Während Deutschland noch im Taumel des Jubiläums der Russischen Revolution ist und damit endlich das Reformationsjahr hinter sich lassen kann, dreht der Historiker Gregor Schöllgen die Erinnerungsdebatte schon weiter. Denn er sieht sich in seinem Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte, ausgehend von Russland 1917, die vergangenen 100 Jahre Weltgeschichte an – und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine Geschichte der Kriege auf globaler Ebene handelt. Leider hat sein Sachbuch an sonstigen Erkenntnissen nicht viel zu bieten.
Schon sein Ausgangspunkt ist zweifelhaft und wirkt künstlich gewählt, um das Jubiläumsjahr der Revolution zu bedienen. Näherliegend wäre es für 100 Jahre Kriegsgeschichte den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 zu wählen, und selbst wenn man sich für 1917 entscheidet eher den Kriegseintritt der USA, denn die Russische Revolution zu wählen, betrachtet man doch gerne das 20. Jahrhundert als amerikanisches Jahrhundert. Doch Schöllgen muss antisowjetische Reflexe bedienen. Denn die Bolschewiki seien (wie auch der Vietkong) Putschisten gewesen, die mit ihrer Idee der gesamten Welt den Krieg erklärt hätten.
Abgesehen davon, dass er bewusst pejorative Begriffe wie Putsch für Revolutionen gebraucht, hat er scheinbar den Bedeutungsgehalt solcher Begriffe in seiner unsachlichen Abneigung missverstanden, da ein Putsch von einer Herrscherclique in der Minderheit ausgeführt wird, oder auch eine gescheiterte Revolution beschreibt. Beides ist, auch wenn die Bolschewiki de facto eine Minderheit waren, nicht der Fall gewesen. Darüber hinaus zeugt dies von einer ideengeschichtlichen Unkenntnis Schöllgens: Denn erstens erklärt der Sozialismus nicht der Welt, sondern „nur“ dem Kapitalismus den Kampf (es heißt Klassenkampf, nicht Klassenkrieg), und zweitens, unterscheidet der Autor nicht zwischen dem trotzkistischen Konzept der permanenten Revolution bis zur Weltrevolution und dem Stalinismus als Sozialismus in einem Lande, ohne globalen Anspruch.
Hitler dagegen wird von Schöllgen als Putschist (im Hinblick auf 1923 ist das korrekt) und Revolutionär bezeichnet (im Hinblick auf 1933 ist das falsch, da die nationale Revolution ein Mythos ist). Es wirkt mehr als bedenklich, wenn Schöllgen die Realitäten so verschiebt, und es zusätzlich für sicher hält, Stalin habe einen Präventivschlag gegen Nazideutschland geplant, natürlich ohne dass in der Monographie irgendein Beleg angeführt wird. Eine solche Verschiebung könnte man nicht nur als antirevolutionär, restaurativ und antisowjetisch klassifizieren, sondern auch als relativierend gegenüber den Verbrechen der Feinde der Sowjetunion. Auch wenn Schöllgen sicherlich in Bezug auf Hitlerdeutschland nicht darauf hinaus will, könnte dieser Verdacht durch seine verquere Argumentation entstehen.
Von dort aus geht Schöllgen bis zum Beginn des Kalten Krieges weitgehend chronologisch vor und subsummiert die Kriegsphasen unter vereinfachte Schlagworte. Zwischen den Erläuterungen zum Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Krieges jedoch wird sein Zugang systematischer; sprich, er geht einzelne Charakteristika des Kalten Krieges und der Phase danach, wie Wett- und Abrüsten, durch und arbeitet damit dekadenübergreifend. Diese Teilung in Chronologie und Systematik wirkt ebenfalls willkürlich gewählt und nimmt dem Buch die Übersichtlichkeit. So hat er etwa ein Kapitel zu ethnischen Säuberungen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verfasst, das aber eben nicht die Phase der Nachkriegszeit umfasst und daher unsystematisch wirkt. Die späteren Kapitel wirken dafür teilweise recht sprunghaft.
Doch auch für die Phase des Kalten Krieges hat Schöllgen einige reaktionäre Weisheiten zu bieten. So unterteilt er die Blöcke tatsächlich in den freiheitlichen Westen unter amerikanisch-britischer Kontrolle und der unterdrückerischen Sowjetunion, was den irrsinnigen Anschein erweckt, der Westen sei ein gelungenes und eben nicht repressives System. Diese Simplifizierung, die eines jeden Intelligenz beleidigen muss, führt Schöllgen aber rund 100 Seiten später selbst ad absurdum. Denn dann weist er auf dem parallel verlaufenden Nord-Süd-Konflikt hin und gibt zu, die USA hätten sich sowohl hier als auch im Ost-West-Konflikt dilettantisch, ignorant und arrogant verhalten. Inwiefern eine ignorante Imperialpolitik freiheitlich sein soll, beantwortet der Historiker nicht.
Dafür hat Schöllgen noch ein paar Binsen zur Implosion der Sowjetunion 1991 zu bieten. Denn sowohl diese Erniedrigung Russlands wie auch die im Ersten Weltkrieg seien eine Erklärung für die Politik Wladimir Putins, die dem Land das Selbstbewusstsein als Großmacht zurückgeben will. Abgesehen davon, dass Putin dieses kritikwürdige Versprechen hält, handelt es sich dabei nicht gerade um eine tiefsinnige Erkenntnis, wegen der man Schöllgens Buch zu lesen bräuchte. Ähnlich verhält es sich bei den letzten Kapiteln zu Terrorismus und Flüchtlingen. Aufgrund des summarischen Charakters vieler Kapitel, fällt es schwer, mehr als nur eine Aneinanderreihung von Fakten zu erkennen – und dafür wäre jedes Lexikon oder Handbuch fruchtbarer.
Man gewinnt kaum Neues aus Schöllgens Buch, außer bekannter Daten und Banalitäten, wie der ausgelutschten These, die Nachkriegsphase sei in einen Dritten Weltkrieg gemündet, wegen globaler Krisen, Stellvertreterkriegen und dem globalen War on Terror etc. Und selbst wenn das noch als überschaubare Sammlung oder Einführung in die Weltgeschichte der vergangenen 100 Jahre fungieren könnte, so machen Schöllgens Ressentiments gegen alles Soziale oder Sozialistische Krieg nur zu einer Hassrede, voller reaktionärer Klassifizierungen. Vielleicht sollte sich Gregor Schöllgen wieder von der internationalen Politik abwenden, jetzt da er emeritiert ist, und sich abermals mit dem beschäftigen, was er die letzten Jahre gemacht hat: sehr wohlwollende Portraits deutscher Firmen schreiben oder eine Biographie über irgendeinen Sozialdemokraten. In beiden Metiers war er weniger störend als auf dem Parkett der Weltgeschichte.