Mord und Totschlag vor dem verhassten Montagmorgen, wüste Beschimpfungen und standardisierte Streitgespräche in den sozialen Netzwerke am Sonntagabend. Das ist der Tatort. Der Versuch eines Porträts.
Wenn die Medien heute über den Tatort berichten, sind die Begriffe „Social TV“ und „Live-Event“ nicht weit entfernt. Ein Phänomen, das heute nicht mehr häufig zu sehen ist, hat doch das asynchrone Seriengucken Einzug in die Wohnzimmer gehalten. Trotzdem gehören Rudelgucken in Kneipen und hitzige Diskussionen bei laufendem Fernseher auf Facebook und Twitter zum sonntäglichen Krimi-Alltag.
Totschlagargumente, Streitereien und sonntägliches Gemecker
Das lässt sich die ARD einiges kosten: Plakate für die Tatort-Kneipen und Twitter-Chats mit Tatort-Regisseur٭innen. Damit für jede٭n Zuschauer٭in etwas dabei ist und die Fangemeinde wächst, gibt es regelmäßige neue Tatort-Teams. Oder es werden Schauspieler٭innen unter Vertrag genommen, die ihre Fangemeinde gleich mitbringen, wie etwa Til Schweiger. Aber da, wo für alle etwas dabei ist, gibt es auch viel, das nicht jeder٭jedem gefällt: Während die einen in den sozialen Netzwerken eine Lobeshymne auf das Dortmunder Ermittler٭innenteam singen, schreien die anderen, die Ermittler٭innen seien doch alle Psychos. Und was macht Til Schweiger? Til Schweiger spaltet nuschelnd die gesamte Tatort-Gemeinde in Til-Hasser٭innen und Til-Verehrer٭innen. Was wäre also der Tatort ohne das Gemetzel in ihm und um ihn herum?
Gemetzel zerfetzen
Ob die Diskussionen in den sozialen Medien selbst von den Tatort-Macher٭innen beabsichtigt, ja gar inszeniert, ist, sei dahingestellt. Für die Zeitungen und Magazine ist jeder Tweet der 165 000 Tatort-Follower٭innen und jeder Facebook-Kommentar der 868 438 Tatort-Gefaller٭innen zu einer neuen Folge ein gefundenes Fressen. Wer schreibt analytische Rezensionen in der wenigen verfügbaren Zeit, wenn es in den sozialen Netzwerken kostenlose Kritikfetzen regnet? Und der Einbettungslink für die Artikelseiten wird gleich mitgeliefert. So stellt es sich als praktisch heraus, die schnell heruntergeschriebenen Meinungsbilder im Internet einfach umzuschreiben, mit einer Überschrift wie „Zittern statt Twittern“ zu versehen und schon ist sie fertig, die Twitter-Kritik oder auch „Die Twittritik“. Sie kommt daher, wie eine „normale“ Rezension, liefert aber den Tenor der twitternden Zuschauer٭innen und anschließenden Kritikenleser٭innen gleich mit, ohne dass eine tiefere Analyse und Interpretation des Gesehenen nötig wäre.
Eine Hand wäscht die andere
Das kann positiv wie auch negativ gewertet werden: Jede٭r Twitter٭in kann die Online-Rezension einer Wochen- und Tageszeitung aktiv mitgestalten. Und nicht zuletzt scheint das auch die Motivation auszumachen, fröhlich mitzudiskutieren. So schreibt ein Twitterer am 24. November 2014: „Ich bin in der #twittritik von @zeitonline zum Stuttgarter #Tatort gelandet. Oha.“ Einige eher tatortferne Seiten machen sich diese Streitkultur zu Nutze, indem sie kommentarlos ein Zitat aus der Folge posten, um die Kommentator٭innen auf ihre Seite zu locken. Eine sogenannte Win-win-Situation für alle Beteiligten. Das macht die Betrachtung der Online-Kommunikation während einer Tatort-Folge nicht weniger spannend. Denn anhand der Diskussionen zu einer laufenden Tatort-Folge lässt sich einiges zu der Streitkultur im Netz ableiten.
Täterprofile und altbekannte Muster
Die Schnelllebigkeit und vermeintliche Anonymität des Internets macht es möglich, sich nicht länger mit einer Materie zu befassen, sondern dem ersten Impuls zu folgen und schnell die eigene Meinung herunterzuschreiben. Und was ist das Besondere an der Tatort-Diskussion? Ohne spezielles Hintergrundwissen kann hier jede٭r die schnell konsumierbaren Inhalte und das gerade Gesehene für sich interpretieren und die Meinung zeitgleich äußern. Da in 90 Minuten viel passieren kann, gibt es immer wieder neuen Gesprächsbedarf. Bei genauerer Betrachtung dieser Auseinandersetzungen zu einer Tatort-Folge (aber auch zu anderen Inhalten) im Netz lassen sich immer gleichen Verhaltensmuster erkennen.
Seher٭innen, Brandstifter٭innen und Aussteiger٭innen
Um die Verhaltensmuster aufzuzeigen, kommt man nicht umhin einen typischen Dialog bestehend aus Originalzitaten (absichtlich ohne Namensangabe) des Kommentarbereichs auf der Tatort-Facebookseite wiederzugeben, wie es eben auch die großen Magazine und Zeitungen in ihren Rezensionen tun:
- Eine typische Auseinandersetzung mit einem Facebook-Kommentar des٭der Seher٭in:
„Ich bin gespannt was jetzt wieder kommt – der Schauspieler zu gut aussehend, die Schauspielerin mit zu grellem Lippenstift… ٭seufz٭.“
- Und schon wird die Munition für eine endlose Diskussion von der٭dem Brandstifter٭in geliefert:
„Schnoddrige, prollende, rotznäsige Ermittlerinnen, die vor Jugendarroganz triefen. West-Ost-Klischees vom Feinsten. Endloses Rumgeschreie in VorabendRTLqualität. Schlimmer geht’s nimmer. Das ist eine Zumutung, mit zwangseingetriebenen Gebühren finanziert.“
- Es folgen „Gegenargumente“ der Friedliebenden:
„Ich finds erfrischend. Aber bei den ganzen Nörglern hier ist es doch eh wurscht, was gedreht wird. Euch passt doch immer irgendwas nicht: ,zu brutal, zu ernst, zu lustig, der Ton geht gar nicht, blablabla …’ Dann schaltet doch einfach um und hört auf zu motzen, es nervt!“
- Dann melden sich die Aussteiger٭innen zu Wort, die, obwohl so schon umgeschaltet haben, dem digitalen Tatort-Gemetzel weiter beiwohnen:
„Nach vier Minuten umgeschaltet. Sorry, geht gar nicht. Denke nicht, das die Story nach dem gejaulten Anfang noch zu retten ist“
oder
„Ich will den Leipziger Tatort zurück, die zwei arroganten obercoolen Puten kannste in die Tonne treten, das reißt auch der sonst geniale Martin Brambach nicht mehr raus. Auf Fußball umgeschaltet.“
- Dann gibt es noch diejenigen, die sich jeden Sonntag einen Tatort à la Boerne und Thiel wünschen:
„Der erste war der reinste Schrott, das sollten die mal lassen. Kriegt man ja Zustände. Am Sonntag das war auch Schrott, hab nach der halben Stunde umgeschaltet. Werde wohl bald nur noch die bekannten Tatorte anschauen, da wo man weiß, dass es auch spannend ist, z. B. Köln oder Münster.“
- Und die, die dem Spruch „Schlafende Hunde soll man nicht wecken“ alle Ehre machen:
„Bla bla bla. Viel schlimmer. Ich hab die letzte halbe Stunde verpasst. Eingeschlafen. Wer war der MÖRDER?“
Wer sich durch den Kommentarbereich scrollt, kann feststellen, dass diese Aufzählung endlos weitergehen könnte. Für manch eine٭n wahrscheinlich unterhaltsamer als der Tatort selber.
Der letzte Zeuge
Der Gesprächsverlauf ist so voraussehbar wie so manche Handlung eines Tatorts. Das Gemetzel im, am und um den Tatort ist standardisiert: Jeden Sonntag um 20.15 Uhr schauen sich die Tatort-Zuschauer٭innen Mord und Totschlag an und geben vor dem Montagmorgen ihren Aggressionen in den sozialen Netzwerken ein Ventil. Die Wortgefechte auf Facebook und Twitter sind zu einem festen Bestandteil der Medienlandschaft geworden. Alle wollen von der großen Fangemeinde des Tatorts profitieren. Aber auch das Rudelgucken in Szene-Kneipen spiegelt eine Fernsehkultur wider, die heute kaum noch zu finden ist. Ist der sonntägliche Tatort also der letzte Straßenfeger, neben der Tagesschau die letzte Konstante in der Fernsehlandschaft?
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