An “Cargo 200” von Alexej Balabanow scheiden sich die Geister der Kritik, was ist angebracht: Psychotheraphie oder Auszeichnungen?
Die Handlung von Alexej Balabanows – seines Zeichens Zyniker und „Makaberettist“ – bereits vor Abschluss der Dreharbeiten berüchtigtem, laut Vorspann auf wahren Begebenheiten basierendem Film „Cargo 200“ spielt 1984, nicht lange vor Anbruch der Perestrojka, im Industriekaff Leninsk. Wie ein Menschenfleischwolf spuckt der Afghanistan-Krieg nach Input/Output-Manier jene im Titel euphemistisch bezeichneten Metall-Kisten mit gefallenen Soldaten in die Heimat aus, nur um im gleichen Atemzug neue aufzunehmen (vgl. entsprechende markante Filmstelle). Ein exemplarischer Leichnam in Form von Offizier Gorbunow wird aus dem Transport-Sarg gezerrt und neben eine nackte, ans Bett gefesselte junge Frau geworfen. Als die gequälte Seele in dem Toten ihren „zurückgekehrten“ Verlobten erkennt und daraufhin zu schreien beginnt, ist es weder das erste noch das letzte Mal, dass ihr Unmenschliches widerfährt.
Nach dem Besuch der Dorf-Russendisco macht der draufgängerische junge Alkoholiker Walera (Leonid Bitschewin) zusammen mit seiner Bekannten Anschelika (Agnia Kusnetzowa) gegen ihren Wunsch einen Abstecher zu einem Spiritus-Eremiten (Aleksej Serebrjakow), der in einer abgelegenen Hütte am Rande der Stadt mit Ehefrau und einem vietnamesischen Hausdiener lebt und hochprozentiges Eigenprodukt vertreibt. „Sunka“, so der slawisierte Spitzname des Asiaten, verfügt über eine schlichte Bescheidenheit, die in Kombination mit der unvollkommenen Beherrschung der russischen Sprache für einen raren humoristischen Akzent sorgt. Zugegen ist ebenfalls der Polizeikapitän Schurow (Aleksej Polujan), der schon frühzeitig ein unheimliches, da mit keinerlei menschlichen Gefühlsregungen einhergehendes Interesse an dem mitgekommenen Mädchen bekundet. Da ihr verantwortungsloser Begleiter Walera unmittelbar nach der Demonstration einer im Einsatz erlernten Alkoholabusus-Methode bewusstlos umkippt, ist das Mädchen den sadistischen Perversionen von Polizist/Soziopath Schurow ausgeliefert. Zwar versucht die taffe Frau des Hauses, Anschelika zu helfen, doch schließlich hält den Widerling nichts davon ab, amoralische Willkür walten zu lassen: Er erschießt den gutartigen Vietnamesen kaltblütig und vergewaltigt danach das Mädchen (mangels eines potenten organischen Pendants) mit einer Flasche – die Entartung nimmt ihren Lauf. Erste drastische Bilder werden hier realisiert, die so manchem Zuschauer den Weg aus dem Kinosaal weisen werden. Bekannte russische Schauspieler wie Ewgenij Mironow sind durch das Drehbuch vergrault worden und schlugen das Rollenangebot ab, was laut Balabanow auf Angst und mangelndes Vertrauen zurückzuführen sei. Durchaus beeindruckend ist die lakonische Rigorosität, mit der Balabanow die Abscheulichkeiten inszeniert. Die krassen Gewaltszenen erinnern entfernt an den einen oder anderen für Kinder ungeeigneten Kultfilm (z. B. „Fargo“ oder „Man Bites Dog“), mit dem Unterschied, dass hier kaum ein Lachen angeboten wird, um im Halse stecken zu bleiben. Auch die Darstellung des Polizisten, der mit seiner degenerierten und abstoßenden, über idiotische Sowjetcomedy-Auftritte eines Petrossjan lachenden Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung lebt und das gewaltsam entführte Mädchen die ganze Zeit über angekettet lässt, ist peinlich darauf bedacht, die Schraube der Gewaltästhetik feste zuzudrehen. Die zwischen Hass und Horror hin- und hergerissene Anschelika schimpft, droht und winselt um Gnade, doch das Gesicht des wortkargen und irreparabel geschädigten Entführers, der in seiner pathologischen Leidenschaft ständig von „Ehefrau“ und „unerwiderter Zuneigung“ spricht, bleibt so monströs unbeeindruckt und regungslos, dass der Begriff des Inhumanen einer Untertreibung gleichkommt.
Nachdem Schurow ironischerweise die Ermittlungen im Entführungsfall übertragen werden, holt er beim Vater des Opfers, einem hohen Parteifunktionär, Gorbunows Briefe an dessen Verlobte ab, vorgeblich im Namen des Gesetzes agierend, aber in Wirklichkeit sich erneut über jedes Recht hinwegsetzend, was schon bald die hinterhältigste Szene des Films einleitet: Mit teuflisch monotoner Stimme verliest der Bösewicht die persönlichen Liebesbekundungen des anwesenden Toten, während die mehrfach verstörte und mit Leichen im Bett residierende junge Dame schluchzt und heult.
In einer Epoche unermesslichen Sittenverfalls und debiler Besäufnisse, deren Maßlosigkeit Selbstgebranntes als die russischste aller Seelen ausweist, hilft nur wenig. Dass Artöm (Leonid Gromow), Professor für wissenschaftlichen Atheismus, nach einem Disput über Gottes Stellung im Kommunismus am Schluss des Films in eine Kirche geht und darum bittet, getauft zu werden, ist nur ein schwacher Trost. Es ist ein wuchtiger Film, der die Seele so schwer belastet wie der nicht nur ein semantisches, sondern zu einem gewissen Grad auch onomatopoetisches Gewicht implizierende Originaltitel „Grus 200“. Den Soundtrack zu diesem Filmmonstrum bildet (mit Ausnahme der alternativen Kultsongs von Кино) ein tendenziell trashiges Pop-Liedgut, dessen gnadenloser Optimismus diese grausige (Polit-)Groteske bekräftigt.
Rund zehn Jahre plante Balabanow dieses Projekt, das auf radikale, subversiv-verachtende Weise mit der ethisch und ästhetisch entstellten Sowjet-Ära abrechnet. Doch solche künstlerische Kompromisslosigkeit wird nicht nur belohnt, was unter anderem die zuweilen feindseligen Reaktionen nach der Weltpremiere auf dem Filmfestival „Kinotawr“ in Sotschi zeigten: Statt den Film mit einer Auszeichnung zu ehren, wurde dem Regisseur eine Psychotherapie ans Herz gelegt. Auch traute sich kein Verleiher an die gefährliche „Fracht“ heran. Allerdings gab es auch günstiger gestimmte Kritiker, die Lob in den allerhöchsten Tönen walten ließen: Vom besten Regisseur Russlands, von einem genialen Meisterwerk und vom bedeutendsten Film der letzten Jahre war die Rede. In der Tat steht der sardonische Psychothriller den erschütternden Arbeiten eines Lars von Trier („Dogville“), Gaspar Noé („Irréversible“) oder Bruno Dumont („Twentynine Palms“) in nichts nach.
Daniel Ableev, *1981 in Nowosibirsk; lebt als freier Seltsamkeitsforscher in Bonn. Veröffentlichungen in On- und Offline-Zeitschriften und –Anthologien; ausgezeichnet mit dem „KAAS & KAPPES“-Theaterpreis 2011 für D’Arquette; Mitherausgeber von „DIE NOVELLE – Zeitschrift für Experimentelles“. www.wunderticker.com / www.wunderticker.de