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24 Wochen – Julia Jentsch, Bjarne Mädel und eine Entscheidung

Wenn selbst in den leichtesten Szenen eine große Bedrückung liegt, handelt es sich um großes Kino. Bis der Druck zur Belastung wird. 24 Wochen von Anne Zohra Berrached.


Schon Arthur C. Danto stellte in seinem Aufsatz Moving Pictures die Frage, ob die konkrete Filmvorführung Teil einer Filmbesprechung sein sollte. Aufgrund automatisierter Vorführungsprozesse und der Austauschbarkeit von Vorführungen beschließt er, es nicht zu tun, und viel spricht ohnehin nicht dafür. Dennoch färbt es die Erfahrung eines Films, wenn bei einem einzigen Kinobesuch gleich zwei Personen ohnmächtig werden und mit Hilfe anderer vorzeitig den Saal verlassen müssen, während der Film fast hintergründig gnadenlos weiterläuft. Dies mag mutmaßlich auf ein Lüftungsproblem des Kinos (dessen Identität geschützt werden soll) zurückzuführen sein, aber es fällt schwer, die Möglichkeit auszublenden, dass es auch mit dem vorgeführten Film zusammenhängen könnte: 24 Wochen. Denn der Film weist, obwohl er auf konkrete Gewaltdarstellungen verzichtet, tatsächlich eine gewisse Brutalität auf, die auch für sein Publikum zur körperlichen Belastung werden kann.

Sein brutalstes Stilelement ist, dass der Film eigentlich alle Kriterien erfüllt, eine unbeschwerte Komödie zu sein. Vom Cast bis hin zu den Dialogen. Auch das Grundsetting um eine junge, erfolgreiche Familie in der Medienszene, die ihr zweites Kind erwartet, scheint zu stimmen. Und selbst Julia Jentsch, dem Publikum vor allem bekannt durch nachdenkliche, komplexe Rollen, gibt hier die unkritische Stand-Up-Komikerin Astrid Lorenz. Bjarne Mädel wiederum schafft es seit Jahren wie wenige andere, seine Rollen vollständig auszufüllen und gleich mehrere von ihnen – sei es Berthold “Ernie” Heisterkamp oder Tatortreiniger Heiko “Schotty” Schotte – zu popkulturellen Persönlichkeiten erwachsen zu lassen. In 24 Wochen jedoch tritt er in ungekannt ernsthafter, zurückgenommener Rolle auf und verkörpert Markus Häger, den Manager und Ehemann Astrids. Gerne würde man den beiden eine Weile in ihren antitypischen Rollen zusehen, und erfahren, wie sie diese entwickeln. Doch das Drehbuch hat andere Pläne und konfrontiert die beiden Charaktere mit ihren Inkohärenzen: Astrid mit ihrer Oberflächlichkeit, Markus mit seiner Zurückhaltung.

Beide werden gezwungen, eine folgenreiche und ethisch komplexe Entscheidung zu treffen, die ein wehrloses Wesen betrifft, für das sie die volle Verantwortung haben, nämlich das ungeborene Kind, das sie erwarten. Nicht nur ist dieses geistig behindert, worauf beide sich einlassen können, auch stellen Ärzte einen schweren Herzfehler fest, der unmittelbar nach der Geburt mehrere risikoreiche Operationen am offenen Herzen notwendig macht. Die deutsche Rechtsprechung gewährt den beiden allein schon durch die geistige Behinderung die Option einer Spätabtreibung, also einer künstlich eingeleiteten Geburt nach der 23. Schwangerschaftswoche, bei der dem Neugeborenen durch eine Kaliumchlorid-Spritze jede Überlebens-Chance genommen wird. Weiß man bereits durch Ankündigungen und Teaser, dass es sich bei dem Film um ein Drama über eine Abtreibungsfrage handelt, so beeinflusst dies von Anfang an den Eindruck der fast überzeichnet heilen Welt der Protagonisten. Auch verfärben sich die Anfangseinstellungen, die Comedy-Auftritte Astrids zeigen, in welchen sie ihr flaches Programm präsentiert und noch angesichts ihres Schwangerschaftsbauch darüber witzelt, ob sie nun einen Jungen oder ein Mädchen bekommt, und wie sie es am besten rollengerecht erziehen würde.

Schnell wird deutlich, dass man hier Julia Jentsch dabei zusehen kann, ihre komplexeste Rolle überhaupt zu entwickeln. Die Anspannung, die die beiden Protagonisten im Laufe des Films übermannt, ist dem Filmpublikum von Anfang vor Augen. Ein weiteres beeindruckendes Stilelement des Films besteht darin, dass sämtliche Mediziner und Pflegemitarbeiter nicht von Schauspielern, sondern echten Fachkräften verkörpert werden. Mit schonungslos fachgerechter Sachlichkeit konfrontieren sie die beide mit ihrem Schicksal, was für das Filmpublikum eine zermürbend realistische Wirkung hat. Nebenbei schafft Regisseurin Anne Zohra Berrached mit dem Film auch ihren eigenen Kosmos, da sie Figuren aus ihrem Debüt-Film Zwei Mütter wieder auftauchen lässt. Sie treffen in einer Kinderstation auf Astrid und Markus und nehmen Einfluss auf sie.

Den größten Einfluss auf die beiden übt jedoch ihr privates Umfeld aus, das schnell seine Leichtigkeit und scheinbare Offenheit verliert. Ebenfalls spielt der mediale Druck, der auf ihnen lastet, eine erhebliche Rolle. Daher sind auch die Cameo-Auftritte einiger deutscher Comedians wie etwa Dieter Nuhr etwas irritierend. Denn in seiner Ganzheit betrachtet liest der Film sich durchaus als Kritik am oberflächlichen Medienbetrieb, konkret der Comedy-Szene, deren Vertreter zwar in der Lage sind, mit Witzen über Beziehungen und Rollenbilder Alltagskonflikte zu relativieren, echten Problemen und wirklichen Herausforderungen in Beziehungen jedoch in keiner Weise gewachsen sind. Für Astrid und Markus stellen die ärztlichen Diagnosen ein jähes Erwachen aus dieser Scheinwelt dar. Schnell erkennen sie, dass sie in ihrer Situation alleine sind und dass sie es nicht einmal schaffen, gemeinsam zu einer rationalen Entscheidung zu finden. Doch sie finden eine.

Sicher ist es möglich, den Film auch ohne Ohnmachtsanfall zu Ende zu sehen, trotzdem gelingt Berrached mit 24 Wochen die vielleicht bedrückendste und einnehmendste deutsche Produktion seit Sebastian Schippers Victoria.

Quelle: YouTube

Titelbild: © Friede Clausz, Neue Visionen Filmverleih