Mal im Quartett, mal im Trio, mal als Zusammenarbeit mit einem Mandolinenspieler, mal Cover-Versionen von Radiohead-Songs … Vielleicht ist diese Unberechenbarkeit einer der Gründe, warum Brad Mehldau in den letzten beiden Jahrzehnten als eine der prägendsten Gestalten des zeitgenössischen Jazz gefeiert wird. Nun ist „Finding Gabriel“ erschienen, das 25. Werk des Musikers.
Ein Gastbeitrag von Stefan Weigand
„Anything goes“ – so lautet der Titel eines der frühen Alben von Brad Mehldau; die Wendung könnte als Symbol für die Freiheit und Wandlungsfähigkeit des Jazz-Pianisten stehen. Jedes Album, bei dem er als Solist oder als Bandleader zeichnet, ist eine Überraschung. Nachdem der amerikanische Pianist sich zuletzt den Werken von Johann Sebastian Bach gewidmet hat, unternimmt er mit dem neuen Album eine Art Odyssee zu bzw. mit den biblischen Propheten. „The Garden“ lautet der Titel des ersten Songs – ein Beginn im Garten Eden. Von dort nehmen die insgesamt zehn Stücke den Hörer mit zu Werken, die sich Versen aus Ijob, Kohelet, Hosea oder den Psalmen widmen.
Von wegen Paradies!
Was vermeintlich paradiesisch beginnt, bekommt schnell eine düstere Färbung: „Denn nicht aus dem Staub geht Unheil hervor, nicht aus dem Ackerboden sprosst die Mühsal, sondern der Mensch ist zur Mühsal geboren, wie Feuerfunken nach oben fliegen.“ – Das zweite Stück auf dem Album trägt den Titel „Born to Trouble“ und greift die Gesellschafts-Kritik des Kohelet-Verses auf.
„Build that wall!“ Es hätte vielleicht gar nicht das eingespielte Zitat von Donald Trump zu Beginn des Songs „The Prophet Is a Fool“ gebraucht, um klarzumachen: Wenn Mehldau biblische Texte aufgreift, geht es ihm nicht um eine Reise in die Vergangenheit oder um Textanalyse. Das Album ist keine restaurative Reinszenierung biblischer Aussagen; vielmehr zeigt es deren Sprengkraft und Aktualität für die Gegenwart.
Alles aus wie aus einem Guss? Fehlanzeige!
Wer ein durchgängiges und homogenes Album erwartet, wird enttäuscht sein. Alles aus wie aus einem Guss? Fehlanzeige! „Eure Merksätze sind Sprüche aus Staub, eure Schilde aus Lehm.“ Auf Ijob 13 geht „Proverb of Ashes“ zurück, bei dem Mehldau eine Piano-Melodie fast schon komplett mit Pop-Elementen überlagert. Mehldau spielt hier geschickt mit Erwartungshaltungen, indem er den Hörer bzw. die Hörerin sich fragen lässt: Ist das noch dasselbe Album? Sicherheiten, Gewissheiten: Gar nicht so leicht, tragfähige zu finden.
So ähnlich die Themenkomplexe der zugrunde liegenden Bibelstellen sind, auf die Gestaltung der Stücke hat das kaum einen Einfluss. Im Gegenteil: Bei manchen agiert Mehldau als One-Man-Band und spielt alle Instrumente – darunter auch das Schlagzeug, ein Fender-Rodes-Piano oder OB-6-Synthesizer – komplett selbst; andere sind in größerer Besetzung mit Trompete, Saxophon, Streichern, Stimmen, Schlagzeug entstanden. Dabei sind die Gesangspassagen keine Transporteure von Sprache, sondern bilden Melodien und Emotionen ab. Stimmen treten auf wie Instrumente. Mal klingen die Songs wie alte Volksweisen, wie etwa „O Ephraim“, mal sind sie in überbordend-komplexer in Prog-Rock-Manier angelegt.
Bitte keine Eindeutigkeit
Was verbindet ein derartiges Album eigentlich, das musikalisch so vielschichtig angelegt ist? Was macht seinen Reiz aus? Ich denke, es ist erst einmal ein gutes Musikalbum. Es macht einfach Spaß, sich in diese jazzige Mehldau-Welt zu begeben, die sich immer wieder neu erfindet. Von Song zu Song. Wenn es dabei so etwas wie eine Festlegung gibt, dann erfolgt sie auf Ambiguität hin. Das klingt paradox. Dennoch zeigt die Vielseitigkeit der Stücke, dass Eindeutigkeit eben nicht immer automatisch zu Sicherheit führt, dass biblische Verse nie automatisch dieselbe Stimmen tragen. Das veranschaulicht auch die meines Erachtens schwächste Stelle auf dem Album: Dort wo Mehldau die Stimme Trumps in das Stück einmischt, wird die Musik unmittelbar auf eine einzige Bedeutungsebene geplättet. Zum Glück erliegt Mehldau dieser Versuchung sonst nicht auf dem Album und zeigt damit seine musikalische Stärke. Wer Inhalte fahrlässig vereinfachen will, wird der Welt nicht gerecht. Stattdessen gilt es, Komplexität auszuhalten – und zu gestalten. Für diese Überzeugung liefert „Finding Gabriel“ das passende Plädoyer.
Finding Gabriel von Brad Mehldau erschien am 17. Mai 2019 bei Nonesuch Records/Warner.
Coverbild: © Nonesuch Records/Warner

Über Stefan Weigand
Auf die einsame Insel würde Stefan Weigand seine Familie, ein schönes Buch und seinen Plattenspieler mitnehmen. Nach dem Theologie- und Philosophie- Studium in Würzburg und Indien war er zunächst Sachbuchlektor in einem großen deutschen Verlag. Seit mehreren Jahren führt er eine Agentur für Buch- und Webgestaltung und wird als Konzeptionsberater bei Buchprojekten gebucht. An ruhigen Abenden widmet er sich seinem Faible für Kunst, Jazz und Indie-Musik.