Game of Thrones ist die erfolgreichste Fernsehserie aller Zeiten. In 2015 gewann das Fantasyepos 12 Emmys und stellte neue Zuschauerrekorde auf. Kürzlich kündigte HBO den Starttermin für die 6. Staffel an, den 24. April 2016. Doch mit der neuen Staffel wird sich nun ein bisher wohl einmaliges Phänomen ereignen: Die TV-Serie überholt die ebenfalls sehr beliebte Buchserie A Song of Ice and Fire von Autor George R.R. Martin in der Handlung.
Game of Thrones als Phänomen der Popkultur
In den letzten Jahren hat sich das Konsumverhalten von Fernsehserien geändert (Hier analysiert: Folgen der Seriensucht). Der Trend der modernen Serie im Zeitalter von Netflix und PayTV geht weg von einer Episodenstruktur hin zur Fortsetzungsserie. Um es formelhaft auszudrücken: Viele moderne Serien zeichnen sich durch ein kompliziertes Geflecht aus Figuren aus, welches sich über die Grenzen von Episoden und Staffeln entwickelt – weniger Konstanten, mehr Komplexität.
Vorreiter und Paradebeispiel dieser neuen Serienkultur ist Game of Thrones von Dan Weiss und David Benioff. Die Geschichte des fiktiven Kontinents Westeros führt Dutzende Handlungsstränge ein, die mit ständig wechselnden Figuren eine multiperspektivische Erzählform darstellen. Dieser Stil leitet sich aus dem Quellenmedium der Fernsehserie ab – der Fantasybuchreihe A Song of Ice and Fire von George R.R. Martin, der auch an der Produktion von Game of Thrones beteiligt ist . Seit den frühen 90er Jahren ist Martin besonders für zwei Eigenheiten bekannt: eine hohe Komplexität des Narrativs sowie die Skrupellosigkeit im Umgang mit seinen ständig wechselnden Hauptcharakteren, die teilweise eine sehr kurze Lebensdauer haben. Die TV-Adaption hat es geschafft diese Elemente der ohnehin sehr erfolgreichen Buchserie endgültig in das Zentrum der Populärkultur zu führen. Game of Thrones ist wohl die beliebteste und erfolgreichste Serie der Gegenwart. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich der Sender HBO nach aktuellen Berichten bereits in Verhandlungen für zwei weitere Staffeln mit Serienmachern Weiss und Benioff steht.
Doch TV-Produktionen haben eine andere Frequenz als Buchpublikationen. Seit Beginn der Serienadaption wurden Bedenken geäußert, dass George R.R. Martin mit dem Schreiben der noch laufenden Fantasybuchreihe nicht hinterherkommen wird. Das letzte erschienene Buch A Dance with Dragons lieferte er 2011 nach einem sechsjährigen Schreibprozess. Von Game of Thrones wird seit 2011 eine Staffel pro Jahr produziert. Bei noch zwei ausstehenden Büchern schien es unvermeidlich, dass die TV-Serie irgendwann ihr Quellenmedium überholt.
Eingeständnis des Scheiterns – George R.R. Martin über The Winds of Winter
Im frühen Januar 2016 sind diese Bedenken nun Realität geworden. In einem Blogpost kündigte Autor George R.R. Martin an, dass The Winds of Winter nicht abgeschlossen ist und somit ein Erscheinen vor dem Start der 6. GoT Staffel im April nicht mehr möglich sei.
Nach Aussage Martins war er zuversichtlich, die vereinbarten Deadlines mit seinem Verlag und HBO einzuhalten, die es ermöglicht hätten The Winds of Winter noch vor April zu veröffentlichen. In einer langen Erklärung zeigt sich der Autor sehr zerknirscht über sein “Scheitern” und ist besorgt über die Reaktion seiner Fans:
“You’re disappointed, and you’re not alone. My editors and publishers are disappointed, HBO is disappointed, my agents and foreign publishers and translators are disappointed… but no one could possibly be more disappointed than me.”
(George R.R. Martin Blogpost 02.01.16)
Die befürchteten Vorwürfe an Martin blieben in der unmittelbaren Resonanz aber aus. Das Mantra “Its done when its done” scheint zumindest in der Buchwelt noch Gültigkeit zu haben. Doch was hat die verpasste Veröffentlichung von The Winds of Winter vor der neuen Game of Thrones-Staffel für Implikationen?
Literaturverfilmungen und ihre Beziehung zum Original – Spoileralarm?
Filme und Serien basieren häufig auf literarischen Vorlagen. In den meisten Fällen ist die Adaption unproblematisch – die Bücher sind bereits erschienen und erfolgreich; Verstimmungen gibt es oft nur über die Interpretation oder Umsetzung des Originals. Game of Thrones stellt allerdings einen Sonderfall dar:
“The case of GAME OF THRONES and A SONG OF ICE AND FIRE is perhaps unique. I can’t think of any other instance where the movie or TV show came out as the source material was still being written.”
(George R.R. Martin Blogpost)
Natürlich gibt es durchaus populäre Vergleichsfälle, bei denen die Buchreihe bei Beginn der Dreharbeiten einer filmische Umsetzung noch nicht endgültig abgeschlossen war. Man denke nur an die Harry Potter-Reihe, die ab 2001 filmisch adaptiert in die Kinos kam, obwohl noch drei Romane des Gesamtzyklus fehlten. Doch selbst in diesem Fall gelang es der Autorin Joanne K. Rowling immer, die Bücher mit einigem zeitlichen Abstand zur Verfilmung zu veröffentlichen. Das Problem, welches sich aus der besonderen Situation der kommenden Game of Thrones Staffel ergibt, ist vor allem, dass die Handlung der TV-Serie die Bücher überholen wird: Spoileralarm?
In seinem Blogpost macht George R.R. Martin klar, dass Spoiler wohl unvermeidlich sein werden:
“Given where we are, inevitably, there will be certain plot twists and reveals in season six of GAME OF THRONES that have not yet happened in the books. […] So when you ask me, “will the show spoil the books,” all I can do is say, “yes and no,” and mumble once again about the butterfly effect. Those pretty little butterflies have grown into mighty dragons. Some of the ‘spoilers’ you may encounter in season six may not be spoilers at all… because the show and the books have diverged, and will continue to do so.”
(George R.R. Martin Blogpost)
Der angesprochene “butterfly effect” verweist auf eine interessante strukturelle Perspektive, was die Frage von divergierenden Adaptionen eines Originalmediums aufwirft. Gerade der Sonderfall Game of Thrones macht deutlich, dass Spoiler in unterschiedlichen Medien nicht eindimensional analysiert werden sollten.
Vorwegnahme, Schisma oder Emanzipation? Divergierende Storylines in GoT und ASoIaF
Die Macher der Serie Dan Weiss und David Benioff äußerten sich bereits im letzten Jahr zu der Möglichkeit der narrativen Überholung:
“Luckily, we’ve been talking about this with George for a long time, ever since we saw this could happen, and we know where things are heading. And so we’ll eventually, basically, meet up at pretty much the same place where George is going; there might be a few deviations along the route, but we’re heading towards the same destination. I kind of wish that there were some things we didn’t have to spoil, but we’re kind of stuck between a rock and a hard place. The show must go on. . .and that’s what we’re going to do.”
(David Benioff, Interview Oxford Union 2015)
Um antizipieren und beurteilen zu können, wie gravierend die kommenden Game of Thrones Staffeln die Handlung der Bücher vorwegnehmen werden, lohnt es sich einen Blick auf die Produktionspraxis von Game of Thrones zu werfen.
Zuerst ist wichtig festzustellen, dass George R.R. Martin an Game of Thrones als Co-Executive Producer beteiligt ist. Faktisch heißt das, dass Martin bis Staffel 4 nur eine von 10 Episoden selbst geschrieben hat. Die restlichen Episoden wurden von einem siebenköpfigen Schreiberteam koordiniert, größtenteils aber von Weiss und Benioff übernommen. Die Basis für die jeweiligen Staffeln sind allerdings die einzelnen Charakterentwicklungen, für die einzelne Autoren zugewiesen werden. (Interessantes Interview mit Bryan Cogman über die Produktionspraxis von GoT) Für diese Charakterentwicklungen wird zwar Material aus der Buchvorlage übernommen und berücksichtigt, aber die Devise für den Entwicklungsprozess der Game of Thrones-Charaktere lautet schlicht: “‘Character X’ starts at ‘blank’ and we want him or her to end up at ‘blank’.” (Cogman Observer Interview 2015).
Dieses strukturelle Hauptmerkmal führt dazu, dass Game of Thrones, spätestens seit der zweiten Staffel, erheblich von der Buchvorlage divergiert. ([SPOILER] Übersicht der Unterschiede zwischen Fernsehserie und Büchern) Doch wie ist die Entwicklung der Abweichungen von der Buchvorlage vor dem Hintergrund der aktuellen Meldungen zu sehen? Wird die neue Staffel kommende Buchhandlung schlicht vorwegnehmen? Droht ein qualitatives Schisma von Buch und TV-Serie? Oder emanzipiert sich das neue Medium schlicht von der ursprünglichen Quelle?
Die Tendenz der Plotentwicklung von Game of Thrones zeigt zumindest, dass bei TV-Produktionen schlicht andere Notwendigkeiten des Storytellings vorherrschen. Während in der ersten Staffel weitestgehend die Handlung des ersten Buches nachgezeichnet wurde, kann man in den nachfolgenden Staffeln gravierende Abweichungen feststellen. So werden etwa Charaktere, die im Buch nicht erscheinen, neu eingeführt oder Nebenfiguren prominenter gemacht, um dem Zuschauer eine einfachere und verständliche Plotstruktur zu präsentieren. Auch die Erzählperspektive ist für die Fernsehserie angepasst – die strikte Personenperspektive einzelner Handlungsträger wird nur für Schlüsselmomente radikal umgesetzt.
Je weiter Game of Thrones fortschreitet, desto wesentlicher werden die Unterschiede zur Buchvorlage. Teilweise sterben Charaktere in der Serie, die im Buch noch am Leben sind und umgekehrt. George R.R. Martin prognostiziert, dass diese Divergenzen nicht alle im Laufe der weiteren Handlung zusammengeführt werden: “Some of them will die in the books as well, yes… but not all of them, and some may die at different times in different ways.” (George R.R. Martin Blogpost). Natürlich kann zu diesem Zeitpunkt nur über das Ausmaß und die Art der Spoiler spekuliert werden. Aber berücksichtigt man die Tendenz des Storytellings, kann man, denke ich, mit einiger Zuversicht behaupten, dass Game of Thrones sich als eigenständiges Medium etabliert hat und seine eigene Version der Geschichte von A Song of Ice and Fire erzählen wird. Am wahrscheinlichsten ist wohl, dass die Formel der Charakterkonzipierung “Wir starten bei x und kommen bei y heraus” in der TV-Serie auch für die große Plotentwicklung gilt. Es ist trotzdem unwahrscheinlich, dass Buch und Serie an komplett anderen Orten enden werden, aber die Divergenz der Medien in dieser neuen, einzigartigen Produktionssituation entbehrt nicht eines gewissen analytischen Reizes.
Natürlich ist es für Leser der Buchserie trotzdem schade, dass etwas vorweggenommen werden wird, aber hier gilt wohl: entweder in den sauren Apfel beißen und die Serie meiden, oder beides als distinkte eigenständige Kunstwerke betrachten.
Titelbild Quelle: HBO
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