In wohl hoffnungslosem Starrsinn versuchte Rainer Maria Gerhardt direkt nach Ende des zweiten Weltkrieges als Dichter und Übersetzer in deutscher Sprache an die internationale Moderne anzuschließen. Er litt an Zeitgeist, Geldsorgen und Gottfried Benn.
Ein Gastbeitrag von Sören Heim
Rainer Maria Gerhardt – ein fast vergessener Lyriker
Der Dichter Rainer Maria Gerhardt hätte der Anknüpfungspunkt der deutschsprachigen Lyrik an die internationale Moderne nach 1945 sein können, wären ihm nicht zwei Dinge in den Weg getreten: der NS und Gottfried Benn – zweiterer durchaus stärker in der Tradition des ersteren, als er glauben machen wollte. Gerhardt, heißt es im Klappentext seiner gesammelten Werke, versuchte, „der deutschen Literatur neue Impulse aus der amerikanischen und französischen Moderne zu geben. Mit 27 Jahren nahm er sich das Leben“. Kein Wunder, unternahm er doch Hoffnungsloses. Wie kein anderer rezipierte er direkt nach dem Krieg die internationale Lyrik, korrespondierte unermüdlich, u.a. mit Robert Creeley, Charles Olson, Ezra Pound. Wurde von diesen Kollegen geschätzt. Und ist hierzulande praktisch unbekannt. Benn bremste Gerhardts Pound-Übersetzungen, nach anfänglich scheinbarer Offenheit, aus und machte den jungen Dichter lächerlich. Verständlich, bedenkt man, dass Gerhardts Projekt geradezu zwangsläufig in Konflikt zu Benns reaktionärem Moderne-Imitat treten musste, was Gerhardt noch sehr diplomatisch formulierte:
„die neue welt ist identisch mit der von benn demonstrierten ausdruckswelt, die einzige realität des dichters ist die realität des gedichtes, der einzige wille da zu sein der wille zum gedicht, und die einzige ordnung die ordnung des gedichtes, [aber] benn benutzt eine überkommene zeilen- und versform, stark ausgeschlachtet in der deutschen klassik und romantik (…) moderne dichtung ist nur möglich, wenn jeder der modernen dichter bereit ist, jederzeit bis zum äußersten zu gehen. benn lehnt rückgriff und sentiment ab. wir müssen ihm aber bescheinigen, dass seine gedichte rückgriffe und sentiment sind. sie sind ein sichgehenlassen in gefühlen, in stimmungen, aufgebauscht mit dem technischen können eines mannes, dem es möglich wäre, bei mehr härte und bei mehr disziplin gegenüber der sprache und gegenüber dem gedicht, wesentliches hervorzubringen (…)“.
Doch war der persönliche Dissens auch ein politisch-poetologischer. Benn lässt auch nach ’45 kaum gelten, was nicht dem von ihm erweiterten georgeschen Korsett entspricht, das Benn männliche Zucht und Ordnung repräsentiert und das er in seiner berühmten Rede 1934 mit dem Stiefeltritt der braunen Bataillone verglich.
„In der allerletzten Zeit stößt man bei uns auf verlegerische und redaktionelle Versuche, eine Art Neutönerei in der Lyrik durchzusetzen, eine Art rezidivierenden Dadaismus, bei dem in einem Gedicht etwa sechzehnmal das Wort „wirksam“ am Anfang der Zeile steht, dem aber auch nichts Eindruckvolles folgt, kombiniert mit den letzten Lauten der Pygmöen und Andamanesen – das soll wohl sehr global sein, aber für den, der vierzig Jahre Lyrik übersieht, wirkt es wie die Wiederaufnahme der Methode von August Stramm und dem Sturmkreis, oder wie eine Repetition der Merz-Gedichte von Schwitters („Anna, du bist von vorne wie von hinten“). In Frankreich macht sich eine ähnliche Strömung geltend, die sich Lettrismus nennt.“
Dass Benn sich mit den einzigen beiden Ausgaben der Fragmenten, die vor Gerhardts Tod erschienen, und die dem 2007 zum 80. Geburtstag bei Ullstein herausgegebenem Umkreisung. Das Gesamtwerk beiliegen, kaum beschäftigte, zeigt schon ein flüchtiger Blick in diese Heftchen. Nix mit Dada, auch die von Benn im Ton rassistischer Diffamierung herangezogenen „letzten Lauten der Pygmöen und Andamanesen“ finden sich natürlich nicht, stattdessen das spätere Who is who der internationalen Moderne von Pound über Cesaire und Olson, William Carlos Williams, Creeley, biz zu Artaud und anderen. Eine geradezu überraschend zukunftssichere Auswahl dessen, was bis heute den späteren Kanon der Lyrik jener Auf- und Umbruchszeiten ausmachen dürfte. Hätte Benn nur die letzten zehn Jahre Lyrik außerhalb Deutschlands zu überblicken vermocht, er hätte schweigen müssen.
Doch wie hätte Benn auch aus dem alten Gleise sollen können, er, der in seiner Klugscheißerei nicht nur Schwitters falsch zitiert, er, der dem Nationalsozialismus weiterhin bescheinigt, der sei „ein echter und tief angelegter Versuch [gewesen], das wankende Abendland zu retten. Dass dann ungeeignete und kriminelle Elemente das Übergewicht bekamen ist nicht meine Schuld und war nicht ohne weiteres vorauszusehen“ (zit. nach Dyck 392f.). Was hätte so einer zu moderner Lyrik beizutragen?
Künstlerkult statt Werkschau
Auf Literatur.de findet sich eine Rezension des unverzichtbaren Gerhardt-Bandes Umkreisung. Das Gesamtwerk, die als Hinführung dienen mag. Insbesondere das dort ausgesprochene vernichtende Verdikt über die deutsche Nachkriegsliteratur, betrachtet durch und mit der Kenntnis des Gerhardtschen Werkes muss man unterschreiben:
„Wie nachhaltig verändert sich von der ‚Umkreisung’ aus der Blick auf die Nachkriegsliteratur mit der Spinne 47 als Wächterin über das literarische Netz. Wie restringiert wirkt von Gerhardts Entdeckerverve und Übersetzungsgespür her die Beschwörung von Trümmerliteratur und Kahlschlag; wie hausbacken tönt die Maxime, man wolle bei Null und Nichtig beginnen und à la Hemmingway neben den ‚fragmente‘-Exempeln Pound, T.S. Eliot, Henry Miller, William Carlos Williams, Rafael Alberti, Antonin Artaud… Und wie unangenehm die Kulturverwalter-Attitüde von Benn und Niedermayer, die an einem Studenten ihren kleinen Mut kühlten, statt dessen erfrischend pubertäre Geste zu würdigen, die es da zu bestaunen gab.“
Schwierigkeiten dagegen macht das, wiewohl als Vorgriff auf die Postmoderne gewürdigte Verdikt, Gerhardt imitiere, besser vielleicht noch: kreuze Stile. „Zunächst Rilke und Stefan George, dann Rilke, Georg Trakl und Pound und schließlich Rilke, Trakl, Pound, Olson und Creeley“. Dadurch habe er sich selbst im Weg gestanden, den von Artaud definierten Grenzbereich einer „Poetik der Entstellung“, einer „fundamentale[n] gesellschaftliche[n], familiäre[n], körperliche[n] und sprachlich-logische[n] Subjekt-Entwendung, die das gelungene Wort, den gelungenen Vers, das gelungene Gedicht vorab blockiert“ all zu früh (also ohne dichterische Souveränität) be- und übertreten. Hier grenzt der Versuch einer Einordnung, die besonders die modernen Einflüsse zu Gunsten einer postmodernen Perspektive abdrängt, bedrohlich an Forderungen nach einem unverwechselbaren Stil, der gerade angesichts unübersichtlicher Zeiten besonders penetrant an den Künstler herangetragen wird.
Mal wieder: Form und Inhalt
Gerhardt aber imitierte nicht einfach, auch nicht „das Zukünftige“, so die halb lobende Wendung Härtlings. Gerhardts Werke, in all ihrer Eklektik, lassen sich ohne solche Hilfskonstrukte durchaus zuvorderst als ein Ringen um Form, in allem aber, wie weiter unten gezeigt werden soll, als ein Ringen um Form am Gegenstand begreifen. Die Kunst leiste, so möchte ich paraphrasieren, was die Moderne in ihren besten Momenten ausmacht, Arbeit an Welt und Begriff, sie fasse die Totalität in ihrer Widersprüchlichkeit, ohne diese in einer Weise zu erschließen, die sie entschärfte.
Diese Art zu arbeiten wird niemals die stilistische Einheitlichkeit einer Werkreihe erreichen, die wir von klassischer Dichtung gewohnt sind und auch nicht die der konsequenter erscheinenden Avantgardisten, die sich ein Programm geben und es dann in möglichst spektakulärer Weise abspulen, wie u.a. der hier kritisch gegen Gerhardt gewandte Artaud.
Die Grenzen des persönlichen Stils seien hier kurz erläutert anhand eines besonders dankbaren Beispiels, Gerhardts Namensvetter Rainer Maria Rilke. Zuerst: „Die Fensterrose“:
Da drin: das träge Treten ihrer Tatzen
macht eine Stille, die dich fast verwirrt;
und wie dann plötzlich eine von den Katzen
den Blick an ihr, der hin und wieder irrt,gewaltsam in ihr großes Auge nimmt, –
den Blick, der, wie von eines Wirbels Kreis
ergriffen, eine kleine Weile schwimmt
und dann versinkt und nichts mehr von sich weiß,wenn dieses Auge, welches scheinbar ruht,
sich auftut und zusammenschlägt mit Tosen
und ihn hineinreißt bis ins rote Blut -:So griffen einstmals aus dem Dunkelsein
der Kathedralen große Fensterrosen
ein Herz und rissen es in Gott hinein.
In diesem Sonett stimmt jedes Wort. Die um sich kreisende, ausgreifenden Bewegung der Katzen findet sich in den langen, von Sprüngen durchzogenen Zeilen wieder. Die Verwobenheit dieser Bewegung mit dem Korpus der Kathedrale ebenso in den dicht ineinander verwobenen Wortfeldern, in Interlinear- und Endreimen, sowie zahlreichen Assonanzen. Die oft spröde Wortwahl dagegen korrespondiert mit dem Unbeschreiblichen im Blick der Katzen, welches die Erfahrung einer vergangenen Zeit spiegelt, als die Fensterrose der Kathedrale, wie nun die lodernde Natur der Katzen dem lyrischen Ich, dem außenstehenden „Herz“ einen Blick auf das Allgemeine im Einzelnen gewähren: es „in Gott hinein“ rissen.
Zieht man nun dagegen exemplarisch ein weniger gelungenes Gedicht Rilkes heran, etwa den „Ball“, man möchte fast zu dem Schluss gelangen die so überzeugende geschlossene Struktur der Fensterrose sei Zufall:
Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgiebt, sorglos wie
sein Eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flugnoch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt -, und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.
Nichts ist rund am Ball, das Thema ist überhaupt zu trivial als dass es die doch eifrig durchexerzierte äußerliche Vollendungen der Form, wiederum rechtfertigen würde, kurz: alles wirkt aufgesetzt. Grund ist gerade der Rilkesche Stil, der in der Zeit der Neuen Gedichte, aus denen beide Beispiele entnommen sind, sich zu einer so intendierten Selbstständigkeit entwickelt hatte, dass er sich vielfach gewaltsam schematisch über den jeweiligen Stoff stülpt. Dass hier ein Dichter nach der obigen Forderung seinen Stil gefunden hat wie kein zweiter wird kaum jemand bestreiten wollen. Ein Gedicht Rilkes aus dieser Zeit kann auch der Laie leicht identifizieren. Wo Stil und Gegenstand dann zueinander finden wird Rilke mit recht genial genannt, wo nicht, wäre vielleicht zu erkennen, wie viel Reiner Maria Gerhardts stilistische Eklektik, die gerade gezwungen ist sich mit dem Gegenstand stets neu auseinanderzusetzen, der deutschsprachigen Lyrik zu geben fähig gewesen wäre. Und auch Rilke fand seine höchsten Formen des Ausdrucks erst als er sich des Schematischen entledigte, die Form befreite, und gleichzeitig so zu größerer Strenge gelangte: in den Duineser Elegien.
Der Stil oder Nichtstil Gerhardts
Gerhardt eignet sich in seinen besseren Werken je nach Stoff souverän überlieferte Formen an, ebenso wie das gerade erst entfaltete Repertoir der Moderne, und unterwirft beides mit manchmal rustikal wirkender Gewalt seiner Schöpfung. So tönt er beinah antik in entsprechenden thematischen Passagen des Tod des Hamlet:
laß in der blauen lufi die reiher fliegen
und in den dolden den zorn
laß im vergehen musik die vergangenen rühren
die wehen von der geburt des regens
niederrauschend an den stämmen von Babylon.
Seder deine geschichte ist ähnlich.
es zählt nicht die mutter des Nil noch gelten
die schatten der ebenen des kahlen bergs wand
noch verlorene paradiese am gelben strand.
es schläft die nacht ihren schlaf. die zyklopen
sprengen die grüfit. die götter
steigen herauf. die schatten furien hört mich
die großen schatten der nacht der zeit
o sibylle die großen schatten von hier
und jetzt und immerzu vom augenblick
schreiend und selbstbewußt in
steinerner ruhe in verlassenem gefild.
Und in anderen seltsam gebrochen biblisch:
die stürme Jesaijas ziehen dahin
auf gewaltigen schwingen
und die silbernen meere stöhnen auf
unter des fisches gewalt
atem halt ein! sieh diese städte
in die braune luft in finstere schatten gestellt
schreiend erbarmungslos
und in den irrenden winden
hochsteigend in klagendem laut noch von den
Göttern verbannt:
evoë evoë
rasend erinnyen schwarzes schlangengeflecht
über die trübe heide hunde und eber
voraus, und der btutstumpf zwischen den
eiben, o du Adonis
sind wir? sterben die schwellen zum Delphi?
Bacchus ahnungslos taumelt dein haus
und die balken stürzen zur tiefe
die sümpfe kreischen – der ich die welt
umfassend – gemeinsam – in kreisen – die
das vollkommene – o atmet mich ein ihr
aeolischen gefilde, werft mich aus
wellen am kymrischen strand.
Er raunt im Bennschen Duktus:
aber totenbleích
ein schatten
stirbt der teichdas geflecht der schilfe
und das nest der ratten
und der tote schreí der silfedieser schritt
und sie tappen
nimmt mich mítlaß das schreien
und der griff im nacken
schwarz und bleien
Oder, in „Keinem ist Hauch gegeben“, georgesk:
Es schwingen, fallen tauben ins gebreite.
Vergilbter nebel kräuselt welke weite,
Und schwarze stümpfe stossen ins gewölk.
Der wunde wald stürzt dunkel hin zum bache,
Und schreiend wälzen sich zur falben flache
Purpurne himmel über rot gebälk.
Die feste stadt streckt kalte schattenarme
zur erzesader und zum vogelschwarme.
Die Fischer aus den faulen flächen fliehn.
Und häuser neben häusern auferstehen
Und fallen nieder und die winde wehen.
Es treibt der blauen tauben flug dahin.
Und luftig, leicht, frei, segeln die Seegedichte auf den unvermeidlichen Sturm zu:
Sicher hat Gerhardt manchmal zu viel auf einmal versucht, die strenge Klarheit Eliots erreichte er auch in einzelnen Werken selten, nicht immer fügen die längeren Werke sich letztlich ganz. Doch gerade die Gewalt des Schöpferischen, die Gerhardts Texte sperrig macht, und ihn das ein oder andere Mal stolpern lässt, macht auch deren eigentümliche Größe aus. Es mischen sich gewiss georgische Wortstellungen, der rilkesche hohen Ton, eliotsche fernöstliche Bildwelten und eine charakteristische Verknappung des Ausdrucks, zusammengeschweißt von einer von Blut durchtränkte, Geburt, Kampf, Tod evozierenden Sprache. Doch nicht im Sinne des Imitates oder Zitates, auch nicht in dem einer bewusst montierenden Briccolage. Sondern eine Sprache formend, die in der deutschsprachigen Dichtung befremdlich alleine steht.
Und ist das nicht viel eher die Sprache, die ein Recht hätte die vom deutschen Morden verheerte Welt zu durchstreifen und „these fragments have I shored against my ruins“, darin Poesie zusammenzustückeln, als das weiter-bramarbasieren Benns? Oder jenes Amtsstubendeutsch, die „einfache klare Sprache“ der „Stunde Null“, die stattdessen zum neuen Literaturideal erhoben wurde – zumindest bis zeitweise Paul Celan den antipoetischen deutschen Konsens durchstieß, aber doch auch Ausnahmeerscheinung blieb? Oder die Sprache(n) der spektakulären post-68er Beat-Importe bis hin zu zeitgenössischer Slam-Dichtung, die ebenso die Fiktion des Groß-Reine-Machens bedienen, die die Tradition, die Gerhardt seinen Werken zwischen allen Zeilen herausquellen macht, leichtfertig abschneiden?
Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.
Pingback: Die „großen“ Essays anderswo, I: Rainer Maria Gerhardt – Sören Heim – Lyrik und Prosa