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“Im Land der Wolken” – Wolken und andere Appartigkeiten

„Der Himmel ist voller Ideen, die in verschiedenen Wolken vorbeifliegen“, schreibt Alexandra Helmig in ihrem von Anemone Kloos umwerfend bebilderten Kinderbuch. „Man braucht sie nur anzutippen“, heißt es weiter, „und schon blitzt eine Idee auf.“ Die eher positive Erkenntnis, dass im Land der Wolken Langeweile ein unbekanntes Phänomen ist, schwingt in einen kritischen Tonfall um, da die Wolkener das selige Nichtstun verlernt zu haben scheinen.


 

Eine allegorische Lesart drängt sich auf, wonach mit „Wolken“ eigentlich Smartphone-Icons und mit „Ideen“ die dazugehörigen zahllosen Apps gemeint sind, denn tatsächlich wird jegliche, auch die gute Langeweile etwa in Form von produktiver, seelisch wertvoller Kontemplation nur allzu gerne zwanghaft im Keim erstickt. Allerdings ist der kritische Ansatz etwas seltsam gewählt, denn die hier angeführten Beispiele des wolkeninduzierten Endlostainments – Papierschnipselpolkas, Schneeflockengesänge und Wollmauskitzeleien – sind eher als harmlos bis poetisch denn problematisch einzustufen. Andererseits wird hier womöglich versucht, die Ambivalenz zwischen Kreativität und Nützlichkeit mobiler Software auf der einen und infomanischer Neurosenverherrlichung auf der anderen Seite – kaum ein Fluch/Segen kommt ohne Segen/Fluch daher, schon gar nicht, wenn es um Internet und Verwandtes geht – wahrheitsgetreu einzufangen? Fakt ist: „Es gibt so viele Wolken, dass die Menschen Angst haben, die besten zu verpassen. Außer Henry.“

Der Antiheld Henry (könnte auch Daniel heißen) möchte nämlich nicht „von Wolke zu Wolke“ springen und so die ultimative Rastlosigkeit heraufzubeschwören, sondern Wolken Wolken sein lassen und sie höchstens mal aus sicherer Entfernung betrachten, was ihm leider den Seltsamkeitsbefund einbringt: „Die Kinder haben Angst vor Henry. Sie glauben, dass er eine ansteckende Krankheit hat.“ Als die hübsche Sara in die Nachbarschaft zieht, will vor allem Lukas, der als „König der Wolken“ bekannt ist (und nebenbei Steamboy aus dem gleichnamigen Anime ziemlich ähnlich sieht), mit ihr befreundet sein. Doch mit seinem Cloud-basierten Charme kann Sara wenig anfangen, Sonderling Henry ist ihr da auf Anhieb sympathischer. Der sozial entwöhnte Henry ist überrascht und angetan von dem bezaubernden Mädchen und ihrem Interesse für ihn, und schon bald liegen die beiden gemeinsam im Gras und lassen das Nichtstun ihren Lebensrhythmus bestimmen – aber erst, nachdem Sara verstanden hat, wie das mit dem Nichtstun überhaupt funktioniert. Indes warten Lukas und die anderen Kinder gespannt darauf, dass jede Sekunde etwas Besonderes passiert. Doch das einzig Besondere ist, dass es beim Nichts bleibt. Und dieses Nichts scheint plötzlich eine Attraktivität auszustrahlen, die vorher gut verborgen war, sodass einem klassischen Happy End nichts mehr im Wege steht: „Für einen Moment vergessen alle Kinder die bunten Wolken und sie nehmen Henry in ihre Mitte.“

Und die Moral dieser vielleicht nicht ganz runden, aber doch schönen Geschichte? Soll ich nun in Zeiten ultrafähiger Acht-Kern-Prozessoren endlich mein zwecks Absenden einer großväterlichen SMS hie und da gezücktes, gelegentlich klemmendes Urviech mit Cretina-Auflösung gegen das Samsung Galaxy, welches mir mein viel zu früh verstorbener Onkel hinterlassen hat, eintauschen und mich in die technophrene Never-Om-Gesellschaft eingliedern? Oder doch lieber den wenigstens ab und an wolkenlosen Realhimmel genießen, der zu den weniger penetranten Aspekten des Lebens gehört?


 

Quelle Beitragsbild: mixtvision-verlag

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