Schlagwort: Begriffsgeschichte

Die 10 größten Fehler mit den „Gutmenschen“

Ob Journalist*innen, Wikipedia-Beitrag-Schreiber*innen, Sprachforscher*innen, AfD-Anhänger*innen oder vermeintliche Erfinder*innen des Wort „Gutmensch“ – alle haben mindestens einen der folgenden Fehler begangen. Und die haben ihre Folgen.


Wer das Wort „Gutmensch“ bis 2015 nicht kannte, der wünscht sich schon jetzt, es wäre nie erfunden worden. Denn durchtrieft von gehässiger Ironie dominiert es die Sozialen Medien, wenn es um „das Flüchtlingsthema“ geht. Gerne wird es gemeinsam mit den Wörtern „Bahnhofsklatscher“ oder „Teddywerfer“ verwendet. Erfunden für die Menschen, die die ersten Geflüchteten an Bahnhöfen herzlich begrüßten.

1. Fehler: Den „Schlechtmensch“ dem „Gutmensch“ vorziehen

Aber nein, „Gutmensch“ ist kein Kompliment. Als Schimpfwort – besonders für Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen – benutzt, stempelt der*die Verwender*in Hilfsbereitschaft und Political Correctness als naiv und weltfremd ab. Denn indem „Gutmenschen“ helfen, würden sie ihrem Land, ja, Deutschland, schaden. Anwendungsbeispiel sind zuhauf z. B. auf der Facebookseite der AfD zu finden. Die Beschimpften wehren sich: „Lieber ein Gutmensch als ein Schlechtmensch!“ oder „In was für einem Land leben wir, in dem ‚Gutmensch‘ als Schimpfwort gilt?“ Gute Frage: Können sich die Verwender*innen sicher sein, dass sie jemanden mit einem Wort, das sich aus „gut“ und „Mensch“ zusammensetzt, beleidigen?

2. Fehler: Nach Nietzsche und den Nazis fragen

Um das herauszufinden, muss man die Herkunft des Wortes „Gutmensch“ untersuchen. Und das ist nicht einfach: Denn das 2011 auf den 2. und 2015 auf 1. Platz gewählte Unwort des Jahres wird mal auf Friedrich Nietzsche, mal auf die Nationalsozialisten zurückgeführt. Zwar kritisiert Nietzsche den „guten Menschen“, verwendet das Wort „Gutmensch“ aber nicht. Ebenso verhält es sich mit der Behauptung des Journalisten Jürgen Hoppe:

„Erstmals findet sich das Wort als Bezeichnung für die Anhänger von Kardinal Graf Galen, die gegen die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ […] gekämpft haben. Nicht klar ist, ob der Begriff von Josef Göbbels oder Redakteuren des ‚Stürmer‘ 1941 ersonnen worden ist. ‚Gutmensch‘ geht auf das jiddische ‚a gutt Mensch‘ zurück, womit von den Nationalsozialisten auch ein Bezug zu den ‚lebensunwerten‘ Juden hergestellt werden sollte. (In: Memorandum zur Initiative Journalisten gegen Rassismus, 27. März 2006)

Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung prüfte den als Beleg angeführten „Stürmer“-Beitrag und schlussfolgerte, dass die „dortige Rede vom ‚guten Menschen‘ […] eine andere Bedeutung“ als „Gutmensch“ habe. Das Wort „Gutmensch“ selbst taucht im genannten Beitrag gar nicht auf.

3. Fehler: „Goodman“ und „bonhomme“ übersetzen

Ein weiterer Ansatz ist es, die Herkunft des Wortes in anderen Sprachen zu suchen: „Bonhommes“, auf deutsch „Gutmenschen“, nannten sich die Katharer, die französischen Ketzer des Mittelalters. Heute kann „bonhomme“ mit „Gentleman“ übersetzt werden. Glaubt man der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. (GfdS), so stammt ihr „Erstbeleg zu Gutmensch […] aus dem Jahr 1985“. In der US-amerikanischen Zeitschrift Forbes sei der damalige Gewerkschafter Franz Steinkühler als ein solcher bezeichnet worden. Ob er tatsächlich „Gutmensch“ oder „goodman“ genannt wurde, ist der Erklärung der GfdS nicht zu entnehmen. Allein die Erläuterung „[i]m Englischen existiert goodman […] auch im ironischen Sinne“, aber es sei „spekulativ, hier eine Verbindung zum deutschen Sprachgebrauch zu sehen“, lässt vermuten, dass die Forbes „goodman“ und nicht „Gutmensch“ verwendete.

4. Fehler: Nach einem „Gutmann“ und einem „Gutweib“ suchen

Und dann gibt es noch jemanden, der bei solchen Fragestellungen nicht fehlen darf: Johann Wolfgang von Goethe. Doch richtig fündig wird man auch bei ihm nicht. Zwar schrieb er die Ballade Gutmann und Gutweib, benutzte „Gutmensch“ jedoch so oft wie Nietzsche. Also gar nicht. Im Wörterbuch der Brüder Grimm ist ebenfalls „Gutmann“ gleichbedeutend mit „gutmütiger Mann“ und „Edelmann“ aufgeführt, „Gutmensch“ ist aber auch hier nicht zu finden. Und aus gleichem Grund kann Brechts Werk Der gute Mensch von Sezuan ignoriert werden.

Kann es sein, dass die Herkunft des Wortes dort gesucht wird, wo es gar nicht auftaucht?

5. Fehler: Sich für den*die Erfinder*in des „Gutmenschen“ halten

1997 behauptet der Merkur-Mitherausgeber Kurt Scheel in der Frankfurter Rundschau, er sei Schöpfer des Wortes und stellt klare Regeln zum Gebrauch auf:

„Als Erfinder des Wortes Gutmensch – es stand zum ersten Mal 1992 im Januarheft des ‚Merkur‘ – möchte ich darauf hinweisen, daß es nur ‚als süffisante, Heiterkeit erzeugende Bemerkung angesichts eines berufsmäßigen Moralisten‘ benutzt werden darf.“ (Frankfurter Rundschau, 19.11.1997, S. 16)

1998 erscheint dann Klaus Bittermanns Wörterbuch des Gutmenschen, in dem „Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch“ aufgedeckt werden sollen. Schließlich hat sich der Terminus „Gutmensch“ seit Mitte der 1990er-Jahre in politischen Debatten – gehäuft auch in den Medien – etabliert, um politische Gegner als moralisierend zu kritisieren. Deswegen wird es auch 2004 in Neuer Wortschatz: Neologismen der 90er Jahre im Deutschen aufgenommen „Gutmensch“ soll also ein Neologismus der 1990er sein? Das Wort soll es erst seit den 90er Jahren geben? Bei aller Liebe, das ist abwegig. Denn wie auch die GfdS klarstellt, „das grammatische Muster […] [existiert] im Deutschen seit Jahrhunderten […] – man denke nur an Gutgeld […] oder Gutmann“. Trotzdem ist es der GfdS „nicht möglich, den Ausdruck genau zu datieren und einem bestimmten Urheber zuzuordnen.“

6. Fehler: Nach dem Begriff und nicht nach dem Wort „Gutmensch“ fragen

Warum ist es so schwer, den Ursprung des Wortes „Gutmensch“ zu eruieren? Weil ein Fehler gemacht wird bzw. gemacht wurde. Und das bei allen Diskussionen rund um „Gutmensch“ – egal, ob von der Welt oder der Süddeutschen Zeitung o. ä. Ja, auch der selbsternannte „Erfinder des Wortes Gutmensch“ Kurt Scheel hat ihn begangen und auch die GfdS:

Es wird nicht zwischen „Wort“, „Terminus“ bzw. „Ausdruck“ und „Begriff“ unterschieden. Denn es ist etwas völlig anderes, ob man nach der Herkunft des Wortes, Terminus’ und Ausdrucks „Gutmensch“ fragt oder nach der Herkunft des Begriffs. Im zweiten Fall geht es um den Ursprung der heutigen Bedeutung, also um die ironische Verwendung, nicht aber um das Wort selbst. Natürlich ist es der GfdS „unmöglich, den Ausdruck genau zu datieren“. Wie sollte sie auch? Schließlich hat sie gar nicht nach der Herkunft des Ausdrucks, sondern nach dem Ursprung der heutigen Bedeutung gefragt. Und es kann zwar sein, dass Journalist Kurt Scheel den Begriff in den 90ern geprägt hat. Er ist aber auf keinen Fall der „Erfinder des Wortes Gutmensch“, so wie er sich selber betitelt.

7. Fehler: Nicht zu weit in der „Gutmensch“-Vergangenheit wühlen

Denn das Wort selbst ist um einiges älter. Und dafür muss man nicht das französische „bonhomme“ bemühen. Auch Belege, die in einen Artikel der Welt angeführt werden, reichen nicht weit genug zurück: Etwa das Zitat von 1870 aus der Zeitschrift Deutscher Sprachwart: „Wo ein besonderer Mensch bezeichnet werden soll, da bedarf der allgemeine Menschenname […] noch der Hinzufügung eines besonderen Prädikats. Athil-a, Edelmensch, Oth-o, Gutmensch.“ Oder in Gustav Karpeles 1890 erschienenen Fassung von Briefe an eine Jungfrau über die Hauptgegenstände der Ästhetik , in der es heißt: „Wird nicht ein solch unberatener Gutmensch für seine unbedingte Menschenliebe verlacht, für einen Thoren von der ganzen Welt gehalten werden und ein Opfer seiner Schwäche sein?“ Auch wenn sich das zweite Zitat wie eine weise Vorahnung zur aktuellen Dialogkultur liest, einer der ersten zu findenden Belege für den Wortgebrauch von „Gutmensch“ ist es nicht.

8. Fehler: Nicht davon ausgehen, dass „Gutmensch“ etwas Gutes bedeutet

Denn um nur zu erahnen, dass das Wort lange vor dem 20. und auch vor dem 19. Jahrhundert existierte, reicht ein Blick in die Bibel, nämlich in die Dietenberger-Übersetzung. Sie gilt als eine der katholischen Gegenbibeln zur Lutherbibel, einer sogenannte „Korrekturbibel“. Hier heißt es z. B. in der Ausgabe von 1603:

„Ein gutmensch bringt guts herfur auß seinem gutem schatz : vnd ein böß mensch bringt böses herfur auß seinem bösen schatz.“

Zwar schreibt Luther in seiner Übersetzung „Denn ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus seinem Schatz des Herzens“, nichtsdestotrotz nutzt Dietenberger explizit das Wort „gutmensch“. Denn im Gegensatz zu „gutem Schatz“ ist „gut“ bei „gutmensch“ nicht gebeugt. Und tatsächlich wird hier eine weitere wichtige Frage beantwortet: Denn das Gegenteil von „Gutmensch“ war ursprünglich nicht „Schlechtmensch“, sondern „Bösmensch“. Der Ursprung des Wortes „Gutmensch“ hingegen scheint noch weiter zurückzuliegen. So heißt es in der Schrift „Ewangelia vnnd Epistel teutsch vber das gantz jar“ von 1523:

„Der gut mensch von dem gutten Schatz/redt er guts/Vnd der böß mensch von dem bösen Schatz redt er böse ding.“

Kann es also sein, dass „Gutmensch“ im 16. und im 17. Jahrhundert positiv konnotiert war? Dass jene ganz unironisch und ohne jeglichen Spott als „Gutmenschen“ geschimpft wurden, die im christlichen Sinne Gutes redeten und hervorbrachten?

9. Fehler: „Gutmensch“ als Schimpfwort verwenden

Sieht ganz danach aus. Welche Ironie der Begriffsgeschichte, dass jene, die plötzlich ihren christlichen Glauben wiederentdecken und ihn vor der „drohenden Islamisierung“ retten wollen, meinen, andere mit dem Wort „Gutmensch“ zu beleidigen. Denn nach den oben aufgeführten Belegen, ist es im Christentum ja sogar erstrebenswert, ein Gutmensch zu sein. Hingegen tragen die „Gutmenschen“-Schreier*innen nichts zum friedlichen Miteinander bei. Sie stören es sogar noch, indem sie meckern, hetzen und verspotten – ja, eben „böse Dinge reden“, weil sie sich benachteiligt fühlen. Aber um sie, die Bösmenschen, im „Gutmenschen“-Schreien zu entschuldigen: Sie werden die Luther- und nicht die Dietenberger-Bibel gelesen haben. Wer hat das schon? Und in ihrer Unwissenheit werden sie weiterhin mit arroganter Überheblichkeit glauben, „Gutmensch“ sei ein Schimpfwort.

10. Fehler: Gutmenschen mit Spott begegnen

Und dagegen kann man nichts tun, außer es hinzunehmen, sich für die Bezeichnung zu bedanken und so zu versuchen, dem Wort seine ursprüngliche positive Konnotation wiederzugeben. Patrick Orth, der Manager von Die toten Hosen, hat schon einen ersten Versuch gestartet und sich 2014 die Wortmarke „Gutmensch“ schützen lassen. Nun sind T-Shirts mit dem Spruch „Gutmensch – No one likes us. We don’t care!“ erhältlich. Ein Schritt in die richtige Richtung. Denn rückblickend betrachtet hat der Bedeutungswandel des Wortes nichts Gutes hervorgebracht. Mit ihm wurde es möglich, Toleranz, Mitgefühl, Hilfe und das Kämpfen für ein friedliches Miteinander mit gehässiger Ironie und Sarkasmus zu begegnen. Und wer möchte heutzutage im Jahr 2018 bei der aktuellen Dialogkultur noch mit Stolz behaupten, er*sie sei der*die Erfinder*in des Begriffs gewesen? Niemand.

Von Goethe bis Heidi Klum – die dunkle Geschichte der „Mädels“

Das Wort „Mädel“ ist im Sprachgebrauch (wieder) fest verankert. Und das, obwohl bereits aus guten Gründen versucht wurde, es aus dem deutschen Wortschatz zu streichen.


Heidi Klum spricht in den höchsten Tönen von ihren „Mädels“. Jüngst präsentierte der Focus „die besten Filme für den perfekten Mädelsabend“. Und ein Buchholzer Kaufhaus findet, dass sein Shoppingevent mit dem Titel „Mädelsabend“ ein „großer Erfolg“ war. Das Wort „Mädel“ ist gänzlich im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. Aber wer sind diese „Mädels“?

Freigegeben ist Platz sechs der besten „Mädelsabendfilme“, Fifty Shades of Grey, ab 16 Jahren. Heidi Klums Model-Anwärterinnen müssen ebenfalls das 16. Lebensjahr vollendet haben. Und Minderjährige sind nur bedingt geschäftsfähig, sodass sie bei großen Shoppingevents wohl kaum Zielgruppe Nummer eins sind. Nein, mit „Mädels“ sind hier ganz offensichtlich keine Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren gemeint. Angesprochen werden Frauen – mehr oder weniger volljährig, aber doch Frauen.

Wann und warum der Trend aufgekommen ist, als erwachsene Frau „etwas mit seinen Mädels zu machen“, ist schwer nachzuvollziehen. Umso wichtig ist es, ihn zu hinterfragen.

„Meine Mädel verstehn’s Handwerk, wie man zu Männern kommt.“ – F. Müller

Man stelle sich vor, Heidi Klum würde statt von ihren „Mädels“ von ihren „Schlampen“ sprechen. Dann wäre das Geschrei aber groß. Auch das Buchholzer Shoppingevent wäre wohl kein großer Erfolg gewesen, wenn dieser Begriff vorherrschen würde. Zugegebenermaßen, diese Bedeutung des Wortes „Mädel“ ist weit hergeholt – nämlich aus der deutschen Sprachgeschichte.

„Mädel“ stammt wie „Mädchen“ von „Magd“ ab. Während im norddeutschen Sprachgebiet das Wort „Mädchen“ verwendet wurde, so war im süddeutschen Raum das Wort „Mädel“ geläufig. Doch ab dem 18. Jahrhundert tauchte „Mädel“ plötzlich auch in norddeutschen Texten auf. Und wie kommentiert das Wörterbuch der Brüder Grimm diese Wendung?

„[W]ährend mädchen der edeln sprache zufällt, bleibt mädel überall auf die trauliche und niedrige rede beschränkt.“ [Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961]

„Mädel“ ist in dieser Zeit keineswegs positiv konnotiert, sondern beschreibt abfällig Frauen, die wüssten, „wie man zu Männern kommt“, [F. Müller: Adams Erwachen und erste selige Nacht] und „bei drei vier kerls liegen und sie eben der reihe herum lieb haben“ [J. W. v. Goethe: Götter, Helden und Wieland] könnten. Auch wenn der Dichter Johann W. L. Gleim das Wort „Mädel“ als Synonym für „junge Frau“ verwendete, er tat es, so urteilt das Grimm-Wörterbuch, „ohne dasz ihm der sprachgebrauch dazu irgend welches recht gegeben hätte“.

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?“ – Goethe

Die Vergangenheit des Wortes hinterlässt einen üblen Nachgeschmack. Aber abgesehen von der Bedeutung der „leicht zu habenden Frau“: Ist es nicht auch beunruhigend, dass „Mädel“ und „Mädchen“ von „Magd“ abstammen? Zwar werden beide Wörter heute nicht benutzt, um eine Leibeigene oder eine Bedienstete zu benennen oder gar sich selbst als eine solche zu bezeichnen. Aber schlägt sich hier nicht die (damalige) Ungleichstellung von Mann und Frau, ja, die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter in der Sprache nieder? Gewagte These, die sich nicht bestätigen lässt. Denn die Begriffsgeschichten der männlichen Pendants „Junge“ und „Knabe“ sehen ähnlich aus: So war der Junge ein „junger mensch in dienender oder in einem handwerk lernender stellung“ und der Knabe einst ein Knecht [s. Grimm: Deutsches Wörterbuch].

„Spinne, Mädlein, spinne! So wachsen dir die Sinne.“ – Volkslied

Trotzdem muss ein bedeutender Unterschied zwischen dem Gebrauch von „Mädel“ und dem von „Junge“ berücksichtigt werden. Zwar gibt es auch den Ausspruch: „Ich mache etwas mit den Jungs“. Jedoch ist „Mädel“ sowie auch „Mädchen“ im Gegensatz zu „Junge“ der Diminutiv, eine Verkleinerungs-, ja, Verniedlichungsform, wie auch „Fräulein“ oder „Mäuschen“. Im Gegensatz zum Wort „Fräulein“ – das laut Duden nicht als Anrede für eine erwachsene weibliche Person, […], benutzt werden sollte – werden „Mädchen“ und „Mädel“ im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr als Verkleinerungsformen wahrgenommen. Zu sehr haben sich beide als eigenständige Wörter etabliert.

Aber macht sich eine Frau nicht trotzdem klein, wenn sie sich selbst als „Mädel“ bezeichnet? Wird sie nicht verniedlicht, ja, wenig ernst genommen, wenn sie von anderen so genannt wird? Denn obwohl „Mädel“ und „Mädchen“ den gleichen Ursprung und ähnliche Bedeutungen aufweisen, kaum eine Frau würde sich selbst als „Mädchen“ bezeichnen. Denn während der Duden darauf hinweist, dass „[i]m modernen Sprachgebrauch […] das Wort Mädchen nur noch in der Bedeutung Kind weiblichen Geschlechts verwendet werden“ sollte, da es in „den weiteren veraltenden oder veralteten Bedeutungen […] zunehmend als diskriminierend“ gilt, ist unter dem Wort „Mädel“ kein solcher Hinweis zu lesen. Dabei hat die Geschichte des Wortes „Mädel“ eine noch viel dunklere Vergangenheit.

„[E]rzieht mir die Mädel zu starken und tapferen Frauen!“ – Hitler

„Bei ,Mädel’ weiß […] kaum noch jemand, dass es von den Nazis okkupiert wurde“, so der Sprachforscher Thorsten Eitz im SZ-Interview. Aber was war ein „Mädel“ im Dritten Reich? Die Reichsrefererentin Trude Mohr formulierte 1935 die Zielsetzung des Bundes Deutscher Mädel so:

„Unser Ziel ist der ganze Mensch, das Mädel, das gesund und klar seine Fähigkeiten einsetzen kann für Volk und Staat. Deshalb liegt uns nichts an der Anhäufung irgendwelcher Wissenschaften […], deren Sinn wir nicht verstehen, sondern alles an der Heranbildung der Gemeinschaft und der Mädelhaltung.“ [Trude Mohr: „Mädel von heute – Frauen von morgen“. In: Wille und Macht, Heft 1, Jahrgang 3, 1935]

„Mädelhaltung“? War das Wort „Mädel“ ein Synonym für „im Sinne des Nationalsozialismus zu formendes weibliches junges Wesen“, das mit der „richtigen Haltung“ zu einer – wie Hitler es formulierte – „starken und tapferen Frau“ und zur „kommende[n] Mutter“ [aus: Mein Kampf] herangezogen wird?

Ja, Bedeutungen von Wörtern ändern sich. Nichtsdestotrotz gehörte dieses Wort unzweifelhaft dem „Wortschatz der Gewaltherrschaft“ an, wie es die Autoren des „Wörterbuch der Unmenschen“ von 1957 formulierten. In diesem Buch wird „Mädel“ neben 28 weiteren Wörtern aufgelistet, die nach Meinung der Sprachkritiker Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind aus dem Sprachschatz gestrichen werden sollten. Ihr Ziel war es, die deutsche Sprache von Ausdrücken, die im Dritten Reich für Propaganda verwendet wurden, zu reinigen und diese Wörter wieder fremd zu machen.

„[U]nser Mädelring sucht aufrichtige, stolze und deutsche Mädels und Frauen.“ – Mädelring Thüringen

Hat das funktioniert? Wohl eher nicht. Zwar herrscht die Wortbedeutung des Dritten Reiches nicht mehr vor, jedoch wird „Mädel“ besonders heute inflationär verwendet. Wenn also die Begriffsgeschichte passé, ja, vergessen ist, kann das Wort dann nicht bedenkenlos als Synonym für „junge Frau“ benutzt werden? Nein, denn dieser Frage gehen ganz andere Fragen voraus – nämlich: Ist es nicht bedenklich, dass die Begriffsgeschichte nicht mehr mitgedacht wird? Sollte man sich nicht bewusst von dieser distanzieren? Denn der Begriff „Mädel“ im Sinne des Nationalsozialismus ist alles andere als vergessen. Er wird in rechtsextremen Kreisen noch genauso verwendet. So heißt es auf der Internetseite des Mädelring Thüringen:

„Wir nationale Sozialistinnen aber sind keine Emanzen (!), sondern stolze und selbstbewusste Mädels & Frauen, denen ihre Heimat und ihr Volk noch etwas wert sind.“ [Internetseite des Mädelring Thüringen; zur Recherche kurz ertragen am 20.7.2017]

„Okay, Mädels, jetzt möchte ich aber mal was sehen hier!“ – Klum

Natürlich werden Wörter benutzt – dafür ist Sprache da. Natürlich gehen sie durch verschiedene Epochen und durchlaufen Bedeutungswandel. Natürlich kann nicht jedes Wort, das im Dritten Reich benutzt wurde und noch heute in der rechtsextremistischen Szene gebraucht wird, gestrichen werden. Wie sähe dann unser Wortschatz aus? Und zugegebenermaßen zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Heidi Klum liegt ein sehr, sehr langer Weg, ja, liegen ganze Welten.

Trotzdem ist es manchmal wichtig zu wissen, welche Bedeutungen in einem häufig benutzten Wort mitschwingt und wofür es einst missbraucht wurde – besonders wenn es zur Bezeichnung der eigenen Person dient. Um sich dann zu fragen: Möchte ich mich selbst so nennen oder vom Focus, einem Buchholzer Kaufhaus, von Kolleg٭innen oder Freund٭innen so genannt werden?