Vor dem Aufbruch in 2019 haben acht postmondänler nochmal darüber nachgedacht, was sie 2018 beschäftigt hat, und wagen einen Rückblick ins Lesejahr. Im Zentrum stehen fünf Themen, die das Jahr umranden: Ausdrucksformen, Lebenskonzepte, Symbiosen, Zeitreisen und Rassismus.
von Dirk Sorge, Simon Rösel, Florence Wilken, Katharina van Dülmen, Lennart Colmer, Dominik Gerwens, Gregor van Dülmen und Moritz Bouws
Übers Schreiben schreiben
Dirk über Nichtrechthabenwollen von Martin Seel
Martin Seels Gedankenspiele mit dem sperrigen Titel „Nichtrechthabenwollen“ sind Spiele ohne festes Regelwerk. Es ist ein Buch ohne Handlung, das – vereinfacht gesagt – versucht, auf der Grenze zwischen Philosophie und Literatur zu balancieren. Es ist eine ungewöhnliche Mischung aus philosophischen Aphorismen, poetischen Einfällen und autobiographischen Einschüben. Es ist ein Buch, das das Schreiben selbst thematisiert und mit verschiedenen Formen experimentiert. Es lotet die Grenzen des logischen Argumentierens und des linearen Denkens aus und reflektiert dabei über die Möglichkeiten von Sprache.
Was zunächst sehr allgemein und abgehoben klingt, gelingt Seel insgesamt recht anschaulich. Wenn man sich darauf einlässt, ist es streckenweise sehr unterhaltsam, zu beobachten wie sich Seel immer wieder selbst im Denken unterbricht und von vorne beginnen muss. Seel baut in seine Überlegungen viele Querverweise zum Kanon der europäischen Philosophie und Literatur, zur Jazzmusik und zum Kino ein. An einigen Stellen wirkt das leider wie ein bloßes name dropping, ohne inhaltlichen Mehrwert.
Die stärksten Momente sind meiner Meinung nach die, in denen er über Alltagsbeobachtungen, wie das Bahnfahren oder das Auflösen einer Wohnung schreibt, oder über andere biographische Erlebnisse. An diesen Stellen gelingt es Seel am besten, mit Assoziationen zu arbeiten, ohne in einen belehrenden Duktus zurückzufallen. Hier hätte sich Seel gerne mehr vertiefen können, um sich etwas mehr von den großen Vorbildern und Gewährsmännern (Wittgenstein, Kant, Proust, etc.) lösen zu können. Jedenfalls führt Seel eindrücklich vor, wie schwierig es ist, eine Form zu finden, in der Gedanken ausgedrückt werden können, die nicht anfechtbar sein sollen.
Selfieliteraturen
Simon über Kämpfen von Karl Ove Knausgard
Mein Jahr endete so, wie es begonnen hatte – mit Karl Ove Knausgard. Anfang des Jahres las ich gerade an Band 3 des autobiografischen Min-Kamp-Zyklus. Jetzt, zwischen den Jahren, beginne ich mit dem letzten Buch der Reihe. Auf Deutsch heißt er Kämpfen. Seit ich die Bücher 4 und gelesen habe sind sicher zehn Monaten vergangen. In der Zeit habe ich oft über Knausgard gelästert. Ich sagte auf Partys oder im Café, er sei eitel, ein Mann, der Männerprobleme aus einer Männersicht erörtere. Sein Gestus der Selbstoffenbarung ging mir auf die Nerven. Jedesmal sagte ich aber dazu, dass ich die Bücher gut fand.
Trotzdem hat meine Familie Weihnachten wenig von mir gesehen. Dafür hab ich schon 200 Seiten des sechsten Bandes gelesen. Knausgards eigener Zwiespalt zwischen Selbstzweifel und Narzissmus überträgt sich auf das Leseerlebnis, das abstoßend und anziehend zugleich ist. Er schafft es wie wenige andere, die Selbstreflexion seiner Leser٭innen in Gang zu setzen. Auf einmal sehe ich mich selber als literarische Figur und denke über mich in präzisen Sätzen. Außerdem erkenne ich manche seiner Geschichten in ähnlicher Form in meinem eigenen Leben. Welche das sind, ist mir hier zu peinlich zuzugeben, aber vielleicht wäre das Stoff für einen Roman?
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Kurz und intensiv
Florence über Das Leben ist kurz von Marin Mosebach
Ein Jahresrückblick ist dazu da, sich Vergangenes noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Noch einmal las ich Mosebachs Erzählband mit zwölf kurzen „Bagatellen“. Fein säuberlich in vier Kapitel geteilt mit je drei Erzählungen, mal fiktiv mal autobiographisch, begegnet man unterschiedlichen Charakteren. Mosebach legt sehr subtil und mit gekonnter Ironie auch die unsympathischen Charakterzüge seiner Protagonistinnen frei. Ein gekränkter, kränkelnder Tenor, dessen Eitelkeit sich als Vorbote des drohenden Karriereendes aufbläht. Oder die Malerin, die aus Faszination und Schaffensgier die Zerbrechlichkeit eines Taubeneis ignoriert. Es gibt da aber auch die liebevollen Worte eines Fahrradfreundes, der sich an den freien Schwung erinnert, mit welchem er dem erdrückenden Schulalltag entfuhr. Die Kürze der Texte spiegelt sich im Titel. Trotzdem erscheinen die Welten, in die Mosebach uns einen Blick werfen lässt, extrem reichhaltig. Man meint, den Fahrtwind zu spüren, fühlt die Beklommenheit in der Opernprobe, sieht die Eleganz des spaghettiservierenden Fräuleins unter der mit Weintrauben bewachsenen Pergola vor sich. Ein kurzweiliges und intensives Leseerlebnis.
Der Fall Ida
Katharina über Ida von Katharina Adler
Stimmverlust, Husten, Ohnmachtsanfälle und ein Abschiedsbrief – ein klarer Fall für Doktor Sigmund Freud. Da war sich der Texilfabrikant Philipp Bauer sicher und schickte seine Tochter 1900 zu dem von ihm sehr geschätzten Arzt. Ida Bauer wurde eine der berühmtesten Patientinnen des Begründers der Psychoanalyse – nicht zuletzt, weil die „widerspenstige“ Patentin die Therapie eigenmächtig abbrach. Den „Fall Dora“ veröffentlichte Freud einige Jahre später, 1905, in seiner Schrift Bruchstücke einer Hysterie-Analyse.
Aber wer war diese Ida Bauer bzw. später Ida Adler wirklich? Das fragte sich auch ihre Urenkelin Katharina Adler. Sie wollte ein Buch über eine Frau schreiben, „die man nicht als lebenslängliche Hysterikerin abtun oder pauschal als Heldin instrumentalisieren kann“. Ist ihr das gelungen? Ida basiert auf dokumentarischem Material; alle Leerstellen füllte die Autorin jedoch mit Fiktion. Aber war es nicht auch Freud, der behauptete, dass seine „Krankengeschichten […] wie Novellen zu lesen sind“ [Studien über Hysterie, 1895]. Und wurden nicht auch in seinen Schriften literarische Muster aufgedeckt?
Nichtsdestotrotz: Ida ist keine Biografie, sondern ein Roman, in dem Freud nur indirekt zu Wort kommt. Und in dem eine Frau porträtiert wird, die kaum greifbar ist. Auch sind weder Arzt noch Patientin Sympathieträger٭in: Freud ist etwas zu fixiert auf seine (Traum-)Deutungen; Ida, zu sehr auf sich selbst fokussiert, fehlt es an Empathie für ihr Mitmenschen. Gespickt mit vielen Anekdoten, die sich nicht immer in den Gesamtkontext einordnen lassen, wird nicht ganz deutlich, wo der Roman hinmöchte – und geht selten in die Tiefe. Ob Freud das gefallen hätte? Gelungen ist der Autorin aber trotzdem ein sehr gut recherchierter und lesenswerter Familienroman.
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Zweimal zurück in die Neunziger
Lennart über Sommerfrauen, Winterfrauen von Chris Kraus
Die Neunziger sind zurück. Das sagen zumindest all die Plakate, die auf Motto-Events in jeder Nähe hinweisen. Sommerfrauen, Winterfrauen spielt zu der heute nostalgisch-reanimierten Zeit, in der Blümchen und Buffalos angesagt waren – jedoch weitab von jenen Eurodance-Trends. Es ist 1996 und ein junger deutscher Filmstudent taucht für wenige Wochen in New York ab, um… nun, er weiß es selbst nicht genau, zu suchen. Getreu nach dem Motto „Wer sucht, der findet nicht“ stößt er dabei auf merkwürdige Menschen (sich selbst eingeschlossen) und seine unbequeme Familiengeschichte. Chris Kraus erzählt auf eine distanzlose wie sensible Weise, von den Leben und Leiden seiner Protagonisten, ohne sie dabei zu verraten.
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Lennart über Nordkraft von Jakob Ejersbo
In vielerlei ist dieser Roman näher an den 90er Jahren dran als oben genannter von Chris Kraus. Jugendliche, bereits gescheiterte Existenzen verzweigen sich im Dänemark jener Jahre zu einem schicksalhaften Beziehungsgeflecht und werden zu einem Perpetuum Mobile ihrer eigenen Geschichten, die Jakob Ejersbo auf eindrückliche, schnörkellose Weise erzählt. Der Leser kommt Menschen und Situationen nahe, welchen er lieber fern bleiben möchte. Auf der anderen Seite saugen Ejersbos Protagonisten ihn wieder an – wer Klischees aus dem Drogensumpf erwartet, wird mit teils rührender, teils abstoßender Menschlichkeit entwaffnet. Harte Schale, weicher Kern – mit einem harten Kernchen.
Nordkraft erschien 2004 bei DuMont.
Eine zeitlose Liebe
Lennart über Gun Love von Jennifer Clement
Eine melancholische Geschichte, die in der heutigen Zeit angesiedelt ist und zugleich eine magische Zeitlosigkeit ausstrahlt, erzählt Jennifer Clement in Gun Love. Der American Way of Life stößt hier auf eine unnachgiebige, langsam zersetzende Realität, in der eine junge Mutter mit ihrer Tochter lebt. Letztere führt den Leser durch ihre Welt, die stets zwischen leichtem Traumtanz und bitterer Härte balanciert. Wo schließlich der kleine, selbst gewobene und immer wieder zusammengenähte Frieden der kleinen Familie von Zerstörung heimgesucht wird, erblüht stille aber unaufhaltsame Rache in der Protagonistin Pearl. Ob das, was man spontan Happy End nennen möchte, tatsächlich eines ist, lässt sich vor dem Hintergrund der sich immer dramatischer zuspitzenden Geschichte kaum beantworten.
Geschichte einer Symbiose
Dominik über Das letzte Jahrhundert der Pferde von Ulrich Raulff
Vergangenheit entsteht ja eigentlich nur dadurch, dass der Mensch sich auf etwas bezieht, das nicht mehr präsent ist, und so setzt Erinnerung immer das Bewusstsein des Bruchs zwischen zwei Zeiträumen voraus, die Menschen meist Zeitalter nennen. Das Zeitalter, auf das der Westfale Ulrich Raulff in seinem Buch den Blick zurückwirft ist jenes, das dem Menschen den Eintritt in die Moderne und die industrialisierte Welt der Gegenwart ermöglichte und trotzdem der Vergangenheit angehört: es ist das Pferdezeitalter.
Animate History, Human Animal Studies – nicht erst seit den Bestsellern von Yuval Noah Harari wird in der Geschichtswissenschaft nach dem spezifischen Verhältnis von Mensch und Tier und wie es unsere Lebenswelt bestimmt, gefragt. In Das letzte Jahrhundert der Pferde lernt der٭die Leser٭in ebenjene Tiere als Akteure von historischer Tragweite kennen, deren enge Beziehung mit dem Menschen die unsere geteilte Welt so maßgeblich geprägt haben, dass man letztere eigentlich in Pferdezeitaltern gliedern müsste – vor, während und nach dem, was der Autor den „kentaurischen Pakt“ nennt. Universalhistorisch angelegt, elegant und mit viel Einfühlsamkeit geschrieben, hier und da vielleicht auch mit ein bisschen Wehmut angereichert, verbindet Raulff mit beispielloser erzählerischer Souveränität und frei von Überfrachtung Kulturgeschichte mit persönlichen Anekdoten, Mythos mit Theorie und begründet mit seiner Geschichte des Pferdes nahezu ein eigenes Genre.
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Über Verantwortung
Gregor über Die Tagesordnung Eric Vuillard
2018 war ja auch ein Jahr verschwimmender Grenzen zwischen Information und Fiktion – von redaktionell frei erfundenen Spiegel-Reportagen bis zu belletristischen Sachbüchern wie Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste und eben auch Eric Vuillards Die Tagesordnung. In diesem richtet Vuillard literarisch ein paar Außenseiterperspektiven auf die Machtexpansion des Nationalsozialismus. Mit einem Erzählstil, der an Tolstoi erinnert, gleitet Vuillard durch Szenen, Schauplätze und Köpfe. Er springt hin und her zwischen einigen strategisch-mafiösen Schachzügen deutscher Machthaber. Am imposantesten hallt eine zentrale Szene nach, die das Treffen einiger deutscher Großindustrieller im Februar 1933 nachvollzieht, welche einen Geschäftstermin beim neu ernannten Kanzler wahrnehmen. Dieser, Hitler, suchte in der geladenen Gesellschaft finanzielle Unterstützung für die Reichstagswahl, und stärkt deren Interesse durch das Versprechen, sie in ihren Fabriken durch Zerschlagung von Kommunismus und Gewerkschaften ebenfalls als kleinen Führern freie Hand zu lassen – ein ehrenwerter Pakt, dem alle Beteiligten konsequent Folge leisten sollten.
Auf wenigen Seiten veranschaulicht Vuillard so Verantwortungen und Kontinuitäten von 1933 bis heute in Namen wie Siemens, Opel oder thyssenkrupp. Im Unterschied zu Tolstoi führt Vuillard seine Betrachtung aber nicht als im Grunde allwissender Erzähler aus, sondern stellt seine Leser٭innen selbst als im Grunde allwissend bloß, die gezwungen werden, sich ein paar Zusammenhänge neu bewusst zu machen, zum Beispiel die von unseren Haushaltsgeräten, mittelmäßigen Autos oder Rolltreppen zu Zwangsarbeit und Massenmord. Das Bewusstsein wird sogar zum dringenden Appell, vor allem an heutige Unternehmen, sich zu positionieren. Die Tagesordnung erschien ja nicht zufällig in Tagen, in denen antidemokratische Strömungen in vielen Industriestaaten zunehmen und Unternehmen gleichzeitig mehr Macht denn je besitzen.
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Träume aus der Zeitkapsel
Gregor über Nur einmal von Kathleen Collins
Nur einmal von Kathleen Collins ist eine Kurzgeschichtensammlung, die buchstäblich aus einer Zeitkapsel kommt: geschlossen irgendwann in den 1960er-Jahren, wieder geöffnet erst Jahre nach dem Tod der Autorin durch ihre Tochter, und voller knapper Manuskripte aus Jahren der Bürgerrechtsbewegung, als nicht wenige sich ein Leben in bunten, weltoffenen USA ausmalten. Durch einen fast fotografischen Schreibstil, mit dem es Collins schafft, Charaktere ihrer eigenen Lebenswelt realistisch abzubilden, gewährt sie Zugänge zu einer jungen Generation, die so hoffnungsfroh auf eine gleichberechtigte Zukunft im Regenbogenstaat blickt, dass es einen 2018 erschauern lässt, wie wenig von dieser Hoffnung überlebt hat.
Collins‘ Kurzgeschichte Whatever happened to interracial love? zum Beispiel fragt Ende der 60er-Jahre, warum sich die ganzen „interracial couples“, die in New York um 1963 herum eine Selbstverständlichkeit waren, nicht nur schon wieder getrennt, sondern bereits wieder undenkbar geworden sind. Der gerade erst gegründete Kampa Verlag tut sich und uns einen großen Gefallen damit, Collins‘ Geschichten in sein Debüt-Programm aufzunehmen. Endlich bekommt das Werk der bereits 1989 verstorbenen Autorin und Regisseurin auch bei deutschsprachigen Leser٭innen die Aufmerksamkeit, die es zu ihren Lebzeiten verdient hätten.
How to be an African
Moritz zu Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie
Dem dritten und aktuellsten Roman von Chimamanda Ngozi Adichie wird sicherlich nicht zu Unrecht bereits jetzt weltliterarischer Charakter zugeschrieben. Als Spiegelbild ihres literarischen und öffentlichen Engagements sowie der eigenen Lebenserfahrung gelingt es Adichie in Americanah auf beeindruckende Weise die weiten Felder Feminismus, Identität, Exil und Rassismus mit Stringenz und Leichtigkeit unter einen Hut zu bringen. Die Geschichte zweier sich liebender Menschen, die sich aus den Augen verlieren und doch wieder zueinander finden ist nicht innovativ. Dass die beiden Protagonist٭innen, die ihre Jugend zunächst im militärdiktatorischen Nigeria der 1990er Jahre in einer gebildeten und verhältnismäßig privilegierten Mittelschicht erleben, aus Perspektivlosigkeit das Herkunftsland mit verschiedenen Zielen verlassen und unerwartete Wendungen hinnehmen müssen, macht Americanah zu einem zeitgenössisch wichtigen Werk.
Der multiperspektivische Zugriff auf Migration und Identitätssuche in der US-amerikanischen und europäischen Gesellschaft bis in die Obama-Ära legt u. a. das antiquierte und klischeebeladene Weltbild auf den afrikanischen Kontinent, die graduellen Abstufungen von Rassismus und Sexismus, aber auch die Arroganz und Absurdität der akademischen Welt offen. Adichie selbst kennt diese Lebenswelten und präsentiert diese den Leser٭innen zwar humorvoll, verliert dabei die Hervorhebung der dargelegten Probleme aber nicht aus den Augen. Auch wenn Americanah nicht dieses Jahr, sondern im Original bereits 2013 veröffentlicht wurde, hat der Roman nicht an Relevanz verloren, sondern wird in der kommenden Zeit vielmehr an solcher zulegen – auch hinsichtlich der Tatsache, dass afrikanische Schriftsteller٭innen hierzulande nach wie vor zu wenig Berücksichtigung finden.
Titelbild: Herbstprogramm ebenfalls 2018 entstandenen Kampa Verlags, © Gregor van Dülmen