass es sich hier primär um ein Text- und kein Bilderbuch handelt, sodass es mehr etwas für fortgeschrittene Leser ist.

„Die 100 schönsten Märchen der Brüder Grimm“ erschien 2016 bei Urachhaus.

Rex regi piscis

Imapla – Der König der Meere

Der König der Meere muss, wie sich bald in diesem hübschen, aber doch sehr schnell ausgelesenen Pappbilderbuch der spanischen Kinderbuchautorin Inma Pla (= Imapla) herausstellt, seinen Titel gegen den bereits hinter der nächsten Koralle auflauernden Gegner verteidigen. Erst ist es ein Fischchen, das ein offenbar viel zu harmloses „Blubb Blubb“ von sich gibt. Das war leider etwas unambitioniert bis grob fahrlässig, denn ein Räuber stößt den König mittels Auffressen von der Pole-Position, wobei er peinlich darauf bedacht ist, die Krone nicht mitzuvertilgen. Doch dann tappt er in dieselbe Blubb-Blubb-Hybrisfalle wie sein als ex-königliche FIFU (Fisch-im-Fisch-Untermenge) vorliegender Vorgänger und wird mit einem beherzten „Happs“ von einem noch größeren Fisch absorbiert. Was danach passiert, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, nur so viel sei gesagt: Die nette Pointe hat etwas mit fraktalem Crowdfunding zu tun, womit selbst der sich als unbezwingbar gerierende Riesenfisch nicht gerechnet hat.

„Der König der Meere“ erschien 2016 bei FISCHER Sauerländer.

Ausgeganst

Sebastian Loth – Der Fuchs, der keine Gänse beißen wollte

Passend zur WHO-Verkündung von Fleischlechtigkeit will Jakob, der kleinste Fuchs im Wald, nimmer Gansivore sein und Gänsemarmelade mampfen, wie es von seinesgleichen erwartet wird, denn „er hatte im Sommer mit der kleinen Gans aus dem nahegelegenen Gemüsebeet Fangen gespielt und ihr dabei aus Versehen leicht in den Hintern gebissen. Das hatte ganz zäh und trocken und pelzig auf der Zunge geschmeckt.“ Also macht er sich auf die Suche nach vegetarischen/veganen Alternativen: An den Mirabellenkernen beißt er sich dabei allerdings fast die Beißerchen aus, und statt in den Genuss von Him- und Brombeeren zu kommen, kommt ein Bär beinahe in den Genuss von Jakob. Doch schließlich verrät ihm ein Schmetterling den Geheimtipp schlechthin, nämlich Blümchen, genauer: Gänseblümchen.

Sebastian Loths Geschichte überzeugt mit charmantem Witz und skurrilen, kontrastreichen Zeichnungen, die nicht nur (Kleinst-)Kinderaugen zum Leuchten, Gebanntsein und Grinsen bringen. Und zum Schluss gilt es sogar, ein Rezept für einen Gänseblümchen-Brotaufstrich nachzubauen.

„Der Fuchs, der keine Gänse beißen wollte“ erschien 2015 bei Lappan.

So ein Unsens aber auch

Grigorij Oster – Petka, die Mikrobe

Weil Kinder, insbesondere Kleinkinder, von Natur aus verrückt sind, sollten sie auch unbedingt verrücktes Nonsinnszeug zu lesen bekommen – wie beispielsweise Grigorij Osters vorliegendes Werk. Hier berichtet der kultige Kinderautor aus Grusel-Russland von den vielen kleinen Abenteuern, welche Peter (bzw. Pet(ь)ka), eine schlau-freche Mikrobe mit Brille, unternimmt. Da Osters Humor gut angeschrägt und reichlich albern daherkommt, gibt es unter anderem eine Jagd nach einem bissigen Elementarteilchen namens „Babytron“ sowie wissenschaftliche Diskussionen mit Anginchen, die – Halsschmerz lässt grüßen! – bemerkenswerterweise im „dritten Eisbecher“ residiert. Petkas Tante ist beim Militär und trägt eine entsprechende Uniform. Das ist natürlich kompletter Unfug, weil Mikroben keine Militärlaufbahn anstreben können. Und Petkas Onkel ist gar ein überzeugter Mutant, der nicht aufhören kann, seine Form und Frisur zu ändern, von dem Stirnbart ganz zu schweigen. So ein Quatsch.

Nur an einer Stelle wird es ansatzweise sinnvoll, als nämlich die Pendelfähigkeit von Petkas großem Bruder, der in der (Sauer-)Milchfabrik arbeitet – Petka hingegen ist mehr der „Kefir guy“ – und täglich mit dem Bus dorthin fahren muss, angezweifelt wird. Wie zum Kuckuck soll denn so ein kleiner Mann überhaupt so eine riesige Fahrkarte dem Kontrolleur vorzeigen können? Aber dann ist doch alles nicht so wild und man legt gemeinsam fest, dass das Erkennen des Fahrkartenbesitzers mit bloßem Auge zweitrangig ist, solange die Fahrkarte selbst anständig dimensioniert ist. Dennoch: was ein Blödsinn!

Alexander Strohmaiers Illustrationen von Anginchen mit Wintermütze oder fieszahnigen Babytrons sind übrigens nicht nur schön bunt, sondern teilweise auch picassomäßig, was sehr ansprechend ist. Dieses Buch ist ebenfalls wunderbar für bescheuerte Erwachsene geeignet, die nicht zu viel Wert auf den sogenannten „Ernst des Lebens“ legen. Wie ernst kann schon Leben sein, wenn es Mikroben namens Petka gibt?

„Petka, die Mikrobe“ erschien 2011 bei Edition Liaunigg.

Wenn’s um Buch geht … Bären

Peter Carnavas – Oliver, Bär und das Buch

Oliver möchte mit seinem bebrillten Kumpel Bär spielen, aber Kumpel Bär ist vollkommen in ein Buch vertieft. Oliver fängt an, sich zu langweilen, und nervt Bär mit Papierflugzeugen, macht seinen Stuhl kaputt und kippt sogar klebrigen Brei auf seinen Kopf. Aber Bär bleibt tiefenentspannt und liest unbekümmert weiter. Erst als Oliver dem Bären sein Buch aus den Pfoten schnappt, dreht dieser durch. Aber nur kurz, denn die beiden Freunde versöhnen sich schnell – und nun ist Oliver (SPOILER ALERT!) derjenige, der die Augen nicht vom Buch loskriegt.

Eine etwas unspektakuläre, aber pädagogisch wertvolle Geschichte, die den Kindern eine wichtige Lektion beibringt – nämlich dass Bücher „bärenstark“ sein können. Und wenn selbst ein Bär, der normalerweise mehr an Honig- denn Buchstabenlese interessiert ist, so auf Bücher abfährt, dann sollte das doch für dich gar kein Problem sein, Kleine(r)!

„Oliver, Bär und das Buch“ erschien 2015 bei Lappan.

Das Wunder Geduld

Julie Fogliano und Erin E. Stead Und dann ist Frühling!

Hier wird Melancholie großgeschrieben: Ein Junge und sein Hund beobachten das gräuliche Braun des Herbstes und Winters. Samenkörner werden ausgesät, aber noch sieht es nicht unbedingt nach viel aus. Obgleich sich allmählich ein „hoffnungsvolles, vielversprechendes Braun“ herauskristallisiert. Doch Voreile ist hier fehl am Platz, denn glaubt man ein Grün auszumachen, so muss man doch bald enttäuscht feststellen, dass es eher ein „‚Nein, einfach nur Braun’-Braun“ ist. Zur Sicherheit stellt man ein Schild auf: „Bitte nicht herumtrampeln: Hier gibt es Samenkörner, die sich gerade versuchen.“ Es passiert immer noch nichts. Man fängt an, sich Sorgen zu machen. Ob die Natur je wiederkommt? Dann ist wieder Schnee. Und Regen. Und dann, eines unverhofften Tages, ist plötzlich … alles grün!

Eine ehrliche und herzliche Geschichte in warmen Tönen, die auch Erwachsene zu berühren weiß.

„Und dann ist Frühling!“ erschien 2015 bei FISCHER Sauerländer

Une Couleur: Bleu

Ann Cathrin Raab – Lenni mag Blau

Warum sind Tiere eigentlich immer so verdammt putzig und süß? Vielleicht, weil sie weniger können als wir Menschen. Doch das, was sie können, können sie richtig gut – zum Beispiel putzig und süß sein. Sie ziehen halt ihr Ding voll durch.

Wenn Lenni ein Mensch wäre, dann würde man ihn aufgrund seiner Fixation sicher irgendwo auf dem autistischen Spektrum wiederfinden. Doch zum Glück ist Lenni ein kleiner Mäuserich und als solcher in erster Linie niedlich. Es ist nämlich nicht Ferris, der blau macht, sondern Lenni, der Blau mag. Das cyanophile Mäuschen lebt in einer minimalistsichen Farbfleckenwelt, die ein wenig an das feine Design des Indie-Games „Blueberry Garden“ erinnert, und steht mächtig auf die Farbe Lila … Blau. Aber genug der gschupften Filmverweise – worum gehts in Ann Cathrin Raabs wunderschönem Bilderbuch für die ganz Kleinen eigentlich? Wie bereits angedeutet, fühlt sich Lenni durch jene Farbe mit einer Wellenlänge zwischen 400 und 500 Nanometern ästhetisch zutiefst angesprochen. Zugegeben, Blau ist richtig schick. Daher macht Lenni erst seinen Zaun blau, dann den Baum, auch Wolken – eigentlich macht Lenni auf seine Weise doch ganz schön blau. Irgendwann ist alles komplett blau in blau. Ist der kleine Eigenbläudler nun im Paradies angelangt? Leider nö, wie er bald ziemlich blue aus der Wäsche schauen muss. Denn Blau kann nur dann seine Lieblingsfarbe sein, wenn auch andere Farben das Universum bereisen und durch ihre Nichtblauität dem Blau seine ganze B(l)e(u)sonderheit verleihen. Ansonsten findet nämlich Ennui statt. Wieder was gelernt.

„Lenni mag Blau“ erschien 2010 im Thienemann Verlag

Vorsicht: Akute Lerngefahr!

Susanne Riha Tiere entdecken in ihren Verstecken

Dieses lehrreiche Buch über die Lebens- und Arbeitsweise verschiedener Waldtiere ist für etwas ältere Kinder, aber auch jüngere Erwachsene: Zum ersten Mal lernt man als zoologisch ungebildeter Rezensent vom Schwalbenschwanz und der Haselmaus, die besonders gerne Brombeeren und Haselnüsse frisst. Und dass der Maulwurf sich von Engerlingen ernährt. Und und und. Das Besondere sind auch die aufklappbaren Halbseiten, die unter die Erdoberfläche oder hinter eine Baumrinde blicken lassen, um so auch unsichtbare Vorgänge oder Lebensräume (Wildkaninchens Setzhöhle etwa) zu veranschaulichen. Detaillierte und farbenfrohe Zeichnungen begleiten das Kennen- und Schätzenlernen des jeweiligen Tieres und seiner wunderbar putzigen Eigenheiten. Der Schwanz des Bibers heißt „Kelle“.

„Tiere entdecken in ihren Verstecken“ erschien 2015 im Verlag Annette Betz.

Bärissimo

Sophy Henn – Ein Platz für Bär

Ein kleiner Weißbär lebt bei einem Jungen und tut, was getan werden muss, nämlich größer und größer (und größer) werden. Unausweichliche Folge: Eines Tages ist der Bär „einfach zu groß und zu bärig geworden“ – und der Junge will für seinen Freund ein entsprechend bärenmäßiges neues Zuhause finden. Doch weder Spielzeuggeschäft noch Zoo kommt in Frage, weder Zirkus noch Wald, weder Dschungel noch Kühlschrank … doch! Der Kühlschrank, genauer: die Arktis, stellt sich als genau das Richtige für den weißen Riesen heraus. Dort fühlt sich der Bär gleich heimisch, gründet eine Familie und wird glücklich. Doch der Kontakt zwischen den beiden bricht nie ab, denn wozu gibt es telefonbeschichtete Bratpfannen?

Eine humorvoll ge(kenn)zeichnete Geschichte für Jung & Älter.

„Ein Platz für Bär“ erschien 2015 im Verlag Annette Betz

Go Estland

Andrus Kivirähk und Anne Pikhov – „Frösche küssen“

Nach einem anständigen Einkauf kehrt der Weihnachtsmann in seiner Einmotorigen zum Nordpol zurück. Dabei fallen ihm aus dem gewaltigen Geschenkesack ein paar Märchenbücher heraus. Der Brummbär Petz bekommt von dem herunterplumpsenden Buch gar nichts mit, weil er total tief schläft. Der Hase kriegt einen tierischen Schreck, weil ein Buch seine Möhre halbiert. Was aber halb so schlimm ist, denn das Geschoss stellt sich sogleich als spannende Lektüre und die Möhrenhälfte als ideales Lesezeichen heraus. Das dritte Buch landet in der Badewanne des Fuchses, der, statt die Dusche abzustellen, lieber zum Regenschirm greift, um in Ruhe zu schmökern. Das vierte Buch lässt den Wolf mit seinem Fahrrad gegen einen Baum knallen. Die genannten Tiere haben eines gemeinsam: Von einem ganz bestimmten, hier aber nicht weiter gespoilerten Märchen inspiriert, wollen sie einen Frosch durch gezielten Kuss in eine Prinzessin verwandeln und sind bereits unterwegs zum nahegelegenen See. Dort sitzen „drei kleine Froschmädchen, die alle ein sauberes Röckchen“ anhaben. Der minimal irritierende Hinweis auf deren Reinlichkeit ist nicht weiter von Bedeutung, denn einen Froschjungen, welchen sie damit zwecks gemeinsamen Tanzens beeindrucken könnten, scheint es nicht zu geben. Stattdessen werden sie jeweils vom Hasen, Fuchs und Wolf geküsst – was wider Erwarten die Kussgeber in Froschjungen verwandelt. Am Ende darf also doch noch getanzt werden. Und, ach ja, unser Bär („der alte Trottel“) ist inzwischen aufgewacht, nimmt das Buch falsch herum in die Tatz, sieht darin eine auf dem Kopf stehende Prinzessin und stellt ohne Umschweife seinen Modus vivendi dementsprechend auf „Umgekehrt-Bär“ um.

Dieses witzige Buch liefert genau das, was Kinder brauchen: keinesfalls zu brave, sondern frech-skurrile Charaktere in einer ebensolchen Geschichte.

„Frösche küssen“ erschien 2015 bei Willegoos