Leerstellen in der Musik: Der Turbostaat-Code

© Gregor van Dülmen

“Haben Sie Beweise? Oder einen Verdacht? Ich kann mir nicht sicher sein.”


Das Auslassen von Informationen hat sich, wie wir ja bereits wissen, als wertvolles Stilmittel der postmodernen Literatur erwiesen, das seine Leserinnen und Leser auffordert, selbst zu Kunstschaffenden zu werden. So gibt es zum Beispiel Kafkas Buch Der Prozess strenggenommen in drei Versionen. Als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die schuldig ist, als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die nicht schuldig ist, als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die nicht weiß, ob sie schuldig ist. Und alle drei Bücher sind bis auf den letzten Buchstaben identisch. Den Unterschied machen Leerstellen.

Zwar haben auch die geschriebenen Passagen einen starken Eigenwert, aber was es besonders macht: Wir sind es schlicht und einfach nicht gewohnt, einen Gerichtsprozess erzählt zu bekommen, ohne etwas über die verhandelte Tat zu erfahren. Zumal aus Sicht des Angeklagten. Und seien es auch nur Indizien. Uns fehlt Wissen darüber, was wir für das Nötigste halten. Leerstellen können also als Auslassungen konventioneller Erzählelemente erfasst werden. Dazu zählen auch innerhalb von Erzählungen unvermittelt aufeinanderstoßende Textsegmente, wie sie ebenfalls von Kafka eingesetzt werden.

Musik und Leerstellen

Wie steht es in der Musik um dieses Stilmittel? Eine Kunstform, die sich in vielen kurzen Einzelwerken ausdrückt und darin immer wieder zu knappen Erzählungen ausholt, müsste davon ja eigentlich durchfressen sein. Dennoch muss zunächst festgestellt werden, dass Leerstellen nicht in jeder Musikrichtung vorkommen und sie vor der Moderne scheinbar überhaupt keine Rolle gespielt haben: Sinfonien und Opern sind in sich geschlossene Werke und auch im Pop gibt es immer wieder Konzeptalben. Manche Künstler unterstellen ihr gesamtes musikalisches Schaffen einer einzigen Erzählung, wie bspw. die Band Coheed and Cambria, deren Gesamtwerk im Ganzen einen abgeschlossenen Science-Fiction-Epos ergibt.

Aber letztere sind krasse Ausnahmen. Denn nichts scheint für Künstlerinnen und Künstler des aktuellen Musikgeschäfts wichtiger zu sein, als ein einzelner, für sich allein stehender Song. Meistens ist dies ein radiofreundlicherweise zwei- bis siebenminütiges Stück, in dem ein Text über Instrumentalspuren gesungen wird. Wobei es natürlich auch die reduzierteren Varianten gibt. Dennoch liegt die am häufigsten angestrebte künstlerische Leistung aktueller Musik darin, in einem kurzen Lied etwas Konkretes so pointiert und anschaulich wie möglich mit sprachlichen und musikalischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Denn selbst wenn ein Lied für einen Albumkontext komponiert wird, konsumieren es viele entkontextualisiert. Auf Shuffle, in algorithmischen Playlists, in Diskos oder als Wecker-Klingelton.

Pop als Diskurs der Motive

Und tatsächlich scheinen die meisten Musikerinnen und Musiker spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts fragmentarisch zu arbeiten – wohl wissend, dass eine völlige Entkontextualisierung ihrer Werke nicht möglich ist. Denn die Popmusik als Ganzes mit all ihren Ästen von Minimal Electro bis Thrash Metal scheint einem musikalischen Gesamtkontext, einem Diskurs der Motive zu folgen. Sowohl textlich als auch musikalisch. Alles, was wir an Musik hören, ist schon in unserer musikalischen Erfahrung konnotiert, denn ohne diese Konnotationen könnten wir es wohl bloß als endliche Reihe von Geräuschen wahrnehmen. Und so erschließen wir neue Lieder und Elemente über ihre Beziehung zu den Liedern und Elementen, die wir bereits kennen.

Wenn wir Pop-Musik hören, erkennen wir sprachliche Ausdrücke wieder, aber auch musikalische Formen. Wir erwarten Reime, Refrains, Riffs und Produktionsstandards. Und erwarten von den Künstlerinnen und Künstlern, deren Kunst wir konsumieren, dass sie all das immer wieder neu erfinden und das Gewohnte mit immer neuen Motiven anreichern – weshalb wohl auch so wenige Künstler den Zeitgeist treffen.

Leerstellen als Progress?

Aber komischerweise bleibt, wenn man es so betrachtet, in der Popmusik gar nicht so viel Platz für Leerstellen, wie man meinen könnte. Denn werden wir tatsächlich mit jedem neuen Song kontextlos in eine völlig fremde Handlung geworfen, wenn es doch die immer gleichen Szenen sind, die in Popsongs beschrieben werden? Häufig gibt es Vorstöße in neue Richtungen, aber sind sie erfolgreich, folgt ihnen prompt ein ganzes Subgenre, das daran anknüpft.

Die meisten Lieder des Pop lassen sich zum Beispiel als Versuche betrachten, einen möglichst treffenden Ausdruck dafür zu finden, dass man eine Person liebt oder es nicht mehr tut, oder dafür, wie man andersherum damit umgeht, dass sie es nicht mehr tut. Sie folgen einem 900 Jahre alten Bestreben der Liebeslyrik. Textlich wird dafür nur der allernötigste Kontext hergestellt, denn es geht darum, die Universalität der besonderen Situation auszudrücken. Und in der findet man sich als entsprechend sozialisierter Hörer schnell zurecht, zumal der musikalische Kontext, in den der Text eingefasst wird, zusätzliche Orientierung bietet. Bestimmte Wendungen sind nunmal im kulturellen Gedächtnis bereits mit bestimmten Ausdrücken verbunden. Wo also bleibt in der Musik überhaupt noch Platz für Leerstellen? Für Orientierungslosigkeit?

Facetten der Avantgarde

Etwas wird Pop, wenn die Gesellschaft, für die es produziert wurde, sich darauf eingestellt hat: wenn ihr die Konnotationen verständlich sind und sie sich darin orientieren kann. Nicht-Pop wäre somit Progress. Wenn eine kunstschaffende Person offen lässt, wie ihr gesamtes Werk überhaupt zu verstehen ist, kann sie, wie Le Colmer beschrieben hat, demnach durchaus als Avantgarde verstanden werden. Das gilt für Alexander Marcus genauso wie für Dagobert oder Moneyboy. Es treten Leerstellen in den kulturellen Konnotationen ihrer Musik auf. Alle drei weisen jedoch auch eine mehr oder minder sehr deutliche Tendenz zum Trash auf. Was aber passiert, wenn eine Band, die ihren Sound gefunden hat und ihn kulturell klar verortet, textliche Leerstellen einsetzt? Wenn ihre Texte keine Orientierung bieten, sondern ihre Hörerinnen und Hörer immer wieder in Szenen wirft und aus ihnen herausreißt? Dies wäre ein Gegenentwurf zu Moneyboy, welcher selbst kein Trash ist, aber eben auch kein Pop.

Turbostaat ist eine solche Band. Sie machen, wie sie in Interviews nicht müde werden zu betonen, Deutschpunk, was ja mittlerweile ein konventionelles Genre ist, das in weiten Teilen einer ursprünglich innovativen Idee nicht mehr viel hinzufügt. Zwar gibt es nach wie vor viele gute Deutschpunkbands, die unermüdlich touren. Aber würde man auf ihren Konzerten ein Phrasenschwein aufstellen, könnte man wohl von dem Erwerb leben. So schade es ist: Die meisten Parolen nutzen ab, auch wenn sie leider immer politisch aktuell bleiben.

Der Turbostaat-Code

Was Turbostaat seit Jahren also anders machen, ist, das Genre auf seine Sprengkraft zurückzuführen. Und zwar gerade indem sie Phrasen vermeiden. Indem sie szenisch-fragmentarische Texte über ursprünglich altbekannte Punkdynamiken legen. Dass sie letztlich dann auch musikalisch ihre Texte eingeholt haben, spielt nur in ihren Plan hinein. Denn mit Turbostaat halten Leerstellen ihren Einzug in den Punk. Betrachten wir ihre Diskographie mal chronologisch:

Flamingo (2001) und Schwan (2003) sind musikalisch noch relativ unbestimmt. Von daher tragen sie recht treffliche Namen. Knüpft die Musik auf Flamingo von ihrer Produktion her eng an kochende Kellerkonzerte an, so weist Schwan durchaus abgeklärtere Tendenzen auf. Flamingo holt die Hörerinnen und Hörer ab, Schwan nimmt sie mit. Aber der aufmerksame Punkfan wird schon auf Flamingo gemerkt haben, dass etwas an Turbostaat anders ist. Irgendwie ergeben sich die sozialkritischen Texte zu einer aufwühlenden, unverständlichen, aber auf tragische Weise schönen Geschichte. Beispiel:

„Es war nicht nur der Tag // Und die Freunde verlassen uns // Haben Leben // Und eigentlich keine Wahl // Außer dir waren alle weg // Und sprachen rätselhaft // Hinter dir sind 5 cm Platz // Und was weiß ich schon zu sagen // Außer mir fehlt ein Gesicht // Seit ich an Oberflächen kratze ist es weg // Redet bitte über Wetter // Sonst bleibt nichts übrig // Und alle haben Angst davor // Zu recht“

TurbostaatRache fūr Mautze

Das Besondere: Einerseits lässt sich der Text als ein wirrer “Stream of Consciousness” verstehen, in dem sich flüchtige mit ausgesprochenen Gedanken vermischen. Andererseits erzeugen die Puzzleteile, wenn man sie mit etwas Gewalt entgegen angebotener Wölbungen zusammensteckt, ein klares Bild einer Person, die sich vom gesellschaftlichen Leben isoliert. Letzteres ist auch das vorherrschende Motiv ihres Gesamtwerks. Es ergibt sich eine melancholische, multiperspektivische Betrachtung der neoliberalen Gesellschaft in all ihrer kritikwürdigen Realität; in der das Individuum selbst (oder vor allem) dann untergeht, wenn es darin aufzugehen glaubt.

Turbostaats Fragmentpunk

Klarer wird all dies auf Vormann Leiss (2007), dem dritten Album. Denn das Alleinstellungsmerkmal der Band frisst sich hier noch viel stärker als zuvor auch in die Musik selbst, was womöglich auch durch den produktionstechnischen Quantensprung unterstützt wird. Die einzelnen Instrumente nehmen sich hier allesamt deutlich stärker zurück. Vieles von dem, was sie auf Schwan noch ausgespielt hätten, deuten sie nur noch an. Was die einzelnen Spuren allerdings auch viel stärker ineinandergreifen und sie als Band reifen lässt. Und wodurch, so eine selbstangestellte Überinterpretation, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse nun auch ein musikalisches Abbild finden. Turbostaat machen spätestens jetzt auch musikalisch kryptischen Deutschpunk.

Quelle: Youtube

Zu besonderer Berühmtheit haben es zwei Phrasen zum Arbeiten und Scheitern geschafft. Zum einen aus dem Titellied Vormann Leiss der Reim „Er macht die Knöpfe fest und drückt sie rein // Wir können alles und alles können wir sein“. Zum anderen der Refrain von Harm Rochel, einer ihrer wichtigsten Singles: „Leb doch mehr wie deine Mutter // Leb bloß nicht wie ich“. Beide Phrasen bringen starke Gefühle auf recht eindeutige Formeln. Die zugehörigen Strophen bieten jeweils verschiedene Kontexte an, in denen sie verortet werden könnten, aber die Textfetzen atmen vor allem durch ihre Übertragbarkeit, was in Harm Rochel etwa durch die zwei verschiedenen Ich-Erzähler der einzelnen Strophen explizit wird:

Quelle: Youtube

Auf Schnitzeljagd

Bislang trug Das Island Manöver (2010) diese Schnitzeljagd auf die Spitze. Mehr noch als die drei Vorgänger lebt es durch die Vielheit textlicher Motive, die selbst die musikalische Weiterentwicklung in den Schatten stellt. Welche Bilder dringen durch? Eine alte Frau möchte im Maisfeld erwürgt werden. Weiß nicht, wen sie dafür fragen könnte. Kennt ihre Nachbarn nicht mehr. Ein Henker gerät in eine Sinnkrise, nachdem er seine Geliebte exekutiert. Franz-Josef besteigt den Thron. Die Geister von Bolnuevo bedrohen die Ordnung. Die Ufos aus dem Moor auch. Die Enkel der Henker essen auf alten Schlachtfeldern Eis. Ein Junge hat 500 Freunde in sozialen Netzwerken. Wird aber trotzdem nach der Schule verprügelt. Ein König flieht ins Exil.

Neuere deutsche Sozialgeschichte episodisch erzählt in 36 Minuten, die sich gleichzeitig als „aufgelöst in der ganzen Welt und Angst vor allem Fremden“ charakterisieren lässt, doch letztlich in die Einsicht mündet: „Eingesperrt sind wir immer noch“.

Quelle: Youtube

Aber das Album lässt viele Lesarten zu. Denn sprachlich werden so starke wie unterschiedliche Bilder erzeugt, dass sie ihr Publikum selbst zum Ausfüllen des Erzählten oder besser des Nicht-Erzählten auffordern. Immer wieder gelangt man dabei zu bekannten Motiven, wo man sie nicht vermutet hatte. Genau wie bei Kafka sind es, wenn sie auch ein wenig anders geartet sind, konnotative Leerstellen und vor allem unvermittelt aufeinanderstoßende Textsegmente, die das Publikum selbst zum Ausfüllen des Angedeuteten aufrufen. Aber auch die Musik fordert alte Punkfans zum Überdenken fixer Genregrenzen auf:

Quelle: Youtube

Stadt der Angst als Dekodierung?

Vor musikalischer Vielseitigkeit strotzt aber vor allem Stadt der Angst (2013). Trotzdem klingt es weniger nach dem nächsten Schritt einer stringenten Entwicklung, als vielmehr wie ein Best-Of-Album. Obwohl doch alle Songs neu sind. Warum?

Quelle: Vimeo

Zwar klingt ihre Musik erfrischender und akkordreicher, aber ihre Texte wirken angespannter. Fast ein wenig, als hätten sie die Geduld mit ihrem hinterherhinkenden Publikum verloren. Als hätten sie das Gefühl, ihre bisherigen Bilder seien zu unklar gewesen. Zum ersten Mal seit Flamingo könnte man sogar meinen, dass ein Songtitel (denn ihre Songtitel scheinen seit jeher ein Eigenleben zu führen) zum Inhalt des dazugehörigen Liedes passt. Sohnemann Heinz erzählt doch recht deutlich von einem jungen Mann, der mit der Aussicht auf berufliche und finanzielle Sicherheit zum Militär gelockt wird, sich zunächst über das eigene Auto, später dann über die Einzigartigkeit der Orte freut, die er beruflich bereisen darf. Aber der letztlich im Afghanistaneinsatz zitternd auf dem Boden liegt, während andere, die Zuhausegebliebenen ohne eigene Autos, ins Kino gehen. Ebenfalls ungewohnt explizit wird in Pestperle am Beispiel der Echonominierung von Frei.Wild eine Kritik an der Offenheit der Musikindustrie für Bands der nach rechts offenen sogenannten “Grauzone” geäußert.

Neben allem multiperspektivischen Ansinnen scheint ihnen nunmehr eine klare eigene Positionierung wichtiger geworden zu sein. Stadt der Angst zeigt, dass sie eben auch eine politisch progressive Band sind. Was sie immer waren. Aber die Bilder werden hier deutlicher verbunden, fast ohne Gewalt, fast dekodiert, fast wie ein ganz normales Puzzle, was ehrlich gesagt etwas schade ist, denn durch die wenigen wirklich deutlichen Bilder kommen die übrigen, abstrakteren, fast ein wenig willkürlich daher. Andererseits zeigt Stadt der Angst aber auch eine Fortentwicklung der Band in die Breite, die das Interesse am angekündigten sechsten Album nur verstärkt. Man könnte es ja auch einfach als Belohnung am Ende einer Schnitzeljagd annehmen.

Am Ende einer Reise

Wenn man so will, liefern Turbostaat bereits auf Vormann Leiss, wenngleich etwas unscheinbar, sogar einen wichtigen Beitrag zum oben beschriebenen Liebeslyrikwettkampf des Pop.

„Wenn das Jahr vergeht und nichts passiert // Der Strom ausfällt und das Licht ausgeht // Das ertrage ich, doch eines nicht: // Du sollst mich nicht Roboter nennen! // Du sollst mich nicht Roboter nennen! // Nur zu einem Zweck wurde ich konstruiert // Und was du hier Neugier nennst wurde niemals programmiert“

TurbostaatNach fest kommt ab

Was man allerdings nie so genau weiß, ist, ob das, was man findet, überhaupt jemals versteckt worden ist. Aber im Sinne der Formel „Hasko such den Hafen, bitte such“ (TurbostaatCharles Robotnik seine Frau) scheint beim Turbostaat-Konsum das Suchen ohnehin wichtiger zu sein als das Finden. Denn ihre Musik macht nachdenklich. Aber der Versuch, den Turbostaat-Code zu knacken, bereitet Kopfzerbrechen und läuft, wie nunmehr festgestellt werden muss, ins Leere. Aber vielleicht reicht ja die subjektive Erkenntnis, dass es sich schlicht und einfach um einen schönen Code handelt, der, ähnlich dem Matrix-Code, seine eigene Ästhetik hat. Denn darum geht es doch in der Kunst. Oder?


Quelle: Youtube

13 Kommentare

  1. Pingback: Unsichtbare Mächte und die Macht des Unsichtbaren in Steven Spielbergs Filmen und Franz Kafkas Prosa | postmondän

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