Dass sie nicht nur eine der komplexesten Studiobands des Indie-Rock sind, sondern auch live seit Langem zu den Vielseitigsten zählen, macht Notwist zur Rarität. Nun bringt gerade ihr Live-Album sie in eine ungekannte Situation. Es macht sie erstmals berechenbar.
Was haben Max Punktezahl, Karl Ivar Rafseth, Cico Beck, Andi Haberl und Markus und Micha Acher gemeinsam? Allesamt sind sie Ausnahmemusiker, die in zahlreiche Projekte verstrickt sind. Und eines dieser Projekte ist bei allen jeweils seit Jahren glücklicherweise Notwist. Beim einen sind dies erst drei, beim anderen 28 Jahre. Doch es ist nur zu hoffen, dass bei allen noch zahlreiche folgen werden. Denn wer ihre Alben für vollendet hält, kennt ihre Konzerte noch nicht. Sänger Markus Acher sieht das wie folgt:
„Die Stücke sind ja zum Zeitpunkt einer Studio-Platte meist noch sehr neu, und nicht live gespielt. Und auch nur eine Momentaufnahme. Viele entwickeln ein Eigenleben und verändern sich sehr im Laufe der Jahre. […] Ich denke, manche Stücke haben erst nach einer langen Zeit ihre eigentliche Form gefunden.“
Markus Acher im Interview mit postmondän
Das Konzert am Sonntag im Astra nun war Teil einer kleinen Release-Tour für ihr im Herbst erschienenes Live-Album „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“, die Zusatzshow zum Konzert im Lido am 6.11., das bereits nach kurzer Zeit ausverkauft war. Dass sie für diesen Zusatztermin erst drei Monate später Zeit fanden, spricht Bände darüber, in wievielen Töpfen die Bandmitglieder derzeit rühren. Doch ebendieser Umstand der späten Zusatzshow fasste das Konzert auch in einen sehr besonderen Rahmen. Denn er gewährte dem Publikum ausreichend Zeit, sich auf den Abend vorzubereiten. Was dieses erwarten konnte, ist bereits auf sechs Schallplattenseiten gepresst, die man nicht oft genug hören kann.
Dabei stehen Notwist doch eigentlich für Avantgarde, Progress und ständige Weiterentwicklung. Live bedeutete dies stets: das Aufbrechen von Kompositionen, die Beleuchtung einzelner Elemente aus immer neuen Richtungen. Dass sie über die Jahre immer mehr Stilelemente in ihre Musik aufnahmen und viele neue Richtungen gleichzeitig einzuschlagen schienen, machte sie nicht zuletzt zur unberechenbaren Liveband. Durch Ein- und Ausstiege verschiedener Musiker öffnete die Band sich ständig für das Neue. Doch darum ging es im Astra nun ausnahmsweise mal nicht, sondern um eine Präsentation der bereits eingefangenen Arrangements.
Wie diese sich nun wirklich live anfühlen, passt wiederum auf keine Platte. Zum einen sind da die ohnehin schon ausgefeilten Songs, in Versionen, die nun wirklich alles Vorstellbare aus diesen herausholen. Zum anderen die spürbare Leichtigkeit, in der sie vorgetragen werden. Ein virtuoses Verhältnis zu Dynamiken. Zur Perfektion präzise abgerufene Sounds und Effekte. Markus Acher, der seinen Gesang zwischendurch fast beiläufig live sampelt. Enthusiastische Musiker, die sich immer wieder in den Rausch der gemeinsamen Musik treiben lassen, ohne auch nur die Idee von Unkonzertriertheit zuzulassen. Die sechs völlig verschiedene Zugänge zur Musik haben und dennoch ein dichtes Zusammenspiel finden, obwohl sie sich gegenseitig größte Freiheit gewähren. Und gemeinsam alle Genres durchwandern, um dann doch wieder im Refrain von „Pilot“ zu landen. Und wieder. 13 Minuten und 13 Sekunden lang. Live wie auf Platte. Vor einem Publikum, das sich final nicht zwischen Tanzen und Staunen entscheiden kann.
Auch die Samples zwischen den Songs sind identisch zum Livealbum. Nur die Tracklist wird variiert und vor allem um alte Schätze erweitert. „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“ ist ein Monument von Notwists Live-Kunst. Dass sie dieses zu allem Überfluss offensichtlich jederzeit aus dem Stand abrufen können, stellen sie jeden Abend ihrer laufenden Tour aufs Neue unter Beweis. Spannend wird sein, zu sehen, wie sie es anstellen, die Songs von deren „eigentlichen Formen“ aus, welche im Astra fraglos präsentiert wurden, in Zukunft wieder aufzubrechen und weiterzuentwickeln. Dass sie dies tun werden, steht mit Blick auf die Bandgeschichte fast außer Frage.
Und so laut, berauscht und tänzerisch es zwischenzeitlich wird, klingt die im Astra präsentierte Show am Ende der Zugabenreihe altbewährt mit „Consequence“ und „Gone Gone Gone“ andächtig und demütig aus, was einen bleibenden Eindruck manifestiert. Notwist-Konzerte gewähren ihrem Publikum eine kunstvolle und melancholische Perspektive der Welt, die noch für eine ganze Weile anhält. Could be enough, möchte man denken. If only we are pilots. Once a day.