Schlagwort: Antisemitismus

Gedenken durch Vergessen – die Reformation als Erinnerungsort in der deutschen Geschichtskultur

Reformation Luther Erinnerungskultur

Die Auseinandersetzung um den Antisemitismus Luthers zwischen Aktivisten und Organisatoren am Rande des Kirchentags offenbart, wie konfliktbeladen das Bild des Reformators teilweise ist und wie sehr die Deutschen den Antisemitismus oft von ihrem Bild des Reformators abspalten. Welche Rolle spielt Luther für die deutsche Identität?


Die Deutschen und Luther

Die Deutschen und Luther, das hat schon etwas Obsessives. Luthers Playmobilabbild ist bereits zur Mitte des Reformationsjahres die erfolgreichste Figur, die das Unternehmen je herausgebracht hat. Zwar bietet der aktuelle Hype um den kleinen Plastiktheologen mit Federkiel und Bibelübersetzung viel Potential, sich über postmoderne Beliebigkeit und Sinnentleerung zu echauffieren – indessen wirft die Figur ein interessantes Schlaglicht auf das Verhältnis der Deutschen zum Reformator. Woran liegt es, dass insbesondere Luthers Persönlichkeit im Reformationsjahr derart im Mittelpunkt des Interesses steht?

Mag der Playmoluther auch noch so wenig mit seinem Vorbild zu tun haben, so trägt er doch zumindest einen Teil der Skandalumwitterung immer mit sich herum. Luthers Antisemitismus, der sich durch mehr als zehn Schriften zieht, ist mehr als gut belegt. Allein der Wikipediaartikel zu Luthers Verhältnis zum Judentum nebst Rezeptionsgeschichte wäre in ausgedruckter Form 45 Seiten lang. Auch zum evangelischen Kirchentag, wäre der Reformator mit seinen aus heutiger Perspektive volksverhetzenden Gedanken nicht eingeladen worden.

Die Rezeptionsgeschichte und die weitreichenden Folgen von Luthers Judenfeindschaft umfangreich abzubilden ist äußerst komplex. Oft wurde gerade durch die jüngere Forschung betont, dass Luther als Kind seiner Zeit „antijudaisch“ gedacht habe – somit sei seine Judenfeindschaft nicht mit dem biologistischen und damit rassistischen Antisemitismus, wie er sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat, vergleichbar. In der Tat käme wohl niemand auf die Idee, etwa Ernst Moritz Arndt oder Heinrich von Treitschke eine Playmobilfigur zu widmen. Treitschke übrigens entlehnte Luthers Schriften seinen berühmten Ausspruch „Die Juden sind unser Unglück“ ebenso geht die Unterscheidung zwischen dem „Wirtsvolk“ und einem als parasitär dargestellten Judenvolk auf Luther zurück. Dies in Betracht gezogen stellt sich dann schon die Frage, ob die Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus nicht doch ein wenig künstlich ist und zur Relativierung von Luthers Judenfeindschaft wirklich herangezogen werden kann. Luthers Verhältnis zum Judentum ist – ebenso wie seine Auffassungen zur Hexenverfolgung, zur Obrigkeit und zu den Osmanen – zumindest als kompliziert anzusehen, was den Reformator zum beispielhaften Exponent der sich in der frühen Neuzeit ausbildenden Persecuting Society macht, die Feindbilder konstruiert und auf Gruppen projiziert. Sicherlich ist das Verhältnis der Deutschen zu Luther ebenso wie zu seiner Rezeptionsgeschichte bis in den Nationalsozialismus vielschichtig und schwierig. Ganz unironisch betrachtet wirkt die Playmobilfigur in diesem Zusammenhang verniedlichend. Es erscheint als eine typische Eigenart der deutschen Reformationsrezeption zu sein, den Antisemitismus vom Reformator an sich abspalten zu wollen.

Im Fall des Playmobilluthers geschah dies sogar ganz physisch: Trug die Plastikbibel in der Hand des Bibelgelehrten 2015 noch die Aufschrift „ENDE“. Dies ließ sich so interpretieren, dass das Alte Testament, also die hebräische Bibel überwunden sei. Auf Empfehlung des Erziehungswissenschaftlers Micha Brumlik wurde die als antisemitisch interpretierbare Version, die sich am Wittenberger Lutherdenkmal orientiert hatte, bei der Neuauflage der Figur ersetzt.

Die Reformation als Kristallisationskern deutscher Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert

Die Reformation hat sich mit Beginn der Nationalbewegung im 19. Jahrhundert als einer der nationalen Gründungsmythen tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben und ist so gewissermaßen zum Erinnerungsort geworden. Die Theorie, dass Gesellschaften nichtphysische Erinnerungsorte, lieux de mémoire haben, in denen sich kollektive Identität bündelt, wurde Anfang der 1990er Jahre vom französischen Historiker Pierre Nora aufgestellt. Laut Nora bezieht man sich im Zeitalter der Postmoderne auf das nationale Gedächtnis gerade deshalb, „weil es keines mehr gibt“. Orte der Erinnerung sind jene, an die sich das Gedächtnis zurückzieht bzw. in denen es einlagert. Augenblicke des Übergangs gehen immer einher mit dem Bewusstsein des Bruches mit der Vergangenheit. Gerade in diesen Momenten wird noch so viel Gedächtnis freigesetzt, dass sich die Frage danach stellt, wie dieses nun zu verkörpern sei. Eben hier, an dieser Schnittstelle, entstehen die lieux de mémoire, da Milieus der Erinnerung freilich durch den Moment des Wechsels gar nicht existieren können: Wären wir selbst noch die Bewohner unseres Kulturellen Gedächtnisses, müsste man diesem keinen speziellen Platz in der Erinnerung zuweisen. Der Übergang vom Kommunikativen zum Kulturellen vollzieht sich dadurch, dass das Gedächtnis, wie Jan Assmann sagt, „nicht mehr bewohnt“ wird.

Das 19. Jahrhundert ist oft als „Zeitalter der Geschichte“ bezeichnet worden.

Die Reformation wurde in Deutschland nach der Französischen Revolution und napoleonischen Ära zum Paradigma für Modernität und einem der Gründungsmythen der Nationsbildung. Programmatisch und zeitlich eingeordnet wurde der Thesenanschlag in Wittenberg zum Konterpunkt gegen den „mittelalterlichen Katholizismus“. Der Protestantismus und sein Initiator boten weitreichende Möglichkeiten zur Instrumentalisierung der Bewegung und zur Stilisierung Luthers zur Galionsfigur des Patriotismus, der Geistesfreiheit und der Vertretung bürgerlicher Werte. Im Zuge der 300-jährigen Wiederholung des Thesenanschlags, die durch Feste und Feiern eine Art Initialzündung kollektiven Erinnerns und Gedenkens wurde, trat die Person des Reformators in ihrer Historizität zugunsten der Idealisierung seiner Persönlichkeit zusehends zurück. Es war vor allem Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Idee der „Revolution des Geistes“ zu Beginn der frühen Neuzeit entwickelte, die auch von den Dichtern der Jungen Deutschland rezipiert wurde.

Auch das von Heine in seinen beiden großen Deutschlandschriften zur Geistes- und Kulturgeschichte – Heines Kernwerke zur deutschen Identität – entwickelte Lutherbild darf keinesfalls als Abhandlung mit dem Anspruch einer historisch objektiven Erörterung angesehen werden. Ganz im Gegenteil, Heine verdeutlicht sein Bild des Reformators an Einzelaspekten, fixiert diese und ordnet sie damit in sein an Hegel angelehntes Konzept des dreigliedrigen Geschichtsprozesses ein. Weniger interessieren ihn Probleme der Theologie bei Luther als seine Rolle für den emanzipatorischen Fortschritt. Auch ist sich Heine sehr wohl der Anerkennung des Drei-Stände-Systems und der Heerschildordnung bei Martin Luther bewusst sowie der klaren Absage des Reformators an revolutionäre Prozesse generell. Dessen ungeachtet unterschlägt Heine diese Aspekte und beschränkt sich auf das zweckgebunden-essentielle. Der Name Thomas Müntzers – Luthers erinnerungskultureller Antagonist – findet als Konsequenz weder in Die Romantische Schule noch in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Erwähnung. Heine grenzt diese Aspekte zugunsten der Darstellung des Geschichtsverlaufes aus. Die Reformation ist zwar der Ausgangspunkt und konnektive Struktur zu Lessing und Herder, sie löst jedoch den römischen Katholizismus ab, der ironischerweise ebenfalls eine ablösende Rolle in Form der Überwindung des träge gewordenen imperium romanum gespielt hatte. Heine stellt infolgedessen eine philosophische Verbindungskette her, in der die Reformation die obsolete Scholastik abgelöst hat.

Zwar fixiert sich Heine mit seinem Lutherbild auf die Freiheit der Vernunft, einer historisch und faktisch gesehen unzureichenden Fokussierung. Indessen hebt Heine jedoch nicht die Person sondern ihre Sprengkraft positiv hervor: Luther wird in der Heineschen Rezeption zum Erinnerungsort, indem er die Reformationsbewegung in ihrer Gesamtheit personifiziert. Heine ist sich der Konstruktion seines Lutherbildes selbstverständlich bewusst. Durch die Flexibilität der Reformation als deutscher Erinnerungsort gestaltet er diesen als Ankerpunkt und Orientierung für zukünftige Identitätskonstruktionen. Natürlich lag es Heine, dem kritischen Beobachter und Beurteiler der Nationalbewegung in Deutschland mehr daran, die seiner Ansicht nach restaurativ-reaktionären Romantiker zu kritisieren: Durch die Vereinigung von Geist und Materie in dem die Gesamtbewegung personifizierenden Luther erkennt Heine auch die Etablierung der deutschen Sprache und die Ermöglichung der Interkommunikativität im deutschsprachigen Raum. Diese kann nur in Kontrarität zur Mittelalterfixierung der Romantiker mit ihrem „rückwärtsgewandten Prophetismus“ verstanden werden. Luthers Judenfeindschaft findet in keiner Schrift des jüdischstämmigen Heines Erwähnung.

Institutionalisierung und Säkularisierung

Die nimbushafte Verehrung Luthers setzte früh nach seinem Tod ein. Bereits 1583 beging man Feiern zu seiner Geburt und gegenwärtige Fragen fanden bald Eingang in das Gedenken an den Reformator, Heilserwartungen paarten sich im 17. Jahrhundert mit Erinnerung. Dass wiederum ein weiteres Jahrhundert später Friedrich II. und Lessing Luther als Vorreiter von Vernunft und Aufklärung wahrgenommen haben, offenbart, dass es bei der Erinnerung um die Reformation nie um Historizität ging und die Reformation als Erinnerungsort vielseitig begehbar ist.

Mit der „kulturellen Ghettoisierung“ (Gerard Chaix) der katholischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert durch die borussische Schule beginnt die Vereinnahmung Luthers durch die preußische Geschichtsschreibung und Luther wird gewissermaßen säkularisiert. Diese Tendenz sehen wir bereits bei Heine. Die Charakteristika der Epoche, wie Massenveranstaltungen und Denkmalskult verquicken die Reformation mit dem bereits voll entfalteten Nationalgefühl, die fortan als Morgenröte am Ende des „dunklen“ Mittelalters erscheint. Luther steht fortan als eine der Schlüsselfiguren im nationalen Pantheon neben anderen Säulenheiligen wie Schiller und Goethe. Mit Geschichtsschreibung im klassischen Sinne hatte dies schon nicht mehr viel zu tun, selbst die Historizität des Thesenanschlags ist umstritten – immerhin der Kristallisationskern unseres stark auf die Persönlichkeit des Reformators fixierten Lutherbildes. Auch illustriert das Beispiel, wie überkonstruiert die Wahrnehmung der Reformation schon mit dem Einsetzen der Erinnerung an sie war.

Luthers gegenwärtige Bedeutung für die Deutschen ist daher fast zwangsläufig vielfältig. Abseits der extremen Rechten wird man ihn, gerade vor dem Hintergrund seiner Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten, wohl nicht mehr als nationale Heilsfigur ansehen. Ansonsten ist das Spektrum recht weit und reicht von absoluter Opposition aufgrund Luthers gruppenbezogen-menschenfeindlichen Äußerung bis hin zur Gleichgültigkeit und Desinteresse. Die „Lutherstadt Wittenberg“ wird von einer Berliner Indieband nur spöttisch als Kontrapunkt zum hippen Kreuzberg angesehen: Städte, die ein Ereignis oder eine Person im Selbstbild tragen, strahlen also inzwischen Abgehängtheit und Provinzialität aus. Der historische Ballast, den die Deutungsgeschichte Luthers mit sich bringt erschwert die Frage danach, wie viel Raum ihm in unserer Geschichtskultur eingeräumt werden soll zusätzlich.

Führt man sich noch einmal die politische Vereinnahmung vor Augen, die im 19. Jahrhundert zur Säkularisierung und Enttheologisierung Luthers geführt haben, so erscheint die weitergehende Prophanisierung und Banalisierung durch sein miniaturisiertes Plastikdenkmal letztendlich nur konsequent. Die deutsche Erinnerungskultur hat Luther schon immer wie Playmobil behandelt, sich seine Haltung je nach Bedarf zurechtgestellt und ihm sinnbildlich die verschiedensten Bibelrepräsentationen in die Hand gedrückt. Vielleicht ist es aber auch gerade diese sinnstiftende Beliebigkeit, aufgrund der man Luther eine Playmobilfigur zugesteht. Wagner hatte zu seinem Jubiläum 2013 keine bekommen.

Momentaufnahme des Antisemitismus

So mancher Dichter und Denker aus dem 19. Jahrhundert scheint verloren zu sein. Zum Glück haben wir Literaturarchäologen wie Martin A. Völker, die die Werke solcher Figuren aufspüren und neu herausgeben. Und was passt besser in unsere Zeit als ein literarischer Hybridtext über das rassistische Phänomen des Antisemitismus?!


In Zeiten, in denen der Rechtsextremismus wieder salonfähig wird, in Zeiten, in denen Religionskritik fast nur noch rassistisch kommuniziert wird, erscheint es umso dringlicher das Phänomen des Antisemitismus zu untersuchen – nicht allein wegen einem impliziten Antisemitismus, der in manchen Teilen der Gesellschaft vorherrscht, sondern auch um Parallelen zum Antiislamismus von nationalistisch-christlicher Seite aufzuzeigen. Schon Hannah Arendt sah den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts als eine der entscheidenden Ursprünge und Säulen des Aufstiegs des Totalitarismus. So überrascht es nicht, dass sich auch zahlreiche Schriftsteller und Philosophen im 19. Jahrhundert mit der Thematik Antisemitismus beschäftigt haben. Leider wurden einige dieser Texte später nur noch wenig beachtet.

Martin A. Völker jedoch ist Literaturarchäologe. Er gibt immer wieder scheinbar vergessene Bücher neu heraus. Sein neuester Fund ist Gerhard von Amyntors kurzer Text Eine moderne Abendgesellschaft von 1881, den Völker mit dem Untertitel Plauderei über Antisemitismus betitelt hat. Die Wahl eines Textes von Amyntor drängt sich da auf, da er erstens, heute kaum noch Beachtung und Rezeption findet und gerade er sich immer wieder in Essays und Romanen mit Antisemitismus beschäftigt hat.

Wie der Untertitel schon andeutet, diskutiert eine zeitgenössische Abendgesellschaft über die Rolle der Juden im Deutschen Kaiserreich – und zwar insofern in einer Plauderei, als dass sie sehr assoziativ und sprunghaft verläuft. Im ersten Teil des Textes hat Amyntor nach eigener Aussage wortwörtlich (auch wenn dies zu bezweifeln ist) den Dialog dieses Tischgesprächs auf dramaturgische Weise wiedergegeben, an dem er teilgenommen, sich aber still verhalten hatte. Anonymisierte Protagonisten diskutieren hier, die benannt werden als Licentiat, Alte Jungfer, Arzt, Literat, Maler oder Geheimrat. Begonnen wird mit einer Religionskritik, die sich ein religiös homogenes christliches Reich wünscht, um sich sofort in rassistische Äußerungen zu ergehen über angebliche Nasenformen und die vermeintliche Geldgier von Juden. Immer wieder werden diese Formen von religiösen Antijudaismus und rassistischen Antisemitismus miteinander vermengt und sind schon gegen Mitte des Dialogs nicht mehr differenzierbar. Bis auf den Literaten sprechen sich alle gegen Juden und das Judentum aus, alleine schon des guten Tons wegen oder um ihre Ressentiments gegenseitig zu pflegen. Dies passiert natürlich – was das Ganze sehr realistisch erscheinen lässt – in unterschiedlichen Graden.

Während der Centrumsmann noch etwas gemäßigt wird (schließlich wurden Mitglieder des Zentrums im Bismarckschen Kaiserreich auch noch des internationalen und systemoppositionellen Ultramontanismus bezichtigt, und hatten als politische Minorität somit selbst zu kämpfen), demonstrieren die Alte Jungfer und der Arzt ihren Antisemitismus frei und stolz, beziehungsweise unterstellt Letzterer diesem sogar noch eine historische Rationalität, die sich durch angebliche Ausnahmen wie den gut integrierten Moses Mendelssohn nicht widerlegen ließen. Der sich in der Minderheit befindende Literat ist als ihr Antagonist zwar des Antisemitismus unverdächtig, argumentiert aber weniger für Vielschichtigkeit, sondern meint auf sehr selbstgefällige Weise, dass Juden von Natur aus (also ebenso eine biologische oder zumindest kulturelle Annahme für ein sogenanntes Volk) konservativ seien und ergo bei juridischer und sozialer Gleichheit zur Stabilität des Reiches beitrügen, anstatt gegen die ungerechten Regeln dieses Systems zu rebellieren. Kurz gesagt, mehr als utilitaristisch-konservative Argumente bietet auch der Schriftsteller nicht auf, und kritisiert das Phänomen Antisemitismus auch nicht kategorisch oder systemkritisch.

Man könnte sagen, Amyntor hat dies aus gutem Grunde niedergeschrieben, scheint dies doch ein repräsentatives Gespräch unter der nationalen Bourgeoisie über Juden im 19. Jahrhundert gewesen zu sein. Den Grund, warum er dies niederschrieb, erfährt man jedoch im zweiten Teil, der sich vom dramaturgischen Dialog zu einer autobiographischen Erzählung wandelt. Als sich nämlich die Diskussion nur noch in wilden und chaotischen Rufen entlässt, entfernt sich der Beobachter (Amyntor) mit seiner attraktiven Tischnachbarin, die ihn daraufhin informiert Halbjüdin zu sein, und dementsprechend ihre Angst vor solchen Umtrieben äußert. Sie bittet ihn das Gespräch niederzuschreiben, und er garantiert ihr, kein Antisemit zu sein, sondern sie nach wie vor zu schätzen.

Auf den letzten Seiten wandelt sich der Text erneut zu einer sehr kurzen essayistischen Stellungname Amyntors über den Antisemitismus seiner Zeit, den er etwa als explosive Geschmacklosigkeit und pharisäische Niederträchtigkeit tituliert. Auch scheint er hier ein Theodor W. Adornos und Max Horckheimers Dialektik der Aufklärung zumindest in einem Gedanken zu antizipieren, da er im Antisemitismus eine Verbindung aus Aufklärung und Hexenverfolgung ausmachen will. Dennoch scheint Amyntor die judenfeindlichen Äußerungen Martin Luthers zu relativieren.

An sich handelt es sich hierbei um eine kurze und nicht sonderlich komplexe Momentaufnahme eines rassistischen Phänomens, mit einer teilweise recht oberflächlichen und banalen Beschreibung. Empfehlenswert wird die Neuherausgabe des Büchleins erst durch Völkers angegliederten Essay zu Amyntors Leben und Werk, der jedoch beinahe so lang ist wie der eigentliche literarische Hybridtext. Hier geht es um die partiell elitäre Ästhetik des Dichters, seine Abneigung gegen Emile Zola, woher das Pseudonym Amyntor stammt; daher nämlich, dass dieser Dichter sich als Verteidiger in schwierigen Lagen sieht, und der Name als dessen lateinischer Ursprung fungiert. Auch geht es um seine Auseinandersetzung mit der sozialen Frage und der Judenfrage, und hier stellt er sich sowohl gegen den Sozialdarwinismus als auch den Marxismus und nimmt stattdessen eine Haltung eines sozialreformerischen Konservatismus ein, was höchst paradox erscheint. Jedenfalls gelingt es Völker in einer sehr komprimierten, aber eloquent-sachlichen Manier die wichtigsten Punkte zu beschreiben, die es braucht, um diesen verlorengegangenen Dichter – auch wenn es sich nicht um einen verlorengegangenen Schatz handeln mag – neu zu entdecken, kann dieser doch teilweise einem das Handwerkszeug geben, um den neuen Rechtsextremismus zu bekämpfen.

Titelbild: © Elsinor Verlag