Hendrik Otremba, bekannt als Sänger der Band Messer, ist unter die Schriftsteller gegangen und debütiert mit einem Detektivroman, der keiner sein will.
„Das ist die Arbeit, das ist der Preis. So geht’s bei Detektiven“
Eigentlich ist alles da – alles, was eine Detektivgeschichte braucht: eine Vorgeschichte mit vielen Toten, ein Detektivbüro, ein Auftrag, ein reicher, narzisstischer Auftraggeber mit unstillbaren Gier nach Anerkennung und Macht, der weiß, dass er die Frau seiner Begierde nicht kaufen kann, und es doch will. Einer, der kein Mitleid hat – außer das für sich selbst. Der perfekte Antagonist. Und ein Detektiv wie aus dem Buche. Einer, der zu viel raucht, zu viel trinkt, kaum Freunde, keine Familie hat und sich nicht nur wegen seiner Drogensucht und Depression, sondern schon von Berufswegen als Außenseiter am Rande der Gesellschaft bewegt und bewegen muss. Um die Femme fatale zu retten, wird er selbst zum Täter. Ja, das klingt nach einer Detektivgeschichte im Noir-Stil. Aber „Über uns der Schaum“ ist mehr als das.
„Etwas in diesem Haus saugt meinen Körper ein“
In seinem Debütroman zeichnet Hendrik Otremba ein düsteres, brutales Szenario, in dem der Detektiv seinen Auftrag nicht beenden kann, ohne sich selbst zu verraten. Die Tatsachen, dass die Prostituierte Maude, die Joseph Weynberg für seinen Auftraggeber Lang ausspionieren soll, seiner verstorbenen Liebe Hedy nicht nur äußerlich gleicht, lässt ihn selbst zum Mörder werden. Und auch die Auswirkungen der welteigenen Droge Portobin machen dem Protagonisten zu schaffen. Selbst in völliger Nüchternheit findet er kaum einen Zugang zu sich selbst, seinem Innenleben, zu seinen Ängsten und Bedürfnissen fernab seiner Sucht. In aller Härte werden die Leser*innen in eine Erzählung geworfen, in der nicht nur Tote zu Wort kommen, sondern bald schon der selbstentfremdete Ich-Erzähler nicht mehr zwischen Außen- und Innensicht, zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung unterscheiden kann. Denn immer häufiger zwingen seine Träume und Trips Weynberg in die dunklen Abgründe seiner selbst. Hier verschmelzen Fragmente seiner Vergangenheit mit denen seiner Gegenwart und seiner erdachten Zukunft. Immer undeutlicher werden die Grenzen zwischen Realität und Traum.
„Wer kann die Welt heut’ nicht mehr sehen“
Doch was ist die Realität in „Über uns der Schaum“? Auf 280 Seiten erschafft Otremba eine bedrückende futuristische Welt, die den Leserinnen fremd ist und gleichzeitig erschreckend bekannt vorkommt. Er lässt eine Dystopie entstehen, in der Vergessenheit die Erinnerungskultur abgelöst hat, in der sauberes Wasser eine Sehnsucht bleibt und den Protagonisten in Träumen heimsucht. In der der Regen lebensgefährlich sauer ist. Und sich Weynberg und Maude statt mit nicht existierenden Smartphones mit einem Strahlenmessgerät auf die Flucht machen müssen. Ihr Ziel: Die Stadt Neu-Qingdao, die vielleicht ein besseres Leben verspricht. Doch als die Flüchtenden, getrieben von der Angst vor Lang und seinen Leuten, ihre namenlose Stadt irgendwo irgendwann verlassen, entfaltet sich die Unberechenbarkeit und Hoffnungslosigkeit der Welt in ihrer Gänze: Überall dort, wo einst Menschen gelebt haben, ist kein menschliches Leben mehr möglich. Verlassene Vororte, verseuchtes Wasser und eine verstrahlte Umwelt machen den Protagonistinnen ihren Roadtrip der anderen Art fast unmöglich. Als ihnen Langs Leute auf die Spur kommen, mischen sich Blut, Schweiß, Dreck und Nebel in die postapokalyptische Atmosphäre.
„Wenn man arm ist und die Worte sich aufeinander reimen“
Dass Otremba nicht nur Autor, sondern auch bildender Künstler und Musiker ist, ist nicht zu überlesen, zu übersehen und zu überhören. Die bildlichen Beschreibungen der Figuren erinnern nicht selten an seine Porträts, in denen er mit „Stift und Pinsel […] die Rippen hervorgeholt, ihnen mit Tusche und Wasserfarbe eine Textur gegeben“ hat und die Haut der Abgebildeten „ganz dreckig“ hinterlässt. Nicht nur Motive wie Angst, Dreck, Schmerz, Tod und Insekten und die prägnant rhythmische, kraftvolle und poetische Sprache lassen Parallelen zu Songs der Post-Punk-Band Messer entstehen. Auch die vom dichtenden Detektiv verfasste und fast jedem Kapitel vorangestellten Verszeilen finden sich in den Texten des Messer-Albums “Jalousie” wieder, die aus der Feder Otrembas stammen. So liest sich die stets wiederkehrende Beschreibung der scheinbar ausweglosen Situation Weynbergs und Maudes wie der Refrain des klangvollen Werkes. Er holt die Leser*innen aus surrealen Sphären und tiefschwarzen Träumen zurück in die Realität des tragischen Helden – wohin auch immer diese führen mag.
„Über uns der Schaum“ von Hendrik Otremba ist im Verbrecher Verlag erschienen.
Alle Zitate stammen aus dem Roman.
Titelbild: © Buchcover „Über uns der Schaum“ / Verbrecher Verlag