Kategorie: Rezensionen

Aus den Fugen – Notwists Vertigo Days

Notwist gehen wild entschlossen in mehrere Richtungen gleichzeitig und filtern nach sieben Jahren endlich wieder ein Studio-Album heraus. Wie klingt Vertigo Days?


Viel passiert seit 2014, als Notwists Close to the Glass erschien. Trump kam (2017) und ging (2021), der Brexit wurde beschlossen (2016) und umgesetzt (2020), postmondän wurde gegründet (2015), feierte fünften Geburtstag (2020) und interviewte dreimal Markus Acher (2016, 2017, 2020), Notwist veröffentlichten ein Soundtrack- (Messier Objects, 2015) und ein Livealbum (Superheroes, Ghostvillains + Stuff, 2016), die einzelnen Bandmitglieder brachten mit weiteren Projekten, ohne Übertreibung, zahllose Releases hervor – bloß auf ein neues gemeinsames Studioalbum ließen sie warten. Nach langjähriger Arbeit daran zogen sie endlich einen Schlussstrich und veröffentlichten am Freitag Vertigo Days – ein Album, das vieles aufsaugt und zusammendenkt, an dem die Band in den letzten Jahren gearbeitet hat.

Improvisation trifft hier auf vollendete Arrangements, engmaschiger Krautrock auf entgrenzten Indie Pop, Soundtrack auf Live-Spiel, Hip-Hop Beats auf verträumte Chöre und Blasmusik. Fast wirkt es, als wären viele ihrer jüngeren Projekte – zu nennen wären hier als unzureichende Auswahl vielleicht Spirit Fest, 13&God, Rayon, Hochzeitskapelle oder ihr Festival Alien Disko – hier in einen Filter gelaufen und als Notwist-Album wieder herausgeflossen. Unterstützt wird dieser Fluss von einem perkussiven Drive, den man von ihnen bisher in dieser Intensität nur aus ihren Live-Arrangements kannte, der die Songs übergeordnet zusammenhält und ihnen eine Grundspannung verleiht. Sie klingen dadurch viel stärker verbunden als Notwists bisherige Studioalben und geben Vertigo Days einen collagenhaften Charakter, der die einzelne Songs eher zu Motiven verkleinert. Die Übergänge sind vielseitig – teilweise werden Songs überblendet oder hart abgeschnitten –, aber notwendig, denn das Album hat keine Zeit zu verschwenden.

Auch textlich sind die Songs auf Vertigo Days verbunden. Nach dem kurzen Intro Al Norte, das auf die Soundpalette einstimmt, werden die restlichen Songs eingeklammert von einem zweiteiligen Motiv, das zunächst im Song Into Love / Stairs auftaucht und sich im letzten Track in neuem Arrangement als Into love Again wiederholt. Der gemeinsame Text beider Tracks bildet eine Klammer:

Now that you know the stars ain’t fixed
the roads ain’t straight
now that the sky can fall on us
now that you know how much it hurts won’t save you from
falling into love again

Notwist – Into love / Stairs, Into Love Again (2021)

Eine Phrase, die auch politische Dimensionen hat. Denn während der Arbeit am Album hat sich die öffentliche Stimmung oftmals verkehrt, nicht nur durch eingangs erwähnte unvorhergesehene politische Entwicklungen, die auch die Popkultur kalt erwischt haben. Zuletzt dann eben auch die Corona-Pandemie, in deren Verlauf die finale Entstehungsphase des Albums fiel. Einige Songs, vor allem die Features, entstanden zwangsweise dezentral, während Cico Beck, Micha und Markus Acher sich als Produktionskern der Band im Münchner Studio vergruben und diese allgemeine Verunsicherung ins fast fertige Album einflochten. Womöglich setzt die kurze Textpassage auch ein Motiv von Close to the Glass fort:

When the stars fall of the ceiling
They rolling to the sea
One room for us
One room for both of us
One room for us
Is not available

Notwist – Casino (2014)

Casino vom 2014er Album, ein Song über ein verspieltes Leben, bringt existenzialistische Tendenzen mit, welche auch ein textlicher Ausgangspunkt für Vertigo Days sind und vor allem in Songs wie Loose Ends und Night’s Too Dark durchdringen, die auch im Sound am engsten an Notwists frühere Platten anknüpfen. Genau dieser Existenzialismus, der sich in melancholische Lebensbejahung flüchtet, scheint von externen Faktoren herausgefordert zu sein, verliert doch vieles angesichts dem kulturellen Stillstand und hinter dem Zwang, nichts zu tun, seine Leichtigkeit, ja, Ertragbarkeit. Doch zum Glück ist auch von jener Leichtigkeit, die sich die Band erarbeitet hat, an anderer Stelle noch vieles übrig auf den Aufnahmen. Denn eigentlich war sie bei Vertigo Days mal angetreten, um ihren Sound zu öffnen, zu verbreitern, zu reflektieren und gemeinsam als Band neue Gefilde zu betreten, ihm, anstatt weiter am eigenen Denkmal zu arbeiten, seine Flüchtigkeit zurückzugeben.

Cico Beck, Micha und Markus Acher, die gemeinsam mit Andi Haberl, Max Punktezahl und Karl Ivar Refseth Notwist bilden.

Vielleicht hat ihm die letzte Produktionsphase wieder ein Stück der Flüchtigkeit genommen, aber dennoch besticht Vertigo Days durch Offenheit und eine Entgrenzung des Sounds. Die fünf Features der Platte sind nicht einfach Notwist-Songs mit gemeinsam gesungenen Refrains, sondern mit den Gastmusiker*innen entworfene Schnittstellen, die einander auf den Grund gehen und abseits des Erwartbaren etwas völlig Eigenes schaffen. Vertreten sind die Tenniscoats-Sängerin Saya Ueno aus Tokyo und ihr Bläser-Ensemble Zayaendo, die beiden Jazzmusiker٭innen Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay aus Chicago sowie die argentinische Electro-Songwriterin Juana Molina. Und sie alle wussten die Freiheiten zu nutzen, die ihnen gewährt wurden.

Zwischen Flüchtigkeit und notorischem Fluss ist Vertigo Days ein spannungsreiches Album, das zwischen den Polen hin- und herspringt, auf dem vieles möglich und alles in einem warmen, handgemachten Sound verbunden wird. Sieben Jahre haben Notwist sich Zeit genommen, um ihre Collage zu Ende zu denken. Sie haben die Zeit genutzt.

Notwist 2021, ein Beispiel: Al Sur (feat. Juana Molina)

Quelle: YouTube

Vertigo Days von Notwist erschien am 29. Januar 2021 bei Morr Music und hat 14 Tracks.

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New York, meine Hassliebe

In der sehr sehenswerten Netflix-Produktion „Pretend It’s a city“ von Martin Scorsese erzählt die in Deutschland bisher kaum bekannte amerikanische Intellektuelle Fran Lebowitz in sardonischer Weise von ihren Alltagsbeobachtungen im New York der Vor-Corona-Zeit und ihrer zwiespältigen Hassliebe zu der Großstadt, in der sie seit 1969 lebt.


„Pretend it’s a city“ („Tu so, als wäre das hier eine Stadt“), diesen titelgebenden Satz sagt die überaus schlagfertige Lebowitz zu störenden Touristen, die einfach auf dem Fußweg stehen bleiben, oder zu Menschen, die aufs Smartphone starren und nicht auf andere Fußgängerinnen und Fußgänger achten. Bereits als Schülerin erhielt sie eine Auszeichnung als schlagfertigste Person ihrer Jahrgangsstufe.

Und diese Eigenschaft, rasch, witzig, treffsicher und mit bissigem Sarkasmus die Zustände um sich herum kommentieren zu können, blieb ihr klar erhalten. Dies ist das tragende Element der unterhaltsamen und zugleich lehrreichen und bewundernswerten Dokumentation. Lebowitz erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer in Gesprächen mit dem mit ihr befreundeten Regisseur Martin Scorsese in einem New Yorker Players Club, der von Edwin Booth, dem Bruder des Lincoln-Attentäters John Wilkes Booth, gegründet wurde, oder in der Interaktion mit Menschen aus dem Publikum bei einem ihrer Auftritte. Darin geht sie darauf ein, wie sich das heutige New York im Vergleich zu „ihrem“ New York der 70er Jahre verändert hat und welche Auswüchse des modernen Lebens sie weder versteht noch mitmachen möchte. Es ist eine unzerstörbare Hassliebe, die die Intellektuelle mit der Stadt verbindet und die zu sehen Freude bereitet.

Dabei muss man wissen, dass die Mini-Serie von dem New York der Massen, der Touristinnen und Touristen handelt, da sie vor dem Beginn der Corona-Pandemie abgedreht wurde und die Straßen damals noch nicht leergefegt waren. Aus diesem Grund ist allein das Zusehen eine willkommene Form des Eskapismus vor dem Corona-Alltag, der mit leeren Innenstädten, Mund-Nasen-Bedeckung und Social Distancing einhergeht.

Die Schriftstellerin Fran Lebowitz, geboren 1950 in New Jersey, hatte als Schülerin schlechte Noten und flog von der High School. Nach dem Erhalt eines Alternativabschlusses zog sie mit 18 Jahren zu ihrer Tante nach Poughkeepsie im Bundesstaat New York, 1969 dann direkt nach New York City. Sie lebte in den Wohnungen befreundeter Künstler und von kleinen Jobs, unter anderem schrieb sie zunächst für ein kleines Magazin. Daraufhin wurde sie als Kolumnistin für Andy Warhols Zeitschrift „Interview“ angenommen, für welche sie Filme rezensierte und die Kolumne „I Cover the Waterfront“ verfasste. Es folgte ein Engagement bei der Frauenzeitschrift „Mademoiselle“. In diesen Jahren schloss sie Freundschaft mit vielen Künstlern.

© Netflix

Die Autorin Lebowitz hat bis heute lediglich zwei Essaysammlungen sowie ein Kinderbuch veröffentlicht: „Metropolitan Life“ (1978), eine Sammlung komischer Essays aus „Interview“ und „Mademoiselle“ in sardonischem Ton, sowie „Social Studies“ (1981), eine weitere Essay-Sammlung. Beide von ihr herausgegebenen Bücher wurden später in dem Werk „The Fran Lebowitz Reader“ (1994) zusammengefasst. 1994 erschien außerdem ihr letztes Buch, ein Kinderbuch mit dem Titel „Mr. Chas and Lisa Sue Meet the Pandas“. Seit Mitte der 90er Jahre wird Fran Lebowitz von einer Schreibblockade vom Schreiben abgehalten, die sie „writer’s blockade“ nennt, anstatt den eigentlichen englischen Begriff „writer’s block“ zu benutzen.

Aufgrund ihrer langanhaltenden Schreibblockade verdient Lebowitz ihr Geld mit TV-Auftritten sowie Vorträgen als Sprecherin vor Publikum, bei denen sie ihre zahlreich vorhandenen Urteile im gewohnt sardonischen und komischen Stil kundtut. Auch als Schauspielerin hatte sie einige Engagements, insbesondere in der von ihr bevorzugten Rolle der Richterin in der Serie „Law & Order“, aber auch in „The Wolf of Wall Street“.

Fran Lebowitz – das zeigt auch „Pretend It’s A City – ist ein wahrhaftes New Yorker Original, eng verbunden mit der Kunst und Kultur der Stadt und befreundet mit zahlreichen anderen Intellektuellen und Künstlerinnen und Künstlern. Sie ist außerdem eine Stilikone mit dem von ihr getragenen Jackett und Herrenhemd sowie der dazugehörigen Levis-Jeans, den Cowboystiefeln und der Schildpattbrille. 2007 wurde sie von der „Vanity Fair“ als eine der bestgekleideten Frauen auf die „Annual International Best-Dressed“-Liste gesetzt.

Bereits in dem Film „Public Speaking“ hat Martin Scorsese seiner Freundin Lebowitz im Jahr 2010 eine Dokumentation gewidmet. Die siebenteilige Mini-Serie „Pretend It’s A City“ zu je ca. 30 Minuten bietet nun deutlich mehr Raum für Dialog. Jeder Episode ist ein vages Gesprächsthema wie zum Beispiel „Kultur“, „Verkehr“ oder „Sport und Gesundheit“ zugewiesen. Man erlebt Lebowitz im New Yorker Players Club, vor Publikum, aber auch, wie sie in den Straßen der Stadt und auf dem Times Square flaniert und zudem wie sie sich ihren Weg durch ein Miniaturmodell von New York im Queens Museum bahnt.

Die Serie ist für New-York-Fans und solche, die es werden wollen, sowie für alle Anhängerinnen und Anhänger gepflegter Unterhaltung und gewitzt-intellektueller Gespräche sehr empfehlenswert.

Einen Trailer gibt’s hier:

Quelle: YouTube

„Pretend It’s A City“ von Martin Scorsese mit Fran Lebowitz hat sieben Folgen und ist seit dem 8. Januar 2021 auf Netflix verfügbar.

Titelbild: © Netflix

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COVID-Filmreisen: Big Night

Lust auf ein authentisches, herzhaftes Festmahl? „Big Night“ ist ein altmodisches Comedy-Drama über Essen, Beziehungen und den amerikanischen Traum. Koch dir ein italienisches Essen, zünd ein paar Teelichter an, gieß dir etwas Wein ein und lass Tony Shalhoub und Stanley Tucci den Rest erledigen.


COVID-Filmreisen: 2020 ist für fast alle ein seltsames und hartes Jahr. Mir haben Netflix und Amazon Prime durch die Zeit geholfen und mich aufgemuntert. Gleich zu Beginn des Lockdowns stieß ich auf eine App namens JustWatch, die großartig darin ist, auf Grundlage meiner Abos, meines Geschmacks und des bereits Gesehen passende Filme zu empfehlen. Ich habe eine große Anzahl Juwelen ausgegraben, die in Netflix und Amazon Prime versteckt waren. Einige der besten Filme, auf die ich im vergangenen Jahr stieß, werde ich in dieser Reihe dokumentieren und diskutieren. Teil 2: Big Night von 1996.

Marcella‘s (Auftakt)

Marcella’s war ein italienisches Lokal in Edinburgh (Schottland, UK). Angelo, der charmante alte sizilianische Mann, der das Lokal ganz alleine betrieb, musste sich nicht allzu sehr anstrengen. Er murmelte einmal, dass es während seiner Blütezeit eine italienische Bäckerei war, in der er sich auf Kuchen spezialisiert hatte. Später wandelte er die Bäckerei in ein Imbisslokal um (das ist das beste Wort, um den Ort zu beschreiben). Der Ort hatte Charakter. Plastikblätter und Trauben schmückten die Wände. Himmelblaue Fliesen und die in derselben Farbe gestrichene Decke gaben mir das Gefühl, in einem Schwimmbecken zu sitzen. Die Wände waren wahllos behängt mit Plakaten aus den 1970er und 1980er Jahren mit Menschen, die Pasta assen, und Postern, auf denen Ragù- und Napolitana-Saucen erklärt wurden. Dies war nicht der Ort für ein Essen bei Kerzenschein, sondern für ein gemütliches, einfaches und leckeres Mahl. Die Speisekarte war unkompliziert – ein halbes Dutzend Nudeln und Pizzen, Knoblauchbrot, zwei Suppen, zwei Salate, alkoholfreie Getränke, ein wenig Gebäck, Kaffee und Tee.

Na ja … Angelo ist 2018 verstorben. Ich vermisse seine Spaghetti Carbonara. Ich versuchte ihn zu überreden, das Rezept mit mir zu teilen, nur um ein strahlendes Lächeln und Schweigen zu bekommen! Angelos Essen und Gebäck begeisterten viele. Marcella‘s italienisches Lokal stand nicht in den Reiseführern, es war ein verstecktes Juwel, von dem nur Einheimische wussten. Die Leute besuchten das Lokal für Angelo für sein köstliches Essen und die Behaglichkeit, die dieser Ort verströmte.

Paradise

In den 1950er Jahren an der Küste von New Jersey ist „Paradise“ ein angeschlagenes italienisches Restaurant, das von zwei italienisch-stämmigen Brüdern aus Kalabrien (Italien) geführt wird.

Primo (Tony Shalhoub) und Secondo (Stanley Tucci, ebenfalls Co-Regisseur) unterscheiden sich in ihren Ambitionen und Überzeugungen, aber sie verbindet ihre Liebe zum Essen und die Freude am Kochen für andere. Primo kämpft darum, an seiner italienischen Identität festzuhalten, während Secondo bereit ist, Kompromisse einzugehen, um den amerikanischen Traum zu verwirklichen. Der Versuch, die Amerikaner dazu zu bringen, authentisches italienisches Essen zu schätzen und gleichzeitig ihre Bank und Konkurrenz in Schach zu halten, wird zur Herausforderung.

Das „Paradise“ ist einer dieser Orte wie Marcella’s, stehengeblieben in der Zeit. Es muss sich an die amerikanische Idee eines italienischen Restaurants anpassen. Oder sollte es das wirklich? Das ist die große Frage, die „The Big Night“ stellt.

Beziehungen

Die drei Frauen im Film, gespielt von Minnie Driver, Allison Janney und Isabella Rossellini, bilden die Grundlage der Geschichte. All ihre Szenen sind mit Finesse geschrieben. Durch sie werden die Konflikte aufgeworfen und dann diskutiert. Der Antagonist Ian Holm (Bilbo Beutlin aus Der Herr der Ringe) liefert eine Liebes-/Hassfahrt. Er ist der Bösewicht, der aus guten Beweggründen handelt; meint er jedenfalls! Es ist herzerwärmend im Film zu sehen, wie sich die Brüder trotz ihrer Unterschiede gegenseitig unterstützen.

Timpano

In der Handlung veranstalten die Brüder ein großes Fest in ihrem Restaurant und servieren ein italienisches Vier-Gänge-Menü. Sie zeigen ihr Fachwissen und gießen ihr Herz in jedes Gericht, das sie für ihre Gäste kochen.

Das Hauptgericht ist „Timpano”, eine gebackene Pasta, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Es ist eine visuelle Freude und ich bin zuversichtlich, dass es auch den Gaumen verwöhnen wird! Hier gibt’s einen Vorgeschmack:

Quelle Titelbild: YouTube, Titelbild: © Allstar

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Gesammelte Zeugnisse der Liebe

Im Elisabeth Sandmann Verlag ist ein außergewöhnlicher Bildband erschienen, dessen Anliegen es ist, die Universalität der Liebeserfahrung über die Zeit, den Raum und soziale Grenzen hinweg abzubilden. Das Besondere an diesem Werk: Die Herausgeber Neal Treadwell und Hugh Nini, die die Bilder auf ihren jährlichen Reisen durch verschiedene Länder in Europa, Kanada und quer durch die USA sammelten, haben 350 Bilder von ausschließlich Männerpaaren zusammengetragen. Insgesamt besitzen sie über 2800 Originalfotos liebender Männer.


Das Kriterium für die Auswahl der Bilder war für die beiden Sammler der Blick in die Augen der fotografierten Männer:

„Im Blick von Verliebten liegt ein unverkennbarer Ausdruck. Man kann ihn nicht vortäuschen. Und wenn man Liebe empfindet, lässt sie sich nicht verbergen.“

Vorwort „Eine Zufallssammlung“ von Hugh Nini und Neal Treadwell

 

Doch nicht nur die Augen bringen die Zuneigung der Paare zum Ausdruck: Sie umarmen oder umschlingen sich auch, sind einander zugeneigt, sie haben die Arme über die Schultern gelegt, sind ineinander eingehakt, lehnen sich aneinander, sehen in dieselbe Richtung oder einander an, einer sitzt auf dem Schoß des anderen. Die Gesten der Liebe ähneln sich über Raum und Zeit hinweg auf auffällig deutliche Weise, wie Nini und Treadwell in ihrem Vorwort feststellen:

„Sie haben die Bilder der anderen nicht gesehen und konnten sie demnach nicht nachstellen. Die spiegelbildliche Ähnlichkeit in ihrer Körperhaltung ergab sich auf natürliche Weise aus ihrem Menschsein.“

s. o.

 

Einige wenige Paare simulieren eine Hochzeit, etwa in Form einer Trauungszeremonie, die natürlich keiner echten Eheschließung gleichkam, oder indem einer der Partner einen Sonnenschirm hält, wie er damals bei Trauungszeremonien in den Südstaaten üblich war. Auch Blumensträuße oder Ringe tauchen als Zeichen der emotionalen Nähe auf den Bildern häufiger auf. Auf den 300 Seiten des Bandes mit Bildern aus den Jahren 1850 bis 1950 – vom Amerikanischen Bürgerkrieg über den Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre – findet sich der unanfechtbare Beweis dafür, dass die homosexuelle Liebe unabhängig von den sozialen Umständen und der gesellschaftlichen Form existiert hat, dass sie – wie die Liebe zwischen Mann und Frau – gewissermaßen eine Konstante in jeder Gesellschaft darstellt.

Da die Fotografien aus einer Zeit stammen, in der die gleichgeschlechtliche Liebe nicht nur geächtet, sondern auch gesetzlich verboten war, (wie sie es leider auch heute noch in manchen Staaten ist) erforderte es von den abfotografierten Partner Mut, sich zu ihrer intimen Beziehung und ihrer gegenseitigen Zuneigung zu bekennen, indem sie sich ablichten lassen. Wäre die Homosexualität der Fotografierten entdeckt worden, hätten sie sich einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sehen können. Die Paare stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Man findet auf den Bildern Personen aus der Oberschicht, Geschäftsleute, aber auch Arbeiter, Soldaten, Matrosen, Studenten, Männer aus der Stadt sind genauso vertreten wie Menschen aus ländlichen Gebieten im Arbeitsanzug. In seinem Vorwort „Vom Inneren und Äußeren“ macht der Wissenschaftler Régis Schlagdenhauffen (École des Hautes Études en Sciences Sociales) darauf aufmerksam, dass gerade in männlich dominierten Gemeinschaften wie denen der Matrosen, Piraten, Gefangenen, aber auch in der Cowboy-Gesellschaft des Wilden Westen homoerotische und -sexuelle Beziehungen besonders häufig auftraten.

Größtenteils stammen die Bilder, die die Sammler auf Flohmärkten, in Antiquitätenläden und durch spezialisierte Händler zusammengetragen haben, aus den USA, doch vertreten sind auch Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Serbien, Ungarn, Australien, Japan, Singapur, China, die Tschechoslowakei, Estland, Russland, Portugal und einige südamerikanische Länder.

Die Szenerien, in denen die Bilder aufgenommen wurden, sind so bunt wie das Leben: in Fotostudios, in Privaträumen, mit einem Hund, vor dem Meer, am See, beim Baden im Wasser, auf einem Auto, auf einer Kutsche oder dem Motorrad sitzend, im Grünen, auf einer Bank, vor einem Haus, beim Tanzen. So spiegelt der Bildband die ganze Bandbreite des Lebens wieder. Auf erfrischend selbstverständliche Weise wird ganz nebenbei eine ikonographische Kulturgeschichte der Homosexualität zwischen 1850 und 1950 verfasst, die aber keine Partikulargeschichte bleibt, sondern in die Universalgeschichte menschlicher Liebe eingeschrieben wird. „Loving“ hält was der Titel verspricht: Man erhält eine ordentliche Portion Wärme, Zuneigung und Liebe. Ein liebenswerter, berührender Fotoband!


„Loving: Männer, die sich lieben – Fotografien von 1850-1950“, hrsg. von Neal Treadwell und Hugh Nini, erschien in deutscher Ausgabe am 12. Oktober 2020 im Elisabeth Sandmann Verlag und hat 336 Seiten.

Ein Trailer zum Buch ist bei YouTube verfügbar:

TItelbild: © Elisabeth Sandmann Verlag

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COVID-Filmreisen: Keepers – Die Leuchtturmwärter

Drei Leuchtturmwärter auf den abgelegenen Flannan-Inseln finden einen versteckten Koffer mit Gold, was zu ihrem mysteriösen Verschwinden führt.

Von Kathir Sid Vel


COVID-Filmreisen: 2020 ist für fast alle ein seltsames und hartes Jahr. Mir haben Netflix und Amazon Prime durch die Zeit geholfen und mich aufgemuntert. Gleich zu Beginn des Lockdowns stieß ich auf eine App namens JustWatch, die großartig darin ist, auf Grundlage meiner Abos, meines Geschmacks und des bereits Gesehen passende Filme zu empfehlen. Ich habe eine große Anzahl Juwelen ausgegraben, die in Netflix und Amazon Prime versteckt waren. Einige der besten Filme, auf die ich im vergangenen Jahr stieß, werde ich in dieser Reihe dokumentieren und diskutieren. Teil 1: Keepers – Die Leuchtturmwärter von 2018.

Auf diesen Film bin ich ich in einer Facebook-Gruppe schottischer Filmemacher gestoßen und er hat mich direkt fasziniert. „Leuchtturmwärter auf einer abgelegenen schottischen Insel, die gegen Gier und Paranoia kämpfen“ – ein perfekter Regentagsfilm.

Es ist schade, dass der Film nie in Kinos in meiner Nähe ankam – scheinbar war die Nachfrage zu gering. Außerdem erlangte zu der Zeit ein anderer Film, nämlich Der Leuchtturm (2019) von Robert Eggers mit Willem Dafoe und Robert Pattinson in den Hauptrollen, Popularität und Medienaufmerksamkeit. Beide Filme haben gemeinsame Themen – Leuchtturm auf einer Insel, historisches Stück, Psychothriller, Paranoia, Wahnsinn, tote Vögel, Sturm und sowas – die Liste ist lang!

Endlich bekam ich die Gelegenheit und sah mir Keepers – Die Leuchtturmwärter (OT: The Vanishing) bei Now TV (Sky Cinema) an. Mir gefielen die atmosphärische Ästhetik des Films und die transportierte Stimmung. Da ich in Schottland lebte und einige abgelegene Inseln und Leuchttürme besucht hatte, wusste ich die realistische Darstellung des Films zu schätzen.

Die Geschichte ist eine Analyse der menschlichen Natur. James (Gerard Butler), Thomas (Peter Mullan) und Donald (Connor Swindells) kommen aus rauen Verhältnissen. Das Leben im entlegenen Schottland des Jahres 1900 muss hart gewesen. Die drei hatten mit Geldproblemen und Trauer zu kämpfen und waren gesellschaftlich isoliert. Die Leuchtturminsel war wahrscheinlich der einzige Ort, an dem sie Ausflucht finden konnten. Dies demonstrieren sonnige und fröhliche Szenen zu Beginn der Geschichte.

Kann ein Hauch von Glück in den Weiten des Elends verweilen? In dieser Geschichte zumindest löst es schlechte Entscheidungen aus, die in Todesfällen und Traumata gipfeln. Es war erfrischend, Gerard Butler in einer, sagen wir, geerdeten Rolle zu sehen. Betrachtet man sein Profil von Rotten Tomatoes, erreichen nur zehn seiner Filme etwa 60 %, und Keepers steht davon auf Platz sieben. Peter Mullan hingegen ist zweifellos einer der besten Schauspieler unserer Zeit und sein Talent sollte mehr Anerkennung finden. Er überzeugt mit Leichtigkeit. Wahrscheinlich die einzige Figur, die in der Geschichte nichts zu verlieren hat, ist seine Rolle, Achtung, Spoiler, auch die einzige, die überlebt und lernt, die Last der Traurigkeit zu tragen.

Ich habe über das mysteriöse Verschwinden der Leuchtturmwärter auf den Flannan-Inseln gelesen, bevor ich diesen Film sah. Die wirkliche Lebensgeschichte, das Mysterium, gab dem Film einen Kontext. Ich konnte nachvollziehen, warum im Film bestimmte Dinge geschahen und welche Überlegungen möglicherweise dahinterstanden. Ich bin mir nicht sicher, ob das auch bei jemandem der Fall wäre, der den Film ohne Hintergrundinformationen anschauen würde. In den Anfangsszenen gab es wahrscheinlich eine Text-Einblendung dazu, aber Regisseur Kristoffer Nyholm und die Drehbuchautor*innen Celyn Jones und Joe Bone hätten eine weitere am Ende des Films hinzufügen können, statt ihn plötzlich und abrupt enden zu lassen.

Doch Keepers – Die Leuchtturmwärter hat das Herz an der richtigen Stelle. Es gibt in der Geschichte einige emotionale Einschläge, die vielleicht nicht stark genug sein mögen, um das Publikum gänzlich zu überwältigen, mich jedoch mit dem Wunsch nach mehr zurückließen.

Tipp: Sie ihn dir den Film einem tristen, regnerischen Tag an.

Ein Trailer:

Quelle Trailer: YouTube, Titelbild: © Saban Films

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Die unstillbare Sehnsucht nach der Ferne

„Allerorten“, der Titel von Sylvain Prudhommes Roman, der im französischen Original „Par les routes“ lautet, ist ein veralteter, aber dafür umso schönerer Ausdruck für das Adverb „überall“. Und tatsächlich bewegt sich einer der Protagonisten dieses leichten und lebensbejahenden Romans überall in Frankreich. Es handelt sich um den Anhalter, der trampend durch das ganz Land reist.


Doch von vorn: Der Schriftsteller und Ich-Erzähler des Textes Sacha hat das großstädtische Lebens in der französischen Hauptstadt satt und zieht daher von Paris in die kleine Stadt V. in der Provence um. Von V. erfahren die Leserinnen und Leser nicht viel mehr als den ersten Buchstaben. In dem Ort wohnt zufällig auch der Anhalter, mit dem Sacha 17 Jahre zuvor während des Studiums in Paris bereits befreundet war, ehe die beiden sich zerstritten und daraufhin getrennte Wege gingen.

Als die beiden ehemaligen Freunde sich in dem kleinen Ort nach fast zwei Jahrzehnten wieder begegnen, verstehen sie sich besser denn je. Was genau sie damals auseinander getrieben hat, kommt in dem Text nie zur Sprache, sodass man sich während des gesamten Romans immer wieder die spannende Frage stellt: Warum verstanden sich die zwei Freunde nicht mehr? Man erfährt bloß, dass der Anhalter die Geduld Sachas vor 20 Jahren schon einmal überstrapaziert hat. Außerdem hat es wohl damals eine Rivalität zwischen ihnen gegeben.

Der Anhalter hat seit der letzten Begegnung eine Familie gegründet, die aus seiner Frau Marie und einem Sohn im Schulalter, Agustín, besteht, während Sacha alleinstehend und kinderlos geblieben ist. Der Anhalter und Marie kommen über die Runden, indem er selbständig handwerkliche Aufträge fast jeder Art – Maurerarbeiten, Fliesenlegen, Bäder, Küchen – ausführt und Gelegenheitsjobs annimmt, und indem sie belletristische Bücher wie einen Romantext von Lodoli aus dem Italienischen übersetzt.

Überraschend ist nicht nur der Kontrast aus handwerklicher und intellektueller Tätigkeit. Auch sonst sind die Lebensentwürfe von Marie und dem Anhalter von Gegensätzen geprägt, was der Liebe bislang keinen Abbruch tut. Während Marie sich um ihre Arbeit und den gemeinsamen Sohn kümmert, zieht es den 40-jährigen immer wieder in die Ferne. Dann bereist er für längere Zeiträume per Anhalter ganz Frankreich.

„Ich brauche das, sagte er schließlich. So einfach ist das, glaube ich. Ich brauche es. Es gibt Leute, die müssen Sport machen. Es gibt Leute, die trinken, die feiern gehen. Und ich brauche es loszuziehen. Das ist für mein inneres Gleichgewicht notwendig. Wenn ich zu lange nicht losziehe, ersticke ich.“

Dabei fährt er anfangs nur über die Autobahnen des Landes, von einer Raststätte zur anderen trampend. Ob er an einem bestimmten Reiseziel ankommt, sei es Paris, Lille oder Brest, ist ihm dabei relativ egal. Es geht ihm vor allem um die Fahrt an sich, den Spaß am Reiseerlebnis.

Bei einem ist sich Sacha sicher: Der Anhalter flieht nicht vor seiner Familie und der Verantwortung. Denn „(e)r war keiner von den Männern, die ersticken, die es drängt, endlich den Ausbruch zu wagen (…).“ Vielmehr hat er das ständig Bedürfnis, anderen zu begegnen, Bekanntschaften und Freundschaften mit neuen Fahrerinnen und Fahrern zu machen. Für den Anhalter ist es nämlich ausnahmslos eine Freude, neue Menschen kennenzulernen.

„Ich bin in meinem Leben wenigen Menschen begegnet, für die andere nie lästig, ermüdend, langweilig sind. Sondern immer eine Chance. Ein Fest. Die Möglichkeit eines Mehrs an Leben. Der Anhalter gehörte dazu.“

Bei einem Abendessen erzählt der Schriftsteller Sacha von seinem neuen Buchprojekt, welches ebenfalls vom Reisen handelt und den Titel „Die Melancholie der großen Schiffe“ trägt: Es ist die Geschichte einer alten Dame, „die auf Reisen geht, von Stadt zu Stadt, von Begegnung zu Begegnung.“ Da die Dame sich bereits im Ruhestand befindet und keinerlei Verpflichtungen mehr hat, kann sie überallhin reisen, wo sie möchte. Sie reist in dem Buch zu verschiedenen Orten zugleich, „in ein und derselben absoluten Gegenwart“.

Auch der Anhalter hält seine Reiseerlebnisse fest, allerdings fotographisch: Von jeder Fahrerin und jedem Fahrer, der ihn ein Stück weit mitnimmt, egal ob weit oder kurz, macht er mit einer Polaroidkamera eine Aufnahme. Seine Sammlung umfasst Hunderte von Bildern, die er in einer Schublade in seiner heimischen Werkstatt sammelt. Als Sacha etwas später im Roman die Fotos durchzählt, sind es bereits weit über tausend Fotos. An viele der Fahrerinnen und Fahrer kann der Anhalter sich noch erinnern.

Später ändert der Anhalter seine Reisemethode: Er verlässt nun die Autobahnen die Autobahnen, um stattdessen von einem entlegenen Dorf zum nächsten zu reisen. Die Dörfer, in die er sich begibt, sucht er anhand ihrer Namen aus. Es handelt sich überraschend oft um Dörfer mit sprechenden Ortsnamen, zum Beispiel „Beausoleil“ (schöne Sonne), „Le Rendez-vous des chasseurs“ (Jägertreff), „La Réunion“ (Treffen), „Ogres“ (Menschenfresser), „Doux“ (Sanft). An der belgischen Grenze bereist er Dörfer, deren Name mit einem Z beginnt, etwa Zuytpeene, die „letzte Stadt im Alphabet“, oder Zydcooote, Zutkerque, Zoteux, Zouafques.

Um die Verbindung zu Sacha, Marie und Agustín nicht ganz abbrechen zu lassen, sendet er den dreien Ansichtskarten aus jeder neuen Stadt, in die er kommt. An festen Tagen und zu festen Zeiten – montagmorgens und donnerstagabends – ruft der Anhalter außerdem zuhause an, während er unterwegs ist.

Doch wie die Ansichtskarten mit der Zeit immer seltener eintrudeln, so machen sich auch die Besuche des Anhalters zuhause in V. immer rarer. Dauerten seine Touren anfangs in der Regel nur drei, vier Tage dauerten, bleibt er nach Sachas Ankunft in V. ein, zwei Wochen weg. Marie hat es irgendwann über, dass ihr Mann ständig auf Achse ist, wie der Anhalter seinem Freund an der Autobahnraststätte Lançon gesteht.

„Ich habe sie gefragt, ob ich ihr fehle, sie hat Nein geantwortet. Sie hat mir ins Gesicht geschaut und die Wahrheit gesagt: dass ich ihr immer weniger fehle. Sie sei traurig (…). Nicht weil ich losziehe. Nicht weil ich nicht da bin. Sondern traurig, weil sie sich daran gewöhnte. Traurig zu spüren, dass meine Abwesenheiten ihr fast nichts mehr ausmachen.“

Der Anhalter merkt, dass er durch seine vielen Reisen dabei ist, seine Beziehung zu Marie zu zerstören, die ihm offen gesteht, dass sie Sacha mag. Marie ist zunehmend traurig, wenn die Postkarten vom Anhalter ankommen, während zu Beginn ihre Freude, Traurigkeit und Unmut ausgewogen waren.

Und tatsächlich: Während der Abwesenheit des Anhalters kommen sich Sacha und Marie näher. Sie verbringen zunächst immer mehr Zeit miteinander. Sacha kümmert sich manchmal um Agustín, indem er ihn von der Schule abholt oder danach auf ihn aufpasst, um Marie zu entlasten.

Die Liebesbeziehung zwischen Marie und Sacha, die zu Beginn keine ist, keine sein darf, beginnt mit vorsichtigen Annäherungen, ausgetauschten Küssen, einem ersten Anschmiegen, Umarmungen. Dann geht Marie demonstrativ wieder auf Distanz, weil sie ihren Mann nicht betrügen möchte. Diese emotionale und intellektuelle Bewegung zwischen intuitiver Annäherung, lustvollem körperlichen Kennenlernen und Abstoßung aus rationalen Gründen ist vom Autor sehr fein beobachtet und hervorragend geschildert.

Eine ménage à trois beginnt, bei der einer der Beteiligten nur aus der Ferne zusehen kann, da er fast nie anwesend ist. Und dennoch wird man bei der Lektüre das Gefühl nicht los, dass der Anhalter von Beginn an, womöglich schon bei den ersten Aufeinandertreffen der drei, ein sehr gutes Gespür dafür hat, dass zwischen seiner Frau und dem Neuankömmling Sacha etwas Ernsteres entstehen könnte. Statt gegen diese langsam vonstatten gehende Entwicklung vorzugehen oder Zeichen von Eifersucht an den Tag zu legen, lässt er den Dinge einfach ihren Lauf. Hier wird die wahrhafte Tramperseele offenbar.

Vielleicht ist die zunehmende Nähe zwischen Marie und Sacha einer der Gründe dafür, dass der Anhalter die drei Zuhausegebliebenen nun für immer längere Zeiträume allein in V. lässt. Die beiden fahren auf einen Vorschlag Sachas hin mit Agustín und einem Freund Agustíns ans Meer.

Als kurz nach dem idyllischen Ausflug ans Meer der Anhalter aus der Normandie anruft, wird Sacha kurzzeitig von dem paranoiden Gedanken beherrscht, dass der Anhalter in Wahrheit gar nicht verreise, sondern heimlich ihr Leben in V. beobachte. Eine Nacht lang kurvt er auf der Suche nach ihm mit dem Auto durch die dunklen Straßen der kleinen Stadt, jedoch ohne fündig zu werden, weshalb er die quälenden Gedanken am Ende verwirft.

Marie sagt nun, dass sie nicht mehr könne – die vielen Reisen des Anhalters werden ihr zu viel. Während Marie, die auf einmal den Impuls hat wegzufahren, für einige Tage verreist, kümmert sich Sacha um Agustín und hütet das Haus. Er fühlt sich dabei wie ein Kuckuck, der sich in ein fremdes, gemachtes Nest setzt – „mit dem Unterschied, dass ich kein Ei in ein fremdes Nest lege, im Gegenteil, ich beschütze die Brut, die schon da ist, ich kümmere mich darum, ich verhalte mich wie eine echte Mutter“.

Als Marie nach zehn Tagen zurückkehrt, wird sie von Agustín mit großer Freude empfangen und berichtet Sacha, was sie erlebt hat. Zunächst hat sie für drei, vier Tage ihren ehemaligen Studienkollegen und Geliebten Jean besucht, der mittlerweile, von seiner Frau getrennt, einen kleinen Verlag führt.

„Was ich nach drei Tagen mit Jean vor allem gesehen habe, war, dass der Anhalter mir weiter fehlte. ist ich mich in jedem Augenblick fragte, wo er war, was er machte.“

Am Morgen des vierten Tages ist sie ins Auto gestiegen, um nach Norden zu fahren, wo sich nach ihren Kenntnissen der Anhalter in diesem Moment aufhielt, der eine Karte aus den Orten gesendet hatte, die mit Z beginnen. Sie erreicht die Dörfer, die mit Z beginnen und irrt den ganzen Tag mit dem Wagen umher. Sie nimmt sich ein Motel und verbringt mehrere Tage im Norden, um ihren Mann zu suchen, im Bewusstsein, dass ihr Vorhaben eigentlich völlig verrückt ist. Nach vier Tagen passiert das Unwahrscheinliche: Sie findet den Anhalter an einer vierspurigen Straße am Ausgang von Dunkerque.

Nachts nehmen sie sich ein Hotel. An der Rezeption ereignet sich der Moment, der für beide den entscheidenden Wendepunkt in ihrer Beziehung markiert. Der Anhalter verlangt vom Rezeptionisten ein Zimmer für beide. Marie korrigiert ihn, indem sie um ein zweites Zimmer für sich selbst bittet. Am nächsten Morgen fährt Marie wieder nach Hause, wobei sie sich plötzlich immer sicherer und selbstbewusster fühlt.

Von nun ist Sacha immer öfter bei Marie und Agustín zu Besuch und übernachtet sogar. Die drei Zuhausegebliebenen gehen gemeinsam wandern, arbeiten im Gemüsegarten, Marie spielt Klavier und beendet ihre Übersetzung. Sie verbringen einige Tage des Nichtstuns. Das Fortsein des Anhalters wird immer mehr zu einer Tatsache. Zwischen den vier hat sich ein Gleichgewicht eingespielt, das keiner mehr infrage stellt. Das Zusammenleben mit Sacha ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Nachdem Agustín ein Bild von unterirdischen Gängen und dem Krieg gemalt hat, das Sacha an Les Éparges erinnert, fährt der Anhalter dorthin. Daraufhin ersinnen die vier ein Spiel: Sacha, Agustín und Marie diktieren dem Anhalter per Telefon, an welchen Ort er als nächstes reisen soll. Dieser nimmt die Herausforderung an. Währenddessen werden die Postsendungen weniger und bleiben schließlich ganz aus.

Eines Tages im Mai steht der Anhalter vor der Tür, um Sacha abzuholen. Er möchte ihn für zwei, drei Tage auf eine Reise in den Weiler Orion mitnehmen, der auf halbem Weg zwischen Pau und Bayonne liegt. Nur sie beide sollen noch einmal per Anhalter verreisen, wie früher. Gegen Ende des Buches erlebt man das Trampen und das damit einhergehende Lebensgefühl also aus nächster Nähe. Eine schöne Reiseepisode, die „eine vertraute Anspannung“, nämlich das Reisefieber, die „Freude, wieder auf Achse zu sein“ vermittelt.

Nach einem Tag Fahrt kommt Sacha in Orion an. Der Anhalter ist bereits vor Ort, wo er am Fuß eines Wasserturms sitzt, der in dem kleinen Ort kaum zu übersehen ist. Während der Anhalter mit neun Fahrten in das Städtchen gekommen ist, hat Sacha nur fünf gebraucht.

„Das sagte viel über uns aus. Der Vorausschauende, Abwägende, Vorsichtige, auf Effizienz Bedachte. Und der Abenteurer, bereit, jede sich bietende Gelegenheit zu ergreifen (…).“

Sie ruhen sich aus, bauen ihre Zelte neben dem Wasserturm auf und baden im Bach in der Nähe. Daraufhin lernen sie eine Frau aus dem Ort kennen, Souad, die sie abends zu sich nach Hause einlädt, wo sie ihnen ein Abendessen und eine Dusche anbietet. Der literarisch und mythologisch gebildete Sacha erzählt Souad und ihrer Tochter Lila die Geschichte, wie der riesenhafte Jäger Orion zu einem Sternbild wurde. Denn nach Orion kamen die beiden Freunde, wie sie berichten, nur deshalb, weil das Dorf den Namen eines Sternbilds trägt.

Schließlich müssen die Freunde wieder nach draußen, um in ihren Zelten die Nacht zu verbringen. Am nächsten Morgen dann die große Überraschung: Der Anhalter ist weg, abgereist, verschwunden mitsamt seinem Zelt. Sacha sucht im Dorf nach ihm, doch vergebens.

„Ich dachte an all die Momente, die wir in den letzten Monaten zusammen verbracht hatten. An die unerwartete Freude, die es mir bereitet hatte, ihn wiederzusehen. Ich dachte an die Worte zurück, die ich vor langer Zeit zu ihm gesagt hatte: Ich will, dass du aus meinem Leben verschwindest. (…) Ich wünschte mir auf einmal, er wäre wieder da.“

Nachdem Sacha nach V. zurückgekehrt ist, zieht er endgültig bei Marie und Agustín ein. Er widmet sich wieder seiner künstlerischen Arbeit. Marie gibt ihre Übersetzung ab. Im Juni machen Marie und Sacha Urlaub in Rom und Marseille, während Maries Mutter sich um Agustín sorgt. In Marseille legen sie während der Rückreise einen spontanen mehrtägigen Halt ein, obwohl sie dort eigentlich nur hätten umsteigen müssen. Marie, Agustín und Sacha ziehen daraufhin öfter los, etwa zu der Dune du Pilat. Der Anhalter bleibt ab dem Sommer verschwunden.

Dann erreicht sie im August überraschend eine Mail vom Anhalter, mit der er Hunderte seiner Fahrerinnen und Fahrer zu einem gemeinsamen Fest einlädt. Die Empfänger sollen einfach am nächsten Wochenende in das Dorf Camarade in Ariège kommen und etwas zu essen und zu trinken mitbringen.

Tatsächlich folgen Hunderte von Menschen dem Aufruf, „Menschen jeden Alters, jeden Milieus, jeden Stils. Männer. Frauen. Kinder. Sichtlich Reiche. Sichtlich Bescheidene.“ Nur der Anhalter kommt nicht. Er hat Freude daran, seine Fahrerinnen und Fahrer aus der Ferne zusammenzubringen, ohne selbst an dem ungewöhnlichen Fest teilzunehmen. Er möchte nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, nimmt Sacha an.

Die Feier wird ein Erfolg: Die Leute freuen sich, verblüfft über sich selbst, dass sie der spontanen Einladung gefolgt sind. Sie unterhalten sich miteinander, grillen, baden, spielen, singen. Der Roman schließt also auf eine sehr festliche und fröhliche Weise. Nur der Anhalter bleibt verschwunden. Das Konstante an ihm ist, dass er sich immer wieder entzieht, indem er sich in die Ferne begibt, die auch bei den Lesern im Lauf der Lektüre die Sehnsucht nach einer Reise weckt.

„Allerorten“ ist Werk über die Lust am Reisen, das Abfahren und Ankommen, das Sich-Entfernen und das Zurückkehren. Mal sprüht die Erzählung vor Energie, mal gibt sie sich den leiseren Tönen hin. Eigentlich wäre das Buch die perfekte Urlaubslektüre. Denn der Roman entführt die Leserinnen und Leser in die mehr oder weniger entlegenen Orte Frankreichs, in die Provence, die Normandie, die Bretagne, in Dörfer mit Namen, die man noch nie gehört hat, und an Orte, die man wahrscheinlich nie im Leben sehen wird.

Das Buch bezaubert durch eine gewisse Leichtigkeit, es hat etwas Entspanntes, Lockeres, das das Urlaubsgefühl in den heimischen Lesesessel bringt. In Zeiten, wo das Verreisen aufgrund des Coronavirus nicht möglich ist, kann ein solcher Text wenigstens eine kompensatorische Leistung übernehmen.

Darüber hinaus ist der Text hochgradig intertextuell: Er steckt voller Anspielungen auf andere musikalische wie auch literarische Werke. Der belesene Sacha nennt uns immer wieder Autorinnen und Autoren, auf die er sich bezieht und die für ihn Bedeutung haben, etwa Gustave Flaubert, Lobo Antunes, Claude Simon, Giani Stuparich, oder gegen Ende den Musiker Leonhard Cohen. Auch Marie ist literarisch gebildet: Sie liest Jim Harrison, Susan Sontag, Luca Sau, Antonio Moresco und Marco Lodoli.

Das Buch „Allerorten“ ist somit auch eine Ode an das Leben als Künstlerin oder Künstler, Schriftstellerin oder Schriftsteller und Übersetzerin oder Übersetzer. In dem Roman wird viel mehr als in anderen Büchern gelesen und über das Schreiben und Lesen nachgedacht.

Über Monate arbeitet Sacha in V. an seinem Projekt „Die Melancholie der großen Schiffe“, bei welchem er Leinwände mit safrangelber Farbe bemalt. Immer wieder sitzt er vor seinem begonnenen Word-Dokument. Ganz nebenbei wohnt man so in dem Roman der mit Scheitern und Schwierigkeiten verbundenen Arbeit des Künstlers bei.

Auch eine sehr bildhafte und anschauliche Würdigung der Übersetzkunst mittels einer militärischen Allegorie, vorgebracht von der Übersetzerin Marie selbst, enthält der Text:

„Sie verglich die Wörter mit alten Soldaten, die seit Jahrhunderten im Dienst der Sprache stehen. Sie sagte, sie gelangten nicht neu zu uns, sie hätten schon in vielen Schlachten gedient. Ein Wort statt eines anderen zu wählen bedeute, einen Veteranen mit seiner gesamten Geschichte, seinem gesamten Gedächtnis in sein Buch aufzunehmen, da dürfe man sich nicht vertun, sonst laufe die ganze Truppe der bisher gewählten Wörter Gefahr, ihre Einheit zu verlieren.“

Als Sacha etwa in der Mitte des Textes in der von Marie angefertigten Lodoli-Übersetzung liest, findet er Gefallen an dem titelgebenden Ausdruck „allerorten“:

„Maries Übersetzung war voller Trouvaillen, die mich begeisterten, zum Beispiel die Stelle, wo der Gärtner zum ersten Mal allein im Garten ist und beschließt, die Pflanzen zu gießen, „weil die Sonne sich neigte und Constantino wusste, dies war allerorten die Stunde, um die man die Gärten goss“. Ich liebte diesen Ausdruck, allerorten.“

Es fällt immer wieder auf, dass Prudhomme eine eigentümliche Interpunktion benutzt, was den Lesefluss bisweilen etwas unterbricht. Er setzt nach Fragesätzen kein Fragezeichen, sondern einen Punkt. Bei manchen Aufzählungen werden die Elemente der Aufzählung nicht durch Kommata abgetrennt, sondern stehen lose nebeneinander. Hat man sich einmal an diese Zeichensetzung gewöhnt, die auch aus seinen vorherigen Romanen „Legenden“ und „Ein Lied für Dulce“ schon bekannt sein könnte, liest sich der Text sehr flüssig.

Insgesamt erhält man mit „Allerorten“ einen Kunst-, Beziehungs- und Reiseroman, der voller Lebensfreude und -bejahung steckt. Die sich ergebende ménage à trois zwischen Sacha, Marie und dem meist abwesenden Anhalter und die Reisen des Anhalters treiben die Handlung des Romans voran, die voller Überraschungen steckt – Ausflüge, eine plötzliche Rückkehr, die abschließende Feier. So wird es in diesem Text nie langweilig, obwohl im Grunde nicht viel passiert und sich die Dinge eher langsam entwickeln. Das liest sich schön, spannend und erfrischend.

„Par les routes“ wurde 2019 in Frankreich mit dem Prix Fémina ausgezeichnet.


Allerorten von Sylvain Prudhomme erschien in der Übersetzung Claudia Kalscheuers am 14. September 2020 im Unionsverlag und hat 256 Seiten. Alle Zitate stammen aus dem Buch.

Titelbild: © Unionsverlag 

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Dark Side Of The Moon: Michael Wollny

Aussteigen aus dem Weltenlauf, sich in eine andere Umlaufbahn begeben. Ehrlich gesagt: Kaum ein Wunsch ist in diesem verrückten Jahr drängender als der Wunsch nach einer Flucht aus dem Alltag. Eine der besten Gelegenheiten für so ein Unterfangen ist „Mondenkind“, das neue Album des Jazz-Pianisten Michael Wollny. Es führt nicht nur weg von der Erde, sondern zeigt auch, wie schön Einsamkeit sein kann.


Genau 46:38 Minuten Spielzeit. Man könnte meinen: naja, die ganz normale Dauer einer üblichen Schallplatte. Doch ist das eine ikonische Zeitspanne. Am 20. Juli 1969 verließen die Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin das Schiff „Columbia“, um wenige Stunden später als erste Menschen auf dem Mond zu landen. Der dritte Astronaut der Crew, Michael Collins, blieb an Bord zurück und umkreiste den Mond. 46:38 Minuten war er dabei jeweils vom Blick- und Funkkontakt zur Erde abgerissen. Allein auf der dunklen Seite des Mondes. Manche Medien sprachen vom einsamsten Menschen der Welt …

Überall Leere und Einsamkeit

An diesen Eindruck knüpft die Situation beim Entstehen des neuen Albums von Michael Wollny an: „Zwei Tage verbrachte ich, zum ersten Mal seit langem allein und ohne Mitmusiker, im großen Aufnahmeraum des Berliner Teldex Studios. Auf dem Weg zu den Aufnahmen saß ich allein im Auto, fuhr durch eine leere Stadt, am Abend lief ich zurück in mein menschenleeres Hotel, es gab nicht nur keine weiteren Gäste, sondern auch kein Personal. Ich war absolut allein mit mir und der Musik, und die Ideen, die sich aus dieser Situation ergaben, gingen weit über den ursprünglich gesetzten Rahmen des Albums hinaus. Das Alleinsein brachte mich dazu, über radikale Solisten nachzudenken, und so kam mir die Geschichte des Astronauten Michael Collins in den Sinn, der während der Apollo-11-Mission allein den Mond umkreiste, und dabei immer wieder jeden Kontakt zur Erde verlor.“

Gib der Welt einen Namen

Aus diesem Alleinsein ist ein Solo-Album im wahrsten Sinne des Wortes entstanden: Michael Wollny allein am Flügel. An sich ist das nichts Besonderes für einen Jazz-Pianisten; doch das Album ist – nach zwölf Aufnahmen, bei denen Michael Wollny federführend war – tatsächlich das erste Piano-Solo-Album des Künstlers.

„Mondenkind“ – der Titel des Albums stammt aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. „Das Wort ist kein Selbstportrait, sondern kennzeichnet einen Schlüsselmoment im Buch, in dem der Protagonist – allein auf sich gestellt – seiner Welt einen neuen Namen gibt und damit erneut belebt. Eine Aufgabe, die sich einem Musiker eigentlich mit jedem neuen Album stellt – und ganz besonders mit einem Solo-Album.“

Michael Wollny, Foto © Jörg Steinmetz

Überall ist das All

Eine ganze Reihe von Künstlern zog die Vorstellung von Einsamkeit und Schwerelosigkeit des Weltalls in den Bann: David Bowies „Space Oddity“ feiert die Hypnose der Einsamkeit in den Weiten des Raums. Pink Floyd lassen sich auf „Dark Side Of The Moon“ komplett auf die Unfassbarkeit des Unbekannten ein. Und „Mondenkind“?

Loops, digitale Klanggebilde, Echoeffekte … bei Titeln wie „Lunar Landcape, „Spacecake“ oder „The Rain Never Stops On Venus“ wäre das ein naheliegendes Instrumentarium. „Mir war relativ schnell klar, dass ich einen ‚klassischen‘ Ansatz wählen wollte, bei dem der volle, dynamische, lebendige Raumklang eines großen Konzertflügels im Mittelpunkt steht. Keine Studiotüftelei, keine Effekte.“ Die Entscheidung spürt man an der Klarheit der Musik. Und ganz ehrlich: Man vermisst nichts.

Das Album ist aufgebaut wie ein Soundtrack und erzählt von einer Reise zum Mond. Ganz unterschiedliche Songs und Herkunftslinien nimmt es dabei mit ins Boot. Zusammen ergeben sie einen großen Bogen, voller Spannung und Entspannung, filmisch, erzählend.

Gut die Hälfte der Stücke stammen aus Wollnys Feder. Die andere Hälfte von Musikern, die für ihn eine besondere Bedeutung haben: Sängerin und Songschreiberin Tori Amos, die Band Timber Timbre, die Neutöner Alban Berg und Rudolf Hindemith oder auch auf aktuelle Pop-Welten wie Sufjan Stevens, Bryce Dessner und Nico Muhly.

Keine Angst vor Einsamkeit!

Ich mag das, wenn Alben von einem Konzept oder einem Thema umklammert sind und doch so ganz unberechenbare Momente haben. Genau das ist der Reiz an der Reise, auf die „Mondenkind“ mitnimmt: Das kurze Stück „Enter Three Witches“ macht einen angenehm ratlos – dann kommt das herrlich pathetische Alban-Berg-Stück „Schließe mir die Augen“, das einen fast die Tränen in die Augen treibt.

46:38 Minuten Alleinsein. Das muss man aushalten können. Aber vielleicht ist dieses Album der beste Beweis dafür, dass Alleinsein eines der schönsten Dinge ist, die es gerade gibt. Wer sich darauf einlässt, bekommt vielleicht im Huckepack auch noch eine Portion Schwerelosigkeit dazu. Besser kann es nicht kommen, oder?


Das Album „Mondenkind“ von Michael Wollny ist als Vinyl, CD und Download Ende September 2020 bei ACT erschienen.

Titelbild: © Jörg Steinmetz

 

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The Dune

Eine Art Film-Review.

von Jens Marder


Dünebarkeit? Offenbar nicht, denn Frank Heiberts Wormbuilding-Klassiker ist primär ein Epos, zumindest der Seitenzahl nach zu urteilen (gelesen habe ich die Scanvorlage nicht). Daher scheint es wenig förderlich, ein derart umfangreiches, grandioses, geradezu monströses Larger-than-Narrativ auf einen dreiminütigen Flick reduzieren zu wollen. Natürlich ist es ein origineller Ansatz, doch ob der Werbefilmer Villeneuve damit die harte Fanbase mehr überzeugt als seinerzeit der berüchtigte Versuch (bzw. Irrtum) von Davin Lynch, bleibt abzuwarten (bzw. zu bezweifeln).

Vom starken Storytelling und anspruchsvollen Beziehungsgeflecht der Charaktere ist in Denis Villeneuves neuem Machwerk jedenfalls nicht viel übrig. Nach seinen ebenfalls recht kurz geratenen Thrillern The Prisoner und The Sicario dringt der zweifelsohne begabte Franzose nun ins Herz der Avantgarde vor. Hektische Schnitte und kryptische Dialoge aus dem Off machen das arg fragmentierte Dekonstruktierchen zu einem intensiven, zumal sehr dichten Gewöhnungsbedürfnis. Es gibt Gastauftritte von Dave Bautista und Jason Mamoa, die sich beide offenbar aufs -a versteift haben. Und dass Oscar Isaacs nicht von Science-Fiction lassen kann, wäre noch löblicher, wenn er nicht ständig etwas vergessen würde (vgl. Rasur).

Als Hauptdarsteller hat man einen naiven Hänfling gewinnen können, dessen kanadisch klingender Nachname einen wertvollen Hinweis liefert – doch worauf? Zu Fragezeichen aus Fleisch und Blut verkrüppelte Zuschauer auf der Suche nach zu verlierender Zeit finden lediglich drei Minuten Filmmaterial vor und drängen sogleich auf jede Menge Antworten, ohne vorher die Fragen formuliert zu haben: Warum besteht der crowdpleasende Twisthuberwurm am Schluss darauf, The Big Lebowski genannt zu werden? Wer sind die grazil an Nylonfäden heruntergelassenen Neonazis, die einen maximalinvasiven Eingriff in das Grundnahrungsmittel Augenbutter planen? Und wäre es nicht effizienter, den Film wenigstens etwas zu strecken, damit die recht aufwendigen KGB besser zur Geltung kommen? Fun Fact: Dass Haus Zimmer nach meisterlichen Osten zu Twistopher Nolans Incepticon und Intrastellar gen The Dune abgewandert ist, wird unzweifelhaft als einer der massivsten Ofenschüsse in die Film- und Kinogeschichte eingehen – denn Villeneuve hat nur Zeit für einen einzigen Song, und der ist weder von Zimmer noch von dieser Welt.

In der Kürze liegt die Würze und in der Düne liegt der Hüne: Wie eine ins Fischnetz gegangene Lochbox lenkt Uncanny Ville ganz Arrktis in groteske Vistas. Schräge Ufos werden von Ed Wood höchstpersönlich in der Trashschwebe gehalten, ambitionierte Hyperlibellen umschwirren das Sandzeitkontinuum und animatronische Sonnenstrahlen beschleunigen den Frementierungsprozess. Seit jeher auf künstliche Beatmung angewiesen, gehen die indigenen Blaualgen vor Tremorpauls Ruckelphantasmen in die (unmerklich, aber umso fester gezwickten) Knie. Fazit: Independence Day meets Langoliers mit PS5-Grafik und Drohblickverlängerung via Schwert.

1 von 5 Sternen

There is an English version of the review at 366 Weird Movies available, which Jens Marder published under his real name.

Titelbild: © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc.

 

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EXIL – Der ewige Fremde? Ein Filmreview

Der intensive Kinofilm EXIL, der ein offenes Drama erzählt, beeindruckt durch seine erschreckende Aktualität.


Für Xhafer (Mišel Maticevic, kennt man aus Babylon Berlin) ist alles klar. Der im Kosovo geborene Chemieingenieur lebt seit Jahren in Deutschland, wo er für alle Zeiten als unfähiger Ausländer, als niemals vollwertiges Gesellschaftsmitglied und Schmarotzer angesehen wird. Seine eigene Schwiegermutter hält ihn, wie er selbst sagt, für einen Kanacken, der ihrer Tochter nicht würdig ist, seine Kolleg*innen (u. a. gespielt durch Rainer Bock und Thomas Mraz) schikanieren ihn mit Streichen und systematischer Ausgrenzung. Bloß seine Frau Nora (Sandra Hüller, kennt man aus Toni Erdmann) denkt anders. Nicht, dass sie ihn unkritisch vergöttern würde oder dass die beiden überhaupt ein gutes Verhältnis zueinander hätten. Aber sie hält es durchaus für möglich, dass er nicht schikaniert wird, weil er Ausländer ist:

„Es kann ja auch sein, dass sie dich als Menschen nicht mögen.“

 

Die Grundfrage des Films von Regisseur Visar Morina (kennt man durch Babai) ist nun, ob ihre Position auf Scharfsinn oder Verblendung zurückgeht. Für beides sprechen Indizien.

© Alamode Film

Filmisch wird das Leiden des seelisch vereinsamten Protagonisten durch schroffe, farblose Bilder, abweisende Kulissen, schwitzende Akteur*innen und eine reaktive, intensive Kameraführung unterstützt, die immer viel zu nah an die unbeholfenen Charaktere heranzoomt. Auch erzählerisch findet Verengung statt, denn man folgt Xhafers benommener Wahrnehmung der Welt, wodurch dramatische Wendungen des Films ungefiltert und unvorhersehbar einschlagen. Ein wenig ratlos lässt EXIL einen durch seine subtile Erzählweise zurück. Einfache Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu Rassismus, Mobbing und Grundfragen des Zusammenlebens bietet der Film nicht an. Aber er liefert ein Komplexitätsbewusstsein. Und auch wenn er nicht leicht zu schauen ist, ist er dennoch für die wichtigen Themen, die er diskutiert, ein großer Gewinn.

Die pandemiebedingte Verschiebung des Starttermins platziert ihn darüber hinaus in ungeahnt aktuellen Stimmungen. Nicht nur liefert er in aktuellen Diskussionen um Alltagsrassismus und -schikanen sowie Racial Profiling einen Beitrag, die er in keiner Weise verharmlost, auch wenn er in seinen Grundfragen mit Tabus spielt. Auch erfuhren Orte wie Xhafers Arbeitsplatz, während der Film im Schrank lag, durch hohe Erwartungen an die Impfstoff-Entwicklung ein unvorhersehbares Comeback kollektiver Zustimmung, wie es dieses Jahr ansonsten nur Coffee-to-go-Becher und eingeschweißtes Gemüse erlebten: Xhafer arbeitet in einem Forschungslabor für Tierversuche.

Quelle: YouTube

Nach seiner Premiere beim Sundance Film Festival im Januar und Vorführungen im Panorama der 70. Berlinale ist EXIL seit dem 20. August 2020 im Kino.

Titelbild: © Alamode Film

 

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Monos – Das Ende der Guerillaromantik à la Che Guevara

Kriegsfilme sind nichts für Kinder, Kriege leider schon.


Und zwar nicht ausschließlich als (zivile) Opfer, sondern auch als Opfer, die selbst zu Tätern werden. Zu Kindersoldaten. Nur wenige Themen sind so hart wie dieses, nur wenige Themen verführen so sehr zu einer rührseligen Erzählung, einfach, weil die Last der Bilder, die zu zeigen wären, anders kaum zu ertragen wäre. Ob als Dokumentarfilm oder als Spielfilm, der Stoff weckt den Wunsch, doch lieber wegzuschauen. Doch gibt es überhaupt eine Möglichkeit, diese Schrecken auf die Leinwand zu bringen, ohne das Publikum zu erschlagen?

Alejandro Landes macht eigentlich Dokumentarfilme, und das merkt man seinem jüngsten Spielfilm „Monos – Zwischen Himmel und Hölle“ auch an. Aber sind es weniger die Bilder, die seinen dokumentarischen Ansatz zutage treten lassen als vielmehr die schonungslose Art der Erzählung.

© trigon-film.org

Extrem nah und mit all den Schrecken der Gruppendynamik im Gepäck begleiten wir einen jugendlichen Guerillatrupp, der irgendwo in den lateinamerikanischen Bergen Militärübungen absolviert und eine Geisel – wir wissen nicht, woher sie stammt – bewacht. Dieses „wir wissen nicht woher, wofür und wohin“ wird mehr und mehr zum roten Faden des Filmes und lässt die Sinnlosigkeit und absurde Brutalität dieser Truppe an – scheinbar wie Marionetten gesteuerten – Jugendlichen, greifbar werden.

Was anfangs noch wie eine seltsame, aber doch mehr oder weniger harmonierende, Einheit wirkt, deren Mitglieder mit Maschinengewehren in der Einöde herumballern und Militärübungen veranstalten, wird mehr und mehr zu einer Gruppe, in der Misstrauen, Angst und Hass an die Stelle militärischer Verbundenheit treten. Die verschiedenen Facetten, die diese Gruppendynamik hat, werden durch die, ausnahmslos großartige, schauspielerische Leistung ihrer acht Mitglieder: Patagrande (Moises Arias), Rambo (Sofia Buenaventura), Leidi (Karen Quintero), Sueca (Laura Castrillón), Pitufo (Deiby Rueda), Lobo (Julián Giraldo), Perro (Paul Cubides) und Bum Bum (Sneider Castro) sichtbar.

Angefeuert wird dieses bizarre Spektakel durch den Ausbilder (Wilson Salazar) der Truppe. Er taucht hin und wieder wie aus dem Nichts auf und trimmt die Jugendlichen. Und während sich in den jungen Soldatinnen und Soldaten auch immer wieder die Jugendlichen zeigen, die sie eigentlich sein könnten, bleibt dieser Ausbilder ganz Soldat, ganz Drill Instructor.

© trigon-film.org

Er scheint seine Rolle nicht nur – wie alle anderen im Film auch – großartig zu spielen und wirkt von mehr als nur den Dreharbeiten und der Maske gezeichnet. Der Eindruck täuscht nicht, er hat eine persönliche Geschichte, die enger mit den Schrecken auf der Leinwand kaum verbunden sein könnte und die zu erzählen den Rahmen des mit Ereignissen tendenziell überfüllten Filmes sprengen würde. Nur so viel, indem Regisseur Alejandro Landes Wilson Salazar als Schauspieler engagierte, hat er einmal mehr seine Wurzeln als Dokumentarfilmer offengelegt.

Mit seinem Film „Monos – zwischen Himmel und Hölle“ gelingt es Landes nicht nur, den Horror einer tötenden Gruppe von Kindersoldaten authentisch, aber dennoch konsumierbar auf die Leinwand zu bringen, es gelingt ihm auch endgültig mit dem durch eine gewisse Che-Guevara-Romantik verklärten Mythos der Guerilla-KämpferInnen aufzuräumen. Nach diesem Kinoerlebnis ist man nicht nur tief bewegt, man ist auch wütend ob der Menschen, die glauben, es gäbe Kriegshelden, bedingungslose Kameradschaft oder edle Guerilla-Krieger, die zu Schlüsselanhängern und Rucksackaufnähern taugen.

Ein schwer verdaulicher, aber großartiger Film, der als kompromisslose Aufforderung zur Gewaltfreiheit gesehen werden kann.

„Monos – zwischen Himmel und Hölle“ feierte beim Sundance Film Festival 2019 Premiere und ist seit dem 4. Juni 2020 in deutschsprachiger Fassung (OmU) im Kino.

Titelbild: © trigon-film.org

 

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