Wo sich Lo-Fi, Psychedelic, Krautrock, Noise, Bläser und wilde Percussions gute Nacht sagen: YUM YUM CLUB präsentieren ihr Debütalbum FULL HD.
Julian Knoth, bekannt durch DIE NERVEN, und sein Bruder Philipp Knoth, vor allem bekannt durch Karies, haben sich die zwei Multi-Instrumentalisten Paul Albrecht aka Sloe Paul und Mari Schwingel geschnappt und ein neues Projekt gegründet: den YUM YUM CLUB. Selbst produziert, gemischt von Max Rieger (auch DIE NERVEN) erschien diese Woche FULL HD: ein genauso irritierendes wie berauschendes Debütalbum von YUM YUM CLUB.
Irritierend ist die Platte schon von außen. Wie kann etwas so sehr vor Lo-Fi und Noise triefen, das FULL HD heißt? Und sind für ein musikalisch so breit aufgestelltes Projekt wirklich ausgerechnet die kulinarisch eintönigen Yum Yum Noodles namensgegebend? Und wer führt auf dem verpixelten Cover eigentlich wen spazieren? Der Hund die Drohne oder die Drohne den Hund?
Nach Lektüre des Albums erscheint der öffentliche Auftritt jedoch stimmig zum Hörerlebnis. Dargeboten wird ein entgrenzter, verspielter Post-Punk. Beklommen und selbstbewusst. Weltabgewandt und tanzbar. Während die Geschwisterprojekte, vor allem DIE NERVEN, zuletzt immer sortierter klangen, geht YUM YUM CLUB zurück zu den rohen Wurzeln. FULL HD klingt, als hätten die CLUB-Mitglieder ihr Streben bis zu diesen Wurzeln zurückgeschnitten und als wären ihre musikalischen Triebe nochmal völlig neu ausgeschlagen. Nicht wirklich zur Sonne, sondern eher in die Breite, zu anderen Genres.
Hier trifft Lo-Fi auf Percussions, Synthie- treffen auf Bläser-Spuren und Voodoo-Chöre. Manche Songs wie der nichtmal einminütige DER HUND SIEHT AUS WIE EIN SCHAL brechen wütend aus. Andere versinken in ständig wiederholten, ängstlichen Parolen (HEUTE NICHT RAUS). Dann wieder gibt es experimentelle Songs wie ALLES TOT, der fast nach Mariachi klingt. Das Krautrock-Outro SAUBERMANN rundet den Eindruck ab, viel erlebt und wenig verstanden zu haben. So als hätte FULL HD den Soundtrack zu einem Film präsentiert, den man nicht kennt – der aber fantastisch sein muss.
Apropros Film, auch visuell ist die Band durchaus überfordernd – YUM YUM CLUB mit ihrem Musikvideo zu SECURITY MANN:
Quelle: YouTube
Das Album FULL HD der Band YUM YUM Club erschien am 28.7.23 bei tomatenplatten und hat 12 Tracks.
Lange war es still um den schottischen Künstler Paolo Nutini. Ganze acht Jahre sind vergangen seit seiner letzten Veröffentlichung. Im Juli meldete sich Nutini mit einem Album und Sound zurück, mit dem wohl niemand gerechnet hat. Über einen Künstler, der sich ständig weiterentwickeln will und dies auch kann.
Paolo Nutini ist zurück. Nach „These Streets“ (2006), „Sunny Side Up“ (2009) und „Caustic Love“ (2014) veröffentlicht Nutini sein viertes Studioalbum „Last Night in the Bittersweet“ (2022). Und man darf sagen: endlich! Acht Jahre musste man sich in Geduld üben. Nicht zum ersten Mal, denn Paolo Nutini ergibt sich nicht dem gewohnten Release-Rhythmus von zwei bis drei Jahren. Er nimmt sich Zeit. Nutini möchte sich weiterentwickeln und nicht wiederholen. Das, so viel sei schon vorab verraten, ist ihm mehr als nur gelungen. „Last Night in the Bittersweet“ ist eine 72-minütige in 16 Songs verpackte Masterclass, die sich so leicht nicht in Worte fassen lässt. Aber einen Versuch ist es wert.
Das Album eröffnet mit unerwarteten Klängen: In „Afterneath“ baut sich die Musik bedrohlich schleichend auf, durchsetzt von Klagerufen Nutinis, gefolgt von einem Sample von Patricia Arquette aus Tarantinos „True Romance“ (1993) sowie Beatnik-Poesie. Das ist erst einmal eine Ansage! Mit „Radio“ folgt eine melancholische Ballade, die ganz unaufgeregt daherkommt und gleichzeitig entwaffnend ehrlich ist.
Radio (Live In The Bittersweet)
Gemeinsam mit „Through the Echoes“ spannt „Radio“ eine verbindende Brücke zum 2014 erschienen Album „Caustic Love“. Sie bieten sicheres Geleit für die Hörer*innen ins neue Album, um dann sofort Platz zu machen für basslastigen Post-Punk-Sound („Acid Eyes“) und mit „Lose It“ Krautrock wieder aufleben zu lassen.
„Lose It“ bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022
In der zweiten Hälfte lässt sich Nutini weiter treiben durch die weite Welt der Musik-Genres: Von Fleetwood-Mac-/Stevie-Nicks-Hippie-Rock („Children of the Stars“) über New-Wave-Pop („Petrified in Love“) bis hin zur Piano-Ballade „Julianne“, die ganz im Stile Paul McCartneys ist. Dieser Sound-Mix dürfte eigentlich nicht funktionieren und wenn dann nur in Form eines Compilation-Albums. Doch „Last Night in the Bittersweet“ funktioniert. Gut sogar. Sehr gut. Denn alles wird von zwei Dingen zusammengehalten: viel Emotion und Paolo Nutinis Stimme.
„Through the Echoes” bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022
Und das Album funktioniert auch live. Auf der Bühne ist die Transformation des Künstlers sogar noch deutlicher zu sehen. 2007 stellte Rod Stewart in einer BBC-Dokumentation, die Nutini auf US-Promo-Reise seines ersten Albums „These Streets“ begleitete, fest: „He’s a bit awkward on the microphone at the moment. (…) He’s got to look at the audience more.“ Nutini hat damals noch fast ausschließlich vorneübergebeugt (man kann es nicht anders sagen) und mit geschlossenen Augen gesungen. Im Laufe der Jahre hat er sich aufgerichtet und angefangen, auf der Bühne zu tänzeln, das erinnerte aber eher an den etwas hüftsteifen Onkel auf einer Hochzeitsfeier. Und 15 Jahre später?
Als Paolo Nutini am Montagabend, den 26.9.2022, die Bühne des ausverkauften Leipziger Täubchenthals betritt, ist von Unbeholfenheit am Mikrofon nichts mehr zu sehen. Völlig gelöst, grinsend von einem Ohr zum anderen, steht und tanzt Nutini über die Bühne, hält lange und intensiven Blickkontakt mit dem Publikum. Als hätte dieses Album auch für die Liveshows eine Befreiung gebracht. Nutini und seine grandiose Band haben sichtlich Spaß an dem, was sie tun. Und das Publikum dankt es ihnen lautstark.
Am Ende des Konzertabends sitzt Paolo Nutini allein auf der Bühne: ohne Backdrop, ohne Video im Hintergrund, ohne Lichteffekte, ohne Band. Nichts lenkt ab, nichts, womit er konkurrieren müsste aber auch nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Er beendet den Abend wie auch das Album mit „Writer“, dem wohl persönlichsten Lied des Albums. „This is as honest as I can possibly be”, erklärt Nutini. Und das geht am besten mit der Akustikgitarre und dieser einzigartigen Stimme.
„Last Night in the Bittersweet“ erschien am 1. Juli 2022 bei Warner.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Ninamarie stehen kurz vorm Release ihrer neuen Platte. Neun Jahre nach dem letzten Release bringen sie es erneut auf ganze sechs Songs. Gründe für ihr niedriges Tempo gibt es genug, zum Beispiel, dass die beiden mit ihren noch aktiveren Hauptbands genug zu tun haben: Thomas Götz mit den Beatsteaks, Marten Ebsen mit Turbostaat. Aber auch, weil sie sich viel Zeit zum Experimentieren nehmen.
„Was für Land, welch ein Männer“ ist eine erstaunlich vielseitige kleine Sammlung an nicht ganz ernsten Post-Punk- und Post-Pop-Songs über ernste Themen. Feine Arrangements und tiefe Melancholie treffen auf inbrünstigen, ehrlichen Gesang, starke Bilder auf Dadaismus. Wir trafen Marten zum Interview, sprachen über die Platte, Corona und Konzerte. Und zwar:
Es gibt diese Legende, dass ihr immer zu Silvester zusammen Musik macht und so all eure Songs entstehen. Stimmt das so?
Das stimmt so nicht, aber so hat es angefangen. Irgendwann, 2003 oder 2004, hatten Thomas und ich uns mal darüber unterhalten, wie scheiße wir Silvester und den Feierzwang finden. Er erzählte mir, dass er Silvester immer in den Proberaum geht. Als ich meinte, dass ich das richtig gut finde, hat er mich eingeladen vorbeizukommen. Wir sind dann in den Proberaum gegangen, haben zusammen gespielt und zwei Lieder geschrieben. Um vier waren wir fertig und hatten sie aufgenommen. Die Tradition haben wir einige Silvester aufrecht erhalten. Als ich dann auch in Berlin wohnte, fingen wir an, uns öfter zu treffen.
„Was für Land, welch ein Männer“ ist euer erstes Album seit 2013. War für euch immer klar, dass es mit Ninamarie weitergeht?
Es gab nie irgendwelche Bestrebungen, das nicht zu machen. Das Problem ist, dass die Zeit immer so schnell verfliegt und durch die Hände rinnt. Es hat einfach nur gedauert, bis wir wieder Zeit gefunden haben, und zusammenzutun. Wir haben zwischendurch immer mal an Sachen gearbeitet, die dann aber im Sande verlaufen sind. Der erste Entwurf von „Nackt im Spind“ ist echt schon einige Jahre alt. Wir hatten uns da mal nachmittags getroffen, Thomas hat Klavier gespielt und ich Gitarre. Da hatte er das Riff mitgebracht und es lag danach jahrelang herum, ohne dass es eine Überlegung gab, was man dazu singen könnte. Danach haben wir jahrelang keine Zeit gefunden, uns zu treffen. Thomas ist ja auch wirklich ein Hansdampf in allen Gassen und macht alles Mögliche. Und ein bisschen was mach ich ja auch.
Wann und wie ist der Rest des Albums entstanden?
Der Zug zum Tor fing kurz vor Corona an. Wir hatten im Herbst schon angefangen und als Corona dann anfing, hatten wir uns gegenseitig als Kontakt eingetragen. Und wir haben dann vor allem die Coronazeit zum Schreiben genutzt, haben uns zwar nicht jede Woche getroffen, aber von Zeit zu Zeit zusammen Musik gemacht.
Und schreibt ihr die Songs einzeln oder komponiert ihr alles zusammen?
Es bringt immer wer eine Grundidee mit – wie zum Beispiel das Riff bei „Nackt im Spind“. Den Refrain haben wir dann zusammen gemacht und dann bauen sich die Songs so mit der Zeit auf. Das ganze Arrangieren und wie das Lied abläuft, passiert relativ schnell und intuitiv. Weil wir ja nur zu zweit sind und das nicht einfach als Band zusammen spielen, passiert das immer peu à peu. Wir haben dann im Proberaum zusammen Gitarre und Schlagzeug eingespielt, Bass hab ich glaub ich hier zuhaus eingespielt. Sowas passiert dann immer mal, dass man dann mal einen Nachmittag lang einen Bass einspielt.
Ninamarie – Nackt im Spind:
Quelle: YouTube
Und ihr habt das alles selbst produziert?
Genau, Thomas hat ja ein Studio, in dem wir uns öfter getroffen haben – oder im Beatsteaks-Proberaum. Teilweise hab ich auch bei mir hier Sachen aufgenommen, zum Beispiel mal einen Haufen Akustikgitarren, die wir uns dann zugeschickt haben, weil grad richtiger Lockdown war und wir uns nicht sehen konnten. Das waren aber eher Ausnahmen.
Ihr habt nie mehr als sechs Songs gleichzeitig veröffentlicht. Warum eigentlich?
Das weiß ich nicht. Eine 12-Inch, die man auf 45 rpm abspielt, ist so eine überschaubare Sache. Wir machen das ja immer nebenbei und haben nicht den Drang, viele Lieder zu schreiben. Die Songs entstehen eher aus Experimenten. Bei einem Song zum Beispiel hatten schon die Abfolge fertig und dachten uns, es wäre cool, wenn das jetzt einen Chor hätte. Also haben wir uns ein Chor-Board gebaut und haben mit einem Freund zusammen den ganzen Sommer lang jeden Ton der Tonleiter über zwei Oktaven aufgenommen, sodass wir unseren Chor selber spielen konnten. Und dafür geht dann halt mal ein ganzer Sommer drauf.
Bei einem anderen Song waren wir eigentlich fertig, hatten aber das Gefühl, uns fehlt noch etwas, und haben noch ewig daran weitergearbeitet. Wenn du eine Platte mit einer ganzen Band machst, mit Deadline und so, hättest du das einfach so gelassen. Aber hier haben wir dann nochmal richtig viele Gitarren aufgenommen. Wir haben immer um ein Mikro herum verschiedene Gitarren in verschiedenen Oktaven eingespielt, bis wir eine riesige Wand an Gitarren hatten, die wir zusammenmischen konnten. Danach haben wir nochmal einen Nachmittag herumprobiert, ob das cool ist.
Und diese Zeit kann man sich mit einer anderen Band nicht nehmen?
Nein, das würde ich mit Turbostaat nie machen.
Ist diese Freiheit auch das, was Ninamarie für dich ausmacht?
Dieses Experimentieren: ja. Ich weiß nicht, wie es bei den Beatsteaks ist, aber bei Turbostaat muss das ein sicherer Schuss sein. Wenn wir ins Studio gehen, dann ist alles fertig und wir alle wissen, dass das klappen muss. Wir spielen meistens eine ganze Platte in vier bis fünf Tagen ein. Und wenn man da ankommt und sagt, ich könnte mir vorstellen, wenn man da jetzt zwei, drei Tage dran arbeitet, dann wären die ersten schon bei dem Satz rausgegangen. Und bei Ninamarie ist das halt egal, dann kannst du wirklich mal ein paar Tage herumprobieren – und wenn’s nichts ist, ist es halt nichts.
Und es sind ja nur sechs Songs, aber die sind schon alle auch sehr unterschiedlich und unterschiedlich instrumentiert – teilweise nur Synthies, teilweise Akustikgitarren: Gibt es auch konkrete Bands, die euch besonders beeinflusst haben?
Wir machen ja nicht erst seit gestern Musik und es gibt ja tausende Bands, die einen inspirieren. Da kannst du mit Beethoven, Bob Marley und den Beatles anfangen.
Es klingt ja teilweise auch sehr Eighties-mäßig.
Findest du? Wir hatten eher so ein Seventies-Gefühl – außer bei „Käsejunge“. Das ist ja eher daraus entstanden, dass ich angefangen hab, mit Synthesizern rumzuspielen. Aber bei den ersten Liedern hatten wir eher ein Supertramp-Gefühl.
Um einmal in die Songs reinzugehen: Wer ist der Käsejunge und wovor hat er Angst?
Ein bleicher Junge, der Angst hat um seine Privilegien.
Der Song bringt ja auch den titelgebenden Vers „Was für Land, welch ein Männer“ mit.
Genau, „Welch ein Land, was für Männer“ ist ja ein Plattentitel von Extrabreit. Und das passte einfach so gut: Was für Männer – der Käsejunge, der Angst hat. Wenn du zum Beispiel – ohne die Stimmung herunterreißen zu wollen, den Attentäter von Halle anschaust: ein kleiner bleicher Junge, der Angst hat, dass eine Privilegien verschwinden, der sich überfremdet oder von Frauen angegriffen fühlt, der nicht mit Menschen auf Augenhöhe agieren kann. Das war für uns der Käsejunge. Und dann diesen Ausruf „Welch ein Land, was für Männer“ umzudrehen zu „Was für Land, welch ein Männer“, ist ja eigentlich ganz klassisch dadaistischer Kram: Sachen umdrehen und sie dadurch automatisch lächerlich machen.
Auch bei „Nackt im Spind“ geht es um ein gewisses Land, es werden Bewegungen im Volk angesprochen und die Frage gestellt, wie man mit ihnen umgehen sollte.
Genau, es geht auch um Flucht, also das Pro und Contra von Realitätsflucht. Der Text ist zum größten Teil auf Thomas’ Mist gewachsen.
„An der Hand“ ist der melancholischste Song der Platte. Wessen Hand wird hier besungen?
Die Hand eines oder einer Liebsten.
Mit der Angst um Verlust?
Nein, es geht eher um das stoische Warten – mit einem leichten Hauch Melancholie. Dieser Song ist schon ganz alt. Die Strophen und den Refrain hab ich schon 2004 geschrieben. Und es gab noch nicht so viel Text, ich hatte nur diesen Satz im Kopf und fand den schön: Ich warte bei dir an der Hand. Dahinter ist eigentlich gar nicht so ein wirklich verkopftes Konzept, sondern wir haben einfach aus dem Bauch heraus geschrieben, aus der Wirkung der Musik. Auch das ist ja häufig nicht zu unterschätzen. Musik zu machen hat ja auch viel mit Gefühl zu tun. Also nicht nur mit einem guten Plan, sondern einfach nur mit dem Gefühl.
Und was habt ihr gegen Kalendersprüche?
Was sollen wir denn gegen Kalendersprüche haben? Das ist doch das Beste auf der Welt: „In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken“. „Ich lebe glücklich, ich lebe froh wie der Mops im Haferstroh“. Ich weiß nicht, was du meinst.
War nur so ein Gefühl, dass es da Aversionen gibt.
Ne klar. Du meinst jetzt den Text „Kalenderspruch zum Abendbrot und dankbar sein“, dass man abgespeist wird mit ein paar halb ernstgemeinten Worten? Dafür steht der Kalenderspruch. Ein Kalenderspruch ist ja einfach ein Satz, der nicht an dich gerichtet ist, sondern allgemein so ist.
Und solche Sprüche zu verdrehen, macht ihr auf der Platte ja an vielen Stellen. Würdest du sagen, eure Texte sind auch eine Abrechnung mit abgedroschenen Phrasen?
Jein. Thomas und mich fasziniert immer, dass es in der erfolgreichen deutschen Popmusik, also den deutschsprachigen Songs in den Charts, immer darum geht, bekannte Phrasen zu nehmen, die jeder kennt, um gleich einsteigen zu können. Unsere Aufgabe sehe ich eher darin, das mit dem Arsch einzureißen, umzudrehen und ein Fragezeichen dahinter zu setzen. Und dann eben auch Sachen komisch zu machen, damit sie nicht einfach nur wegzukonsumieren sind. So begreif ich das jedenfalls. Aber es macht doch auch einfach Spaß. Wenn ich jetzt die ganze Zeit nur Texte wie „Das große Gefühl, dieser Moment, lalalala“ schreiben würde, hätte ich da einfach gar keine Lust drauf. So bin ich einfach als Person nicht.
Ninamarie – Kalenderspruch:
Quelle: YouTube
Bei „Es strahlt“ besingt ihr eine vergangene Jugend, bei „Die Geister“ scheint es ja auch um ein Vermächtnis zu gehen. Sind Wehmut und Älterwerden für euch Motive der Platte?
Ja bestimmt. Wir werden als Personen älter und wehmütiger. Aber man sitzt ja nicht da und sagt, ich würde gern ein Lied übers Älterwerden machen, am besten eine ganze Platte, zu der ich mir mal einen Plan mache. Sondern wir schreiben einfach irgendwas, das uns beschäftigt, werfen uns Bälle zu, die auch relativ viel mit Humor zu tun haben. Nicht mit klassischem Humor, aber unserem eigenen Humor. Thomas sagte auch schon ein paarmal in Interviews: Für ihn war das Interessante, dass wir mit dem Fahrrad zusammen zum Studio nach Köpenick gefahren sind, an der Rummelsburger Bucht entlang, und uns immer schon über alles mögliche unterhalten haben. Von Familie, was so ansteht, Quatsch, aber auch, was wir gelesen haben, was wir gehört haben, welchen Film wir gesehen haben oder was uns grad interessiert oder passiert ist. Die Songs sind dann auch immer ein bisschen das Produkt durch die verschrobene Brille, die wir schon auf dem Weg zum Studio aufsetzen.
Würdest du dennoch sagen, dass eure neuen Songs melancholischer geworden sind als die früheren?
Nein, ich fand ehrlich gesagt die alten auch immer schon melancholisch und teilweise depressiv. Sie hatten immer eine traurige Komponente, aber eben auch diesen Humor. Das ist das, was eigentlich automatisch passiert wenn Thomas und ich in einem Raum sind und Sachen machen. Weil wir beide diese Persönlichkeit haben. Wir haben diese melancholische Seite, aber können auch nicht eine Minute ohne einen schlechten Witz aushalten.
Welche Rolle hat denn die Pandemie-Phase für die Platte gespielt?
Durch Corona hatten wir einfach nur ein bisschen mehr Zeit und dachten, dass wir sie dem Projekt widmen konnten. Und jetzt stürzt wieder alles auf einen ein. Die Platte haben wir zum Glück rechtzeitig fertig bekommen – eigentlich schon letztes Jahr, wir haben jetzt nur noch auf die Pressungen gewartet.
Thomas und du spielt ja beide in zwei sehr aktiven Livebands. Wie geht es denn dem Konzertbetrieb, euren Live-Crews und den Venues nach diesen zwei Jahren?
Das kann ich gar nicht richtig beantworten, ich war selbst so ein bisschen von allem abgeschnitten. Mit den Leuten von Turbostaat hab ich zu tun gehabt, aber natürlich auch nicht so viel wie vorher, weil man sich ja jetzt anrufen musste, um miteinander zu sprechen. Dann hat man so einmal im Monat mit den Leuten telefoniert, vielleicht noch weniger. Das haben die schon alle irgendwie rumgekriegt.
Aber das dicke Ende, auch für viele Läden, kommt ja erst noch. Es hat sich so vieles verschleppt und die Auswirkungen werden jetzt erst sichtbar. Du hast ja jetzt teilweise Festivals, die nicht stattfinden, weil sie keine Leute haben, die dort arbeiten können. Weil die alle sich in der Pandemie etwas anderes suchen mussten und auf einmal gemerkt haben, wir können ja am Wochenende zuhause bleiben und haben trotzdem einen schönen Job, der auch noch besser bezahlt ist. Manche haben das ja auch mit diesen Streaming-Konzerten versucht, aber das ist ja alles für die Katze. Das ist ja nur eine Fernsehaufnahme vom Konzert, bei dem du nicht da gewesen bist.
Und man selbst ist ja durch die zwei Jahre auch in so einen Tran gekommen, ist abends nach Haus gekommen, hat sich was zu essen gemacht. Man muss ja erstmal wieder auf die Idee kommen, abends Leute einzuladen abends oder mal irgendwo hinzugehen. Und bei Konzerten wird ja grad all das nachgeholt, was ausgefallen ist. Das nächste halbe Jahr wird vollgestopft sein. Das ist wirklich verrückt. Ein Bekannter von mir, mit dem ich neulich geschnackt hab, hat grad mit seiner Band eine Platte herausgebracht, und die können gar nicht auf Tour gehen, weil alles ausgebucht ist. Noch mit Konzerten von 2021. Mal gucken, wie sich das entwickelt, ich hab bisher zu wenig Erfahrung. Wir waren einmal auf Tour, haben zwei Festivals gespielt. Das eine war gut, das andere beschissen. Auch unsere Konzerte waren jetzt am Anfang ein bisschen leerer als vorher. Aber auch das kam wieder und jetzt müssen wir beobachten, wie es sich weiterentwickelt. Es fällt mir unheimlich schwer, daraus schlau zu werden.
Und wird es Ninamarie-Konzerte geben?
Wir hoffen das. Wir würden es jetzt gerne machen. Vorher hatten wir nie drüber nachgedacht, jetzt haben wir angefangen, darüber nachzudenken, dass wir das gerne machen würden. Wir sind bisher einmal aufgetreten, bei einer Feststunde in Potsdam. Da haben wir zwei Lieder gespielt, Thomas am Klavier, ich an der Gitarre. Aber jetzt überlegen wir grad, ob wir eine kleine Band zusammenstellen und ein paar Konzerte zusammen spielen. Die Ideen schießen wieder quer und man braucht auch entsprechende Leute dafür.
… und Venues.
Das ist Schritt zwei, wir sind noch nichtmal bei Schritt eins. Aber der Wille ist im Moment da und wir reden, wenn wir uns treffen, darüber, dass wir das gerne machen möchten.
Inzwischen habt ihr ja auch genug Songs für ein Konzert.
Genau, dann können wir einmal alles durchspielen. Vielleicht schaffen wir es zum Zwanzigjährigen. So lang gibt’s uns ja auch schon fast wieder.
Vielen Dank für das Interview!
Vielen Dank für das Interesse.
„Was für Land, welch ein Männer“ von Ninamarie erscheint am 17. Juni 2022 bei Rookie Records.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Notwist gehen wild entschlossen in mehrere Richtungen gleichzeitig und filtern nach sieben Jahren endlich wieder ein Studio-Album heraus. Wie klingt Vertigo Days?
Viel passiert seit 2014, als Notwists Close to the Glass erschien. Trump kam (2017) und ging (2021), der Brexit wurde beschlossen (2016) und umgesetzt (2020), postmondän wurde gegründet (2015), feierte fünften Geburtstag (2020) und interviewte dreimal Markus Acher (2016, 2017, 2020), Notwist veröffentlichten ein Soundtrack- (Messier Objects, 2015) und ein Livealbum (Superheroes, Ghostvillains + Stuff, 2016), die einzelnen Bandmitglieder brachten mit weiteren Projekten, ohne Übertreibung, zahllose Releases hervor – bloß auf ein neues gemeinsames Studioalbum ließen sie warten. Nach langjähriger Arbeit daran zogen sie endlich einen Schlussstrich und veröffentlichten am Freitag Vertigo Days – ein Album, das vieles aufsaugt und zusammendenkt, an dem die Band in den letzten Jahren gearbeitet hat.
Improvisation trifft hier auf vollendete Arrangements, engmaschiger Krautrock auf entgrenzten Indie Pop, Soundtrack auf Live-Spiel, Hip-Hop Beats auf verträumte Chöre und Blasmusik. Fast wirkt es, als wären viele ihrer jüngeren Projekte – zu nennen wären hier als unzureichende Auswahl vielleicht Spirit Fest, 13&God, Rayon, Hochzeitskapelle oder ihr Festival Alien Disko – hier in einen Filter gelaufen und als Notwist-Album wieder herausgeflossen. Unterstützt wird dieser Fluss von einem perkussiven Drive, den man von ihnen bisher in dieser Intensität nur aus ihren Live-Arrangements kannte, der die Songs übergeordnet zusammenhält und ihnen eine Grundspannung verleiht. Sie klingen dadurch viel stärker verbunden als Notwists bisherige Studioalben und geben Vertigo Days einen collagenhaften Charakter, der die einzelne Songs eher zu Motiven verkleinert. Die Übergänge sind vielseitig – teilweise werden Songs überblendet oder hart abgeschnitten –, aber notwendig, denn das Album hat keine Zeit zu verschwenden.
Auch textlich sind die Songs auf Vertigo Days verbunden. Nach dem kurzen Intro Al Norte, das auf die Soundpalette einstimmt, werden die restlichen Songs eingeklammert von einem zweiteiligen Motiv, das zunächst im Song Into Love / Stairs auftaucht und sich im letzten Track in neuem Arrangement als Into love Again wiederholt. Der gemeinsame Text beider Tracks bildet eine Klammer:
Now that you know the stars ain’t fixed
the roads ain’t straight
now that the sky can fall on us
now that you know how much it hurts won’t save you from
falling into love again
Notwist – Into love / Stairs, Into Love Again (2021)
Eine Phrase, die auch politische Dimensionen hat. Denn während der Arbeit am Album hat sich die öffentliche Stimmung oftmals verkehrt, nicht nur durch eingangs erwähnte unvorhergesehene politische Entwicklungen, die auch die Popkultur kalt erwischt haben. Zuletzt dann eben auch die Corona-Pandemie, in deren Verlauf die finale Entstehungsphase des Albums fiel. Einige Songs, vor allem die Features, entstanden zwangsweise dezentral, während Cico Beck, Micha und Markus Acher sich als Produktionskern der Band im Münchner Studio vergruben und diese allgemeine Verunsicherung ins fast fertige Album einflochten. Womöglich setzt die kurze Textpassage auch ein Motiv von Close to the Glass fort:
When the stars fall of the ceiling
They rolling to the sea
One room for us
One room for both of us
One room for us
Is not available
Notwist – Casino (2014)
Casino vom 2014er Album, ein Song über ein verspieltes Leben, bringt existenzialistische Tendenzen mit, welche auch ein textlicher Ausgangspunkt für Vertigo Days sind und vor allem in Songs wie Loose Ends und Night’s Too Dark durchdringen, die auch im Sound am engsten an Notwists frühere Platten anknüpfen. Genau dieser Existenzialismus, der sich in melancholische Lebensbejahung flüchtet, scheint von externen Faktoren herausgefordert zu sein, verliert doch vieles angesichts dem kulturellen Stillstand und hinter dem Zwang, nichts zu tun, seine Leichtigkeit, ja, Ertragbarkeit. Doch zum Glück ist auch von jener Leichtigkeit, die sich die Band erarbeitet hat, an anderer Stelle noch vieles übrig auf den Aufnahmen. Denn eigentlich war sie bei Vertigo Days mal angetreten, um ihren Sound zu öffnen, zu verbreitern, zu reflektieren und gemeinsam als Band neue Gefilde zu betreten, ihm, anstatt weiter am eigenen Denkmal zu arbeiten, seine Flüchtigkeit zurückzugeben.
Cico Beck, Micha und Markus Acher, die gemeinsam mit Andi Haberl, Max Punktezahl und Karl Ivar Refseth Notwist bilden.
Vielleicht hat ihm die letzte Produktionsphase wieder ein Stück der Flüchtigkeit genommen, aber dennoch besticht Vertigo Days durch Offenheit und eine Entgrenzung des Sounds. Die fünf Features der Platte sind nicht einfach Notwist-Songs mit gemeinsam gesungenen Refrains, sondern mit den Gastmusiker*innen entworfene Schnittstellen, die einander auf den Grund gehen und abseits des Erwartbaren etwas völlig Eigenes schaffen. Vertreten sind die Tenniscoats-Sängerin Saya Ueno aus Tokyo und ihr Bläser-Ensemble Zayaendo, die beiden Jazzmusiker٭innen Angel Bat Dawid und Ben LaMar Gay aus Chicago sowie die argentinische Electro-Songwriterin Juana Molina. Und sie alle wussten die Freiheiten zu nutzen, die ihnen gewährt wurden.
Zwischen Flüchtigkeit und notorischem Fluss ist Vertigo Days ein spannungsreiches Album, das zwischen den Polen hin- und herspringt, auf dem vieles möglich und alles in einem warmen, handgemachten Sound verbunden wird. Sieben Jahre haben Notwist sich Zeit genommen, um ihre Collage zu Ende zu denken. Sie haben die Zeit genutzt.
Notwist 2021, ein Beispiel: Al Sur (feat. Juana Molina)
Quelle: YouTube
Vertigo Days von Notwist erschien am 29. Januar 2021 bei Morr Music und hat 14 Tracks.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Aussteigen aus dem Weltenlauf, sich in eine andere Umlaufbahn begeben. Ehrlich gesagt: Kaum ein Wunsch ist in diesem verrückten Jahr drängender als der Wunsch nach einer Flucht aus dem Alltag. Eine der besten Gelegenheiten für so ein Unterfangen ist „Mondenkind“, das neue Album des Jazz-Pianisten Michael Wollny. Es führt nicht nur weg von der Erde, sondern zeigt auch, wie schön Einsamkeit sein kann.
Genau 46:38 Minuten Spielzeit. Man könnte meinen: naja, die ganz normale Dauer einer üblichen Schallplatte. Doch ist das eine ikonische Zeitspanne. Am 20. Juli 1969 verließen die Astronauten Neil Armstrong und Edwin Aldrin das Schiff „Columbia“, um wenige Stunden später als erste Menschen auf dem Mond zu landen. Der dritte Astronaut der Crew, Michael Collins, blieb an Bord zurück und umkreiste den Mond. 46:38 Minuten war er dabei jeweils vom Blick- und Funkkontakt zur Erde abgerissen. Allein auf der dunklen Seite des Mondes. Manche Medien sprachen vom einsamsten Menschen der Welt …
Überall Leere und Einsamkeit
An diesen Eindruck knüpft die Situation beim Entstehen des neuen Albums von Michael Wollny an: „Zwei Tage verbrachte ich, zum ersten Mal seit langem allein und ohne Mitmusiker, im großen Aufnahmeraum des Berliner Teldex Studios. Auf dem Weg zu den Aufnahmen saß ich allein im Auto, fuhr durch eine leere Stadt, am Abend lief ich zurück in mein menschenleeres Hotel, es gab nicht nur keine weiteren Gäste, sondern auch kein Personal. Ich war absolut allein mit mir und der Musik, und die Ideen, die sich aus dieser Situation ergaben, gingen weit über den ursprünglich gesetzten Rahmen des Albums hinaus. Das Alleinsein brachte mich dazu, über radikale Solisten nachzudenken, und so kam mir die Geschichte des Astronauten Michael Collins in den Sinn, der während der Apollo-11-Mission allein den Mond umkreiste, und dabei immer wieder jeden Kontakt zur Erde verlor.“
Gib der Welt einen Namen
Aus diesem Alleinsein ist ein Solo-Album im wahrsten Sinne des Wortes entstanden: Michael Wollny allein am Flügel. An sich ist das nichts Besonderes für einen Jazz-Pianisten; doch das Album ist – nach zwölf Aufnahmen, bei denen Michael Wollny federführend war – tatsächlich das erste Piano-Solo-Album des Künstlers.
„Mondenkind“ – der Titel des Albums stammt aus Michael Endes „Unendlicher Geschichte“. „Das Wort ist kein Selbstportrait, sondern kennzeichnet einen Schlüsselmoment im Buch, in dem der Protagonist – allein auf sich gestellt – seiner Welt einen neuen Namen gibt und damit erneut belebt. Eine Aufgabe, die sich einem Musiker eigentlich mit jedem neuen Album stellt – und ganz besonders mit einem Solo-Album.“
Eine ganze Reihe von Künstlern zog die Vorstellung von Einsamkeit und Schwerelosigkeit des Weltalls in den Bann: David Bowies „Space Oddity“ feiert die Hypnose der Einsamkeit in den Weiten des Raums. Pink Floyd lassen sich auf „Dark Side Of The Moon“ komplett auf die Unfassbarkeit des Unbekannten ein. Und „Mondenkind“?
Loops, digitale Klanggebilde, Echoeffekte … bei Titeln wie „Lunar Landcape, „Spacecake“ oder „The Rain Never Stops On Venus“ wäre das ein naheliegendes Instrumentarium. „Mir war relativ schnell klar, dass ich einen ‚klassischen‘ Ansatz wählen wollte, bei dem der volle, dynamische, lebendige Raumklang eines großen Konzertflügels im Mittelpunkt steht. Keine Studiotüftelei, keine Effekte.“ Die Entscheidung spürt man an der Klarheit der Musik. Und ganz ehrlich: Man vermisst nichts.
Das Album ist aufgebaut wie ein Soundtrack und erzählt von einer Reise zum Mond. Ganz unterschiedliche Songs und Herkunftslinien nimmt es dabei mit ins Boot. Zusammen ergeben sie einen großen Bogen, voller Spannung und Entspannung, filmisch, erzählend.
Gut die Hälfte der Stücke stammen aus Wollnys Feder. Die andere Hälfte von Musikern, die für ihn eine besondere Bedeutung haben: Sängerin und Songschreiberin Tori Amos, die Band Timber Timbre, die Neutöner Alban Berg und Rudolf Hindemith oder auch auf aktuelle Pop-Welten wie Sufjan Stevens, Bryce Dessner und Nico Muhly.
Keine Angst vor Einsamkeit!
Ich mag das, wenn Alben von einem Konzept oder einem Thema umklammert sind und doch so ganz unberechenbare Momente haben. Genau das ist der Reiz an der Reise, auf die „Mondenkind“ mitnimmt: Das kurze Stück „Enter Three Witches“ macht einen angenehm ratlos – dann kommt das herrlich pathetische Alban-Berg-Stück „Schließe mir die Augen“, das einen fast die Tränen in die Augen treibt.
46:38 Minuten Alleinsein. Das muss man aushalten können. Aber vielleicht ist dieses Album der beste Beweis dafür, dass Alleinsein eines der schönsten Dinge ist, die es gerade gibt. Wer sich darauf einlässt, bekommt vielleicht im Huckepack auch noch eine Portion Schwerelosigkeit dazu. Besser kann es nicht kommen, oder?
Das Album „Mondenkind“ von Michael Wollny ist als Vinyl, CD und Download Ende September 2020 bei ACT erschienen.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Stephen Kalinich is a self-taught artist with a prolific career. He initially gained prominence in the 1960s writing song lyrics for The Beach Boys, and has since collaborated with Paul McCartney, P. F. Sloan, Brian May and many other famous composers and performers. Although often described as a “poet” whose works uphold 1960s hippie values, Kalinich has been active in many fields, performing his poetry, recording his own songs, acting in movies and now, in his late 70s, starting to paint. Here, he is interviewed by film director Alexander Tuschinski who has been a friend for several years now.
by Alexander Tuschinski
Stephen, when we last met in Los Angeles this February you gave me a wonderful tour of your apartment-turned-painting studio, and you were busy recording a spoken-word album. How have you spent the time since?
I keep busy being creative, be it creating new paintings or songs. Besides that, I have done a few Zoom performances and I’m doing charity work for the homeless and people affected by the virus. I have a new album coming out called “The Essential Yo MaMa” with Jon Tiven and many talented collaborators; we just put the deal together. I feel it’s important to keep being creative no matter the circumstances. Right now, I probably enjoy performing poetry and painting plus improvisation the most. I am inspired many times daily.
With this interview, my goal is to not only learn about you and your career, but also to potentially inspire people from all walks of life to just start doing creative things for the love of it. That’s my goal with many of my documentary films, too. What do you think about that?
I’m always trying to inspire people to express themselves, so I agree with you completely. At the same time, I do not want to act as if I were superior to others. Something a lot of artist don’t have is humility. Without humility, you cannot be a great artist, a great poet, and this is something that many performers, directors, producers and so on lack. It’s important for me to have people know that.
What artists influenced you when you first became interested in writing? Did you initially think that writing, or particularly song writing, would ever become a career? Did you receive much support?
I do not have much of a faith in pinpointing “influences”. All of life is an influence for me, but I put it together in my own way. Eventually, you make it your own. Some artists influenced me, but so did life experience, travel, just living, creating and discovering my own voice. That being said, there were many artists whose works I enjoyed when growing up. Among them were Walt Whitman, T.S. Eliot, P.F. Sloan, The Beach Boys, the Beatles and the poet Rainer Maria Rilke.
My parents were divorced. My mom was supportive, while my dad was not involved much in my upbringing – he was a professional golfer, a head pro at many country clubs and remarried. My mom did not stop the flow, she let me do almost anything I wanted. She was a loving soul, very kind and sweet. Even though I was not very disciplined, she was seldom angry at me. I always loved to perform in front of audiences since my grandparents had me entertain their guests in their house. Outside of home, I did not receive much support with my creative works, especially with the poetry. Many people said it would never happen. So, I just wrote and performed, and never thought of a career.
Stephen Kalinich’s texts became famous in songs by The Beach Boys:
Source: YouTube
You were born and went to college at the East Coast, but then decided to go to Los Angeles in 1965. LA in the 1960s must have been a fascinating place as a young artist. What was it like when you arrived, did you already have contacts? What did you do when you arrived? How did your creative career start?
When I first came to LA in my early 20s, I actually wanted to go to med school here. I knew no one except for a few of my father’s friends. It was a fascinating place. I remember how exciting it was to me to see oranges growing on a tree, experiencing the great weather, seeing the celebrities… It was like living in a dream, but right next to the wealth was utter poverty. There were many homeless people on the streets, even back then.
Shortly after starting, I dropped out of college when I got a break with my artistic career. From then on, I knew I wanted to be a poet, a spoken-word performer and later a songwriter. But, mostly, I was interested in performing. Brian Wilson wanted me to do a rock record around that time but I never did, as I realized my “drive” was neither fame nor notoriety, but I did want to be known as a peace bringer. I just wanted my work to be used for world peace. Even when I went to Brian Wilson and started collaborating with The Beach Boys in 1968, I cared about the love and the peace and not so much about being a “star” or even a “rock star”. Of course, I am a human being like everyone else and I am not on “a higher planet” so to say. So, even though it was already my goal, I was not totally selfless, and as my career progressed, I did enjoy having a successful song. But over the course of my life I learned to always put my position of wanting to do good and creating a life that’s better for all beings first.
Your collaboration with The Beach Boys – in particular Dennis Wilson – on the album “Friends” in 1968 has been discussed many times. Your songs “Little Bird” and “Be Still” are beautiful and rightfully held in high regard. Your very poetic lyrics came at a time when The Beach Boys started considerably deviating from their original surf image. The Beach Boys, led at the time by the legendary Brian Wilson, were huge stars, and you were writing poetry as a hobby, having just started out in Los Angeles, how did this collaboration come about?
Dennis heard about me through his brother Brian. The entire story began with a lucky chance meeting: One day, at the Hollywood YMCA, I met Jim Critchfield who worked with the famous Jay Ward of Bullwinkle fame. Jay became a friend and huge fan of my poems after I performed in private in his auditorium. He was also a friend of Brian’s, and told me that Brian had just started a new record company and might be open to a poet songwriter. To make a long story short, they set up a meeting with Brian and within weeks I was signed on as a writer. It was exciting, I received a $500 advance which felt like a lot of money back then, when rent was $100 a month. That was the beginning. It was a lucky huge break for me, which led to many more contacts. Additionally, at the time when I wrote “Be Still” and “Little Bird”, I was in love, which might shine through in these lyrics.
What did it feel like when you first heard the final recordings of your songs on the “Friends” album?
I particularly remember hearing “Little Bird” for the first time. I lived in a motel back then and used a payphone on a sidewalk just outside my room as my telephone – I could hear its ringing from within my room. The Beach Boys believed that number was a regular telephone in my apartment, because I was too embarrassed to admit that I didn’t have enough money for one. One day in 1968, it rang, I ran out of my room to answer, and there was Al Jardine on the other end, playing “Little Bird” for me through the phone. So, I listened to my first collaboration with The Beach Boys on an LA side walk through a payphone. I was thrilled, it was an unforgettable moment for me.
You also collaborated with Dennis Wilson when he did a solo album in the 1970s. How did you get along?
Dennis and I became friends, deep friends. We did almost everything together. We first hung out a lot while working and it quickly became a friendship. When collaborating on a song, we would work a little, then go out to eat. We loved each other. He was very respectful of my poetry and said I can influence the world for good and so did Brian, who also became a good friend.
What was the process like when you collaborated with Brian and Dennis Wilson?
The collaboration with both of them was beautiful. Dennis spontaneously came up with melodies off the words with me. He had a rare gift: He could hear a poem and instantly set it to music in his head and sing it back. Very few people saw that side of him. With others, he would do the music first and then find words to it, but not with me. In all our songs I wrote the words first. It was a beautiful collaboration. With Brian I did it both ways. Usually words first, but for the song “A Friend Like You,“ which he performed with Paul McCartney, he gave me the melody first.
Beside Brian and Dennis Wilson, you collaborated with many composers on songs. Do you have a “usual” procedure when collaborating with a composer who sets your words to music? What are your experiences?
It depends. I usually write the words first, but I have done it both ways. I think, to be quite honest, I do not like collaborating on songs most of the time; it’s a struggle, but once in a while it works. It really depends on the collaborator. I am not of the school that the chef is responsible for all of the meal, it takes many players, be it with films, with cooking and so on, but poetry is more of a lonely journey. It requires a special view of living that is less tied to perfection than to joy. That being said, something I love is when musicians improvise to my poems and spoken words.
You never published a book of your poetry. Instead, starting with the LP “A World of Peace Must Come,” which you recorded with Brian Wilson in 1969, you released your poems as spoken-word performances. The performance of “Be Still” on that LP is, to me, one of your finest works. Only quite recently, you started to publish written poems on social media. Is the performance as important to you as the text itself?
Performance is important, but the poem itself must deliver. When I perform, I try to reach, touch, speak to each person in the audience. I try to include them and make it a communication for all of us, in the sense that I want to reach them but let them come to their own conclusions. When I was younger, I used to be an athlete, and I brought my energy from sports into performing. My performances were not subdued, but very energetic. Someone back then compared them to Mick Jagger. I generally prefer live recording – it’s more spontaneous, and even though there might be flaws and mistakes it has an urgent, real feel to it. Recordings in a studio are great but I prefer the straight inspiration of life. Although “Be Still” was not recorded in front of an audience, it was very much “in the moment” – I just recited the poem as Brian played the organ to it spontaneously in one take. All in all, I’d say it’s all important – the text, the performance, the staging. I love performing, I love writing, I love painting, it all belongs together.
„Be Still“, known as a song by The Beach Boys, expanded as a Spoken-Word-Performance:
Source: YouTube
One evening when we walked in Los Angeles last year, you just started improvising a highly creative, profound and poetic text about our surroundings as we walked by. Do you generally create very intuitively and quickly, or do you sometimes labor over a work for a long time? What do you think of poetry slams?
When it comes to painting, I like to leave “mistakes” in them as part of the artwork, but with songs and poems, less so. I rewrite, polish, edit, cultivate my poems; I lay a garden and take out the “weeds” until it has grown to its full shape. It depends on the work, though, if I like its raw form I leave it alone. You have to look at each work individually to see what it requires. In my writing, I want to allow people room for discovery. I hope I do not demand, but I try to open up a dialogue and get my view of it across, too. I do enjoy some poetry slams, but it’s only one kind of poetry that’s often very “showy”. I prefer variety: Sometimes, I like a slowly recited poem that takes you to peace, or sometimes one that disturbs you.
You have experimented with many genres, like performing a rap in a music video in the 1980s. That rap performance, “Everybody’s Got a Car In LA,” subverts all expectations one might have of such a video in a good-natured, silly way, and you told me that you were “just having fun” doing it. It is quite a contrast to some of your “deeper” works. Tell us a bit about it.
We are all a combination of many feelings. I sometimes enjoy creating a deliberately silly song that makes you laugh, and I also like to create serious works that rivet you like the “Galactic Symphonies”. My credo is: Let’s create some peace with joy, but also with dead serious words when it is relevant. The rap song you mentioned – I had the idea, wrote the lyrics quickly and Chris Pelcer put music to it. That’s just how it was born, spontaneously, without many rewrites, I loved the spontaneous flow. It was fun, as I created an alter ego for the music video: Stevie Nobody, whom I later developed more with Jon Tiven in “Yo MaMa”. Somewhere, I have a raw outline of a script for a movie about Stevie Nobody which I want to direct one day.
You have picked up painting only quite recently and are entirely self taught. Your paintings show a very distinct style, and you often repurpose objects to use as a canvas; be they empty cereal boxes, pieces of cardboard and wood or any other material. What made you decide to start expressing your creativity this way, in your mid 70s? Do you have any painters whose works influence you?
I think many painters inspire me, but I am not sure whether I have been influenced or not by their art. I love Renoir, Monet, Cezanne, Picasso, Matisse and Franz Kline. I was particularly touched by the works of Vicci Sperry, a dear friend who encouraged and supported me. Today, I am not as fond of landscapes as I used to be. Instead, I prefer little faces, and also abstract forms, shapes or color. I never know what I will paint one day to the next, it’s mostly a very intuitive process. I love to seek the unexpected while painting, I love the surprise, the spontaneous outbursts, the calming down, the rage, the calming, the chaos, and trying to shape it into a work that touches me and hopefully some others as well. Only on rare occasion, once in a while, will I set out with a plan for a painting.
You ended up collaborating with numerous artists, including quite a few musicians you listened to while growing up. Many of them have become friends. How do you feel about it?
Grateful. The way I feel today is that I am grateful for all of the people I met, for all the positive ones, and even for those I had negative experiences with, because I learned lessons from them. I love my friends, many have encouraged me, inspired me, but I went my own way.
You are now in your late 70s and highly productive. In a recent, autobiographic poem published on Facebook, you wrote that you have been painting daily for the past three or four years. Do you have a message for people who might want to try to express themselves creatively, but still hesitate?
Be open to this journey of life, be passionate. Make a film, paint, hike, whatever you want within reason – try it. Be kind to other beings, get you ego out of the way, embrace humanity. Just create. Do it, just try. Do not judge yourself, just keep at it. Do not hesitate, go for it whatever it is you do. In all aspects of life, keep joy and adventure alive. Gerda Herrmann, the self-taught “Songwriter of Botnang” whom you made a wonderful documentary film about, is a great example. She’s 89, wrote her first song at 53 and keeps spreading joy through her music. Last year, she set my poem “If I Can Be a Benefit” to music, which made me very happy. It’s never too late. Just create.
You can find Alexander Tuschinski’s interview with Gerda Herrmann (in German) here.
And for more information about director and filmmaker Alexander Tuschinski check out his interview by actor Thomas Goersch (in German as well).
Stephen Kalinich ist ein autodidaktischer Künstler mit vielseitiger Karriere. In den 1960-er Jahren erlangte er zunächst als Textdichter für The Beach Boys Berühmtheit. Seitdem hat er mit Paul McCartney, P. F. Sloan, Brian May und vielen anderen berühmten Komponisten und Interpreten zusammengearbeitet. Obwohl er oft als „Dichter“ beschrieben wird, der die Hippie-Werte der 1960er Jahre hochhält, war und ist Kalinich in vielen Bereichen aktiv: Er trägt seine Gedichte vor, nimmt eigene Songs auf, spielt in Filmen mit und hat nun mit Ende 70 begonnen, zu malen. Hier ist er im Interview mit Filmregisseur Alexander Tuschinski, der seit einigen Jahren mit ihm befreundet ist.
Stephen, als wir uns im Februar dieses Jahres zum letzten Mal in Los Angeles trafen, hast du mir eine faszinierende Führung durch deine Wohnung gegeben, die inzwischen eigentlich eher ein Atelier für deine Malerei ist. Außerdem warst du zu der Zeit damit beschäftigt, ein Spoken-Word-Album aufzunehmen. Wie hast du die Monate seitdem verbracht?
Ich bleibe aktiv mit kreativen Dingen, sei es bei der Arbeit an neuen Gemälden oder beim Songschreiben. Außerdem habe ich ein paar Zoom-Performances gegeben und engagiere mich für Obdachlose sowie für Menschen, die vom Virus betroffen sind. Demnächst erscheint mein neues Album „The Essential Yo MaMa“ mit Jon Tiven und vielen talentierten Mitwirkenden; wir haben gerade einen Deal vereinbart. Ich halte es für wichtig, unter allen Umständen kreativ zu bleiben. Im Moment macht es mir wohl am meisten Spaß, Gedichte aufzuführen, zu malen und zu improvisieren. Ich fühle mich mehrmals am Tag inspiriert.
Mit diesem Interview möchte ich nicht nur etwas über dich und deine Karriere erfahren, sondern möglicherweise auch Menschen aus allen Lebensbereichen dazu inspirieren, einfach kreativ zu sein, wenn sie den Antrieb dazu verspüren. Das Ziel habe ich auch bei vielen meiner Dokumentarfilme. Was denkst du darüber?
Ich versuche immer, Menschen dazu zu inspirieren, sich kreativ auszuleben, also stimme ich dir vollkommen zu. Gleichzeitig möchte ich dabei nicht so tun, als ob ich anderen überlegen wäre. Etwas, was vielen Künstlern fehlt, ist Bescheidenheit. Ohne Bescheidenheit kann man kein großer Künstler, kein großer Dichter sein, und das ist etwas, was vielen Künstlern, Regisseuren, Produzenten und so weiter nicht haben. Für mich ist es wichtig, dass die Menschen das wissen.
Welche Künstler haben dich beeinflusst, als du begannst, dich fürs Schreiben zu interessieren? Hättest du anfangs gedacht, dass du mit dem Schreiben oder spezieller dem Songschreiben jemals eine Karriere aufbauen könntest? Hast du viel Unterstützung erhalten?
Ich halte nicht viel davon, „Einflüsse“ festzusetzen. Das ganze Leben ist ein Einfluss für mich – ich kombiniere es auf meine eigene Art und irgendwann macht man es sich zu eigen. Einige Künstler haben mich beeinflusst, aber das taten auch Lebenserfahrung, Reisen, einfach zu „leben“, kreieren und meine eigene Stimme entdecken. Mit dem im Hinterkopf gab es viele Künstler, deren Werke mir gefielen, als ich aufwuchs. Unter ihnen waren Walt Whitman, T.S. Eliot, P.F. Sloan, The Beach Boys, The Beatles und der Dichter Rainer Maria Rilke.
Meine Eltern waren geschieden. Meine Mutter unterstützte mich, während mein Vater nicht viel mit meiner Erziehung zu tun hatte – er war Profi-Golfer, Head Pro in vielen Country-Clubs und wiederverheiratet. Meine Mutter hat meinen kreativen „Flow“ nicht aufgehalten, sie ließ mich fast alles tun, was ich wollte. Sie war ein liebevoller Mensch, sehr freundlich und gutherzig. Auch wenn ich nicht sehr diszipliniert war, war sie selten wütend auf mich. Ich mochte es, vor Publikum aufzutreten, seit meine Großeltern mich Gäste in ihrem Haus unterhalten ließen. Außerhalb des Hauses erhielt ich nicht viel Unterstützung bei meinen kreativen Arbeiten, besonders bei der Lyrik. Viele sagten, es würde nie eine Laufbahn werden. Also schrieb und trat ich einfach auf und dachte nie an eine Karriere.
In Songs der Beach Boys wurden Stephen Kalinichs Texte berühmt:
Quelle: YouTube
Du wurdest an der Ostküste geboren und gingst dort aufs College, hast dich dann aber 1965 entschieden, nach Los Angeles zu ziehen. LA muss in den 60ern als junger Künstler ein faszinierender Ort gewesen sein. Kanntest du dort vorher irgendwen? Wie begann deine künstlerische Laufbahn?
Als ich mit Anfang 20 nach LA kam, wollte ich hier eigentlich Medizin studieren. Außer ein paar Freunden meines Vaters kannte ich niemanden. Es war ein faszinierender Ort. Ich erinnere mich, wie aufregend es für mich war, Orangen auf einem Baum wachsen zu sehen, das tolle Wetter zu erleben, die Stars zu sehen … Es war wie ein Traum, aber direkt neben dem Reichtum gab es die totale Armut. Schon damals lebten viele Obdachlose auf der Straße.
Kurz nachdem ich angefangen hatte, brach ich das College ab, als sich Gelegenheiten für meine künstlerische Laufbahn ergaben. Von da an wusste ich, dass ich Dichter, Spoken-Word-Performer und später auch Textdichter für Songs werden wollte. Aber vor allem interessierte ich mich fürs Vortragen. Brian Wilson regte in jener Zeit an, ich sollte ein Rock-Album aufnehmen, aber ich tat es nicht, da mir klar wurde, dass mein „Antrieb“ weder Ruhm noch das Streben nach Bekanntheit waren. Ich wollte als Friedensbringer bekannt sein und hatte bloß das Ziel, dass meine Arbeit dem Weltfrieden dienen sollte. Selbst als ich 1968 zu Brian Wilson ging und begann, mit den Beach Boys zusammenzuarbeiten, ging es mir um die Liebe und den Frieden und nicht so sehr darum, „Star“ oder gar „Rockstar“ zu sein. Natürlich bin ich auch nur ein Mensch und befinde mich nicht auf einer „höheren Ebene”. Obwohl es damals bereits mein Ziel war, war ich nicht völlig selbstlos, und in meiner Karriere genoss ich es, wenn ein Song erfolgreich war. Aber im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, meinen Wunsch, Gutes tun zu wollen und ein Leben zu schaffen, das für alle Wesen besser ist, immer an erste Stelle zu setzen.
Deine Zusammenarbeit mit den Beach Boys – insbesondere mit Dennis Wilson – auf dem Album „Friends“ im Jahr 1968 wurde oft diskutiert. Deine wunderbaren Lieder „Little Bird“ und „Be Still“ werden zu Recht hoch geschätzt. Die sehr poetischen Texte kamen zu einer Zeit, als die Beach Boys anfingen, sich von ihrem ursprünglichen Surf-Image zu lösen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit? Du warst Hobbydichter, neu in Los Angeles, und The Beach Boys, damals unter der Leitung des legendären Brian Wilson, waren große Stars.
Dennis erfuhr über seinen Bruder Brian von mir. Die Geschichte begann mit einem glücklichen Zufallstreffen: Eines Tages traf ich in Hollywood beim YMCA Jim Critchfield, der mit dem berühmten Jay Ward von Bullwinkle arbeitete. Jay und ich freundeten uns an und er wurde ein großer Fan meiner Gedichte, nachdem ich privat in seinem Auditorium aufgetreten war. Er war mit Brian befreundet und erzählte mir, dass dieser gerade eine neue Plattenfirma gegründet hatte und für einen Dichter/Songwriter offen sein könnte. Um es kurz zu machen: Sie arrangierten ein Treffen mit Brian, und innerhalb weniger Wochen wurde ich als Autor unter Vertrag genommen. Es war aufregend, ich erhielt einen Vorschuss von 500 Dollar. Damals betrug die Miete 100 Dollar pro Monat, deshalb fühlte sich das wie viel Geld an. Das war der Anfang. Es war ein großer Glücksfall für mich, der zu vielen weiteren Kontakten führte. Außerdem war ich zu der Zeit, als ich „Be Still“ und „Little Bird“ schrieb, verliebt, was in den Texten durchscheinen könnte.
Wie fühlte es sich an, als du das erste Mal die Aufnahmen deiner Songs fürs „Friends“-Album hörtest?
Ich erinnere mich vor allem, wie ich „Little Bird“ das erste Mal hörte. Ich wohnte damals in einem Motel und nutzte ein Münztelefon auf dem Gehweg direkt neben meinem Zimmer als Telefon. Wenn es draußen klingelte, konnte ich es von innen hören. Die Beach Boys dachten, die Nummer sei ein normales Telefon in meiner Wohnung, weil ich mich zu sehr schämte, dass ich mir keines leisten konnte. Eines Tages im Jahr 1968 klingelte es, ich rannte aus dem Zimmer, hob ab, und am anderen Ende der Leitung war Al Jardine, der mir „Little Bird“ durchs Telefon vorspielte. Ich hörte also meine erste Zusammenarbeit mit den Beach Boys auf einem Gehweg in LA durch ein Münztelefon. Ich war sehr aufgeregt, es war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde.
Du hast auch mit Dennis Wilson zusammengearbeitet, als er in den 1970er Jahren ein Soloalbum aufnahm. Wie habt ihr euch verstanden?
Dennis und ich wurden enge Freunde. Wir machten fast alles zusammen. Zuerst verbrachten wir bei der Arbeit viel Zeit und daraus wurde schnell eine Freundschaft. Wenn wir gemeinsam an einem Song arbeiteten, schrieben wir ein wenig Musik und gingen in Pausen gemeinsam Essen. Wir waren eng verbunden. Er hatte großen Respekt vor meiner Lyrik und sagte, ich könne die Welt zum Guten beeinflussen – was Brian, der ebenfalls ein guter Freund wurde, ebenso sagte.
Wie lief die Zusammenarbeit mit Brian und Dennis Wilson ab?
Die Zusammenarbeit mit beiden war wunderschön. Dennis erfand spontan Melodien, während ich meine Worte vortrug. Er hatte eine seltene Gabe: Er konnte ein Gedicht hören, es sofort in seinem Kopf vertonen und singend wiederholen. Nur sehr wenige Menschen kannten diese Seite von ihm. Bei anderen Songtextern gab er zuerst die Musik vor und fand dann die Worte dazu, aber nicht bei mir. Bei all unseren gemeinsamen Liedern schrieb ich zuerst die Texte. Es war eine schöne Zusammenarbeit. Mit Brian habe lief es auf beide Arten ab. Normalerweise schrieb ich zuerst die Texte, aber für den Song „A Friend Like You“, den er mit Paul McCartney sang, gab er mir zunächst die Melodie vor.
Neben Brian und Dennis Wilson hast du mit vielen anderen Komponisten an Songs zusammengearbeitet. Hast du ein „übliches“ Verfahren, wenn jemand deine Texte vertonen soll? Welche Erfahrungen hast du gemacht?
Das kommt darauf an. Normalerweise schreibe ich die Worte zuerst, aber ich habe schon auf beide Arten gearbeitet. Ich glaube, um ganz ehrlich zu sein, dass ich die Zusammenarbeit an Liedern die meiste Zeit nicht mag; es ist ein Kampf, aber hin und wieder funktioniert es. Es kommt wirklich auf die Person an. Ich habe nicht die Einstellung, dass der Koch allein fürs ganze Essen verantwortlich ist, es braucht viele Mitwirkende, sei es beim Film, beim Kochen und so weiter. Aber Lyrik ist eher eine einsame Reise. Sie erfordert eine besondere Sicht des Lebens, die weniger an Perfektion als an Freude gebunden ist. Abgesehen davon liebe ich es, wenn Musiker zu meinen Gedichten und gesprochenen Worten improvisieren.
Du hast deine Gedichte nie in Buchform veröffentlicht sondern stattdessen als Spoken-Word-Performances. Das begann mit der LP „A World of Peace Must Come“, die du 1969 mit Brian Wilson aufgenommen hast. „Be Still“ auf dieser LP ist für mich eines deiner besten Werke. Erst vor kurzem hast du damit begonnen, Gedichte auch in Schriftform in sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Ist dir der Vortrag genauso wichtig wie der Text selbst?
Der Vortrag ist wichtig, aber das Gedicht muss auch für sich selbst wirken. Wenn ich auftrete, versuche ich, jede Person im Publikum zu erreichen, zu berühren, anzusprechen. Ich versuche, sie einzubeziehen und eine Kommunikation für uns alle zu erschaffen – in dem Sinne, dass ich die Menschen im Publikum erreichen möchte, sie aber zu ihren eigenen Schlussfolgerungen kommen lasse. Als ich jünger war, war ich Sportler, und ich habe meine Energie aus dem Sport in den Vortrag eingebracht. Meine Darbietungen waren nicht gedämpft, sondern sehr energisch. Jemand verglich sie damals mit Mick Jagger. Im Allgemeinen ziehe ich Liveaufnahmen vor – sie sind spontaner, und auch wenn es Mängel und Fehler geben mag, fühlen sie sich drängend, „echt“ an. Studioaufnahmen sind schön, aber ich bevorzuge die direkte Inspiration aus dem Leben. Obwohl „Be Still“ nicht vor einem Publikum aufgenommen wurde, war es sehr „im Moment“ – ich habe das Gedicht einfach rezitiert, während Brian in einem Take spontan die Orgel dazu spielte. Allgemein denke ich, alles ist wichtig, der Text, die Aufführung, die Inszenierung. Ich liebe den Vortrag, das Schreiben, die Malerei, es gehört alles zusammen.
„Be Still“, bekannt als Song der Beach Boys, hier erweitert als Spoken-Word-Performance:
Quelle: YouTube
Als wir letztes Jahr einmal abends in Los Angeles spazieren gingen, begannst du einfach, einen kreativen, tiefgründigen und poetischen Text über unsere Umgebung zu improvisieren. Bist du normalerweise so intuitiv und schnell oder „feilst“ du manchmal lange an einem Werk? Was hältst du von Poetry Slams?
Wenn es um Malerei geht, lasse ich gerne „Fehler“ als Teil des Kunstwerks in den Gemälden, aber bei Songs und Gedichten eher weniger. Ich schreibe meine Gedichte um, poliere, bearbeite, kultiviere sie; ich lege einen Garten an und entferne das „Unkraut“, bis er zu seiner vollendeten Form gewachsen ist. Es hängt jedoch vom Werk ab – wenn mir seine rohe Fassung gefällt, lasse ich es in Ruhe. Man muss sich jedes Werk einzeln ansehen, um zu sehen, was es braucht. In meinem Schreiben möchte ich den Menschen Raum für Entdeckungen lassen. Ich hoffe, dass ich nicht fordere, aber ich versuche, einen Dialog zu eröffnen und auch meine Sicht der Dinge zu vermitteln. Ich mag zwar einige Poetry Slams, aber es ist lediglich ein einzelner Stil von Lyrik, der zudem oft auf einen „Showeffekt“ abzielt. Ich bevorzuge die Abwechslung: Manchmal mag ich ein langsam vorgetragenes Gedicht, das einen zur Ruhe bringt, oder manchmal eines, das aufschreckt.
Du hast mit vielen Genres experimentiert. Bspw. bist du in den 80ern mit einem Rap in einem Musikvideo aufgetreten. Diese Rap-Performance „Everybody’s Got a Car In LA“ untergräbt auf freundlich-alberne Art alle Erwartungen, die man an ein solches Video stellen könnte. Du hast mir einmal gesagt, dass du dabei „einfach nur Spaß“ hattest. Es ist ein ziemlicher Kontrast zu einigen deiner „tieferen“ Arbeiten. Erzählen uns ein wenig darüber.
Wir alle sind eine Kombination aus vielen Gefühlen. Manchmal genieße ich es, ein absichtlich albernes Lied zu kreieren, das einen zum Lachen bringt, und ich schaffe auch gerne ernste Werke, die einen fesseln wie die „Galaktischen Sinfonien“. Mein Credo lautet: Lasst uns mit Freude Frieden schaffen, aber, wenn es relevant ist, auch mit todernsten Worten. Zum Rap-Song, von dem du sprichst – ich hatte die Idee, schrieb schnell den Text und Chris Pelcer vertonte ihn. So ist er entstanden, spontan, ohne viele Korrekturen, ich mochte den spontanen kreativen Fluss. Es hat Spaß gemacht, denn ich schuf ein alter ego für das Musikvideo: Stevie Nobody, den ich später mit Jon Tiven in „Yo MaMa“ weiterentwickelte. Irgendwo habe ich einen groben Entwurf eines Drehbuchs für einen Film über Stevie Nobody, bei dem ich eines Tages Regie führen möchte.
Du hast erst vor ein paar Jahren mit der Malerei begonnen und bist Autodidakt. Deine Gemälde haben einen sehr eigenen Stil, und deine „Leinwand“ sind oft Objekte wie leere Getreideschachteln, Karton- und Holzstücke oder andere Materialien. Was hatte dich mit Mitte 70 dazu bewogen, dich auf diese Weise kreativ auszuleben? Gibt es Maler, deren Werke dich beeinflussen?
Ich denke, dass viele Maler mich inspirieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich von ihren Werken beeinflusst wurde oder nicht. Ich liebe Renoir, Monet, Cezanne, Picasso, Matisse und Franz Kline. Besonders haben mich die Werke von Vicci Sperry berührt. Sie war eine gute Freundin, die mich ermutigt und unterstützt hat. Heute mag ich Landschaften nicht mehr so gerne wie früher. Stattdessen bevorzuge ich kleine Gesichter, aber auch abstrakte Formen, Gestalten oder Farben. Ich weiß nie, was ich von einem Tag auf den anderen malen werde, es ist meist ein sehr intuitiver Prozess. Ich liebe es, beim Malen das Unerwartete zu suchen, ich liebe die Überraschung, die spontanen Ausbrüche, das Beruhigende, die Wut, die Ruhe, das Chaos, und versuche, daraus ein Werk zu formen, das mich und hoffentlich auch einige andere berührt. Nur in seltenen Fällen, hin und wieder, beginne ich ein Gemälde mit einem konkreten Plan.
Du hast mit zahlreichen Künstlern zusammengearbeitet, darunter auch mit einigen Musikern, deren Werke du schon als Jugendlicher mochtest. Viele von ihnen sind Freunde geworden. Wie fühlst du dich beim Gedanken daran?
Dankbar. So, wie ich es heute sehe, bin ich dankbar für alle Menschen, die ich getroffen habe. Dankbar für all die positiven und sogar für jene, mit denen ich negative Erfahrungen gemacht habe, weil ich daraus gelernt habe. Ich liebe meine Freunde, viele haben mich ermutigt, mich inspiriert, aber ich bin schlussendlich meinen eigenen Weg gegangen.
Du bist inzwischen Ende 70 und nach wie vor sehr produktiv. In einem kürzlich auf Facebook veröffentlichten, autobiographischen Gedicht schreibst du, dass du seit drei oder vier Jahren täglich malst. Hast du eine Botschaft für Menschen, die versuchen möchten, sich kreativ auszudrücken, aber immer noch zögern?
Seid offen für diese Lebensreise, seid leidenschaftlich. Dreht einen Film, malt, wandert, was immer ihr im Rahmen des Möglichen wollt – versucht es. Seid freundlich zu anderen Lebewesen, räumt euer Ego aus dem Weg, lasst euch auf die Menschlichkeit ein. Erschafft einfach. Tut es einfach, versucht es. Verurteilt euch nicht selbst, bleibt einfach dabei. Zögert nicht, probiert es einfach, was immer ihr auch tut. Haltet in allen Lebensbereichen die Freude und den Sinn für Abenteuer am Leben. Gerda Herrmann, die autodidaktische „Liedermacherin von Botnang“, über die du einen wunderbaren Dokumentarfilm gedreht hast, ist ein schönes Beispiel. Sie ist 89 Jahre alt, schrieb ihr erstes Lied mit 53 Jahren und verbreitet immer wieder Freude durch ihre Musik. Letztes Jahr vertonte sie mein Gedicht „If I Can Be a Benefit“, was mich sehr glücklich gemacht hat. Es ist nie zu spät. Erschafft einfach.
Alexander Tuschinskis Interview mit Gerda Herrmann findet ihr hier.
Mehr über Regisseur und Filmemacher Alexander Tuschinski im Interview von Schauspieler Thomas Goersch.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Nach gut sechs Jahren veröffentlichen The Notwist ein musikalisches Kleinod: Die EP „Ship“ enthält gerade mal drei Songs. Aber die sind so dicht und konzentriert, wie sonst nur Maggi-Würfel. Zum Glück helfen sie sogar über ein Covermotiv hinweg, mit dem man sich echt schwertun kann …
Störungen haben Vorrang. Also muss das Thema Cover zuerst auf den Tisch. Ich weiß, da begebe ich mich auf das dünne Eis von Geschmack und persönlich-ästhetischem Empfinden, aber ich kann es nicht anders formulieren: Für mich war das Titelmotiv echt eine Hürde, die Musik an mich heranzulassen.
Eine kleine Spielhalle in Ego-Shooter-Lichtstimmung. An einem der Spieltische kippt ein Mann mit seinem Stuhl nach hinten. Glücklich oder verzweifelt? Darüber geben auch die Rauchringe über dem Kopf des Schicksalhaften nicht Aufschluss. Jedenfalls eine Momentaufnahme, deren Groteskheit mir zuflüstern wollte (zumindest bildete ich mir das ein): „Ob du mit dieser Platte jemals glücklich werden wirst? Wir werden sehen!“
Zack, lag das Cover einfach umgedreht auf dem Tisch; der Zerberus für den Zugang zur Musik gebändigt. Und die Nadel tastete sich ins Vinyl.
Von wegen Sendepause
„Ship“ ist der Titel und zugleich auch der erste Track der EP, die The Notwist Ende August veröffentlichen. Drei Songs, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Und doch enthalten sie alle typische The-Notwist-Spurenelemente von Song zu Song, nur in ganz unterschiedlichen Rezepturen.
Mehr als sechs Jahre sind seit dem letzten Studioalbum vergangen. Das heißt aber nicht, dass die Band in Funkstille oder auf Sendepause war. Die Brüder Markus und Micha Acher, musikalischer Kernreaktor von The Notwist, widmeten sich in den letzten Jahren einfach verschiedenen anderen Projekten. Sie kuratierten das Münchener Festival Alien Disko, schrieben Soundtracks oder verschrieben sich Spirit Fest, ein Dream-Pop-Projekt, das Markus Acher mit britischen Musikern und dem japanischen Avantgarde-Folk-Duo Tenniscoats ins Leben rief.
Vergesst das Provinz-Narrativ
The Notwist – spätestens als „Neon Golden“, eines der erfolgreichsten Alben der Band, erschien, war fast in jeder Besprechung das Narrativ vom „Wunder von Weilheim“ zu lesen: eine kleine Band aus einer kleineren Stadt in Oberbayern, die einen Sound entwarf, den man gar nicht so leicht in eines der üblichen Koordinatensysteme einordnen konnte. Weilheim war die Metapher für Provinz, die auf einmal als Kreativzentrum heiliggesprochen wurde.
Ehrlich gesagt: Ich fand das damals schon versnobt, im besten Fall noch pseudo-kosmopolit, im schlimmsten Fall dämlich. Als ob nur Großstädte gute Musik hervorbringen können (und dürfen), als ob es auf den Postleitzahlenraum ankommt, wo Menschen sich finden und einen Musikstil entwickeln, der unverkennbar und anmutig ist. Es braucht nicht diese unbeholfene Kleines-Dorf-irgendwo-in-der-Provinz-Metapher, um klarzumachen: The Notwist versuchen einfach das, was gute Musik leisten soll – ins Blut, in die Beine und in den Kopf gehen. Genau darin sind sie sich treu geblieben. Was für ein Glück.
„I want to go outside, I want to meet people“
Beim Opener „Ship“ hört man gleich eine neue Stimme: Saya. Die japanische Sängerin ist im Duo Tenniscoats beheimatet und eben auch beim Spirit-Fest-Projekt mit an Bord. Der Song ist so etwas wie der perfekte Opener für eine EP, unzaghaft, pochend und treibend. Und ja, auch ein bisschen vertraut-ungewöhnlich: Dieses eigentümliche knusprige Scheppern, die robust-verzerrte E-Gitarre – und doch lässt der Sound aufhorchen. Leicht technischer, spaciger, pulsierender als sonst.
„I want to go outside, I want to meet people“, singt Saya. Markus Acher versteht das als Grundprinzip der Band: sich immer immer weiterzuentwickeln, unterschiedliche Stile in die eigene Musik zu integrieren – und eben mit Musiker*innen zusammenzuarbeiten, die man selbst bewundert.
Wie ein Kommentar auf dieses komische Leben gerade
Naja, ich brauche gar nicht um den heißen Brei reden. „Loose Ends“ hat sich ganz tief in meiner Herzkammer eingenistet. Der zweite Song auf der EP ist eine Notwist-Nummer im klassischen Sinn. Aber wie lässt sich der überhaupt beschreiben? Klar, wieder gibt es diese kleinteiligen Klangstrukturen, die verzerrte Gitarre, die ausgetüftelte Percussion … Ich denke, es ist die warmherzige Melancholie, die einen beim Hören umarmen will – und man lässt sich gerne von ihr umarmen.
„We live on loose ends“, haucht Markus Acher im Refrain. Da läuft eine Ballade, und auf einmal wirkt sie wie ein Kommentar auf dieses komische Leben gerade.
„Loose Ends“ bringt Gegensätze zusammen, ohne sie auflösen zu müssen. Der Songs bezieht seine Kraft aus seiner Zerbrechlichkeit. Anmut und vertraute Alltäglichkeit stehen nebeneinander. Für einen muskulösen Ohrwurm ist er zu zart, fürs Vergessen zu eingehend. In geisteswissenschaftlichen Diskussionen gibt es hierfür den Begriff der Ambiguität – Mehrdeutigkeit, eine Vielgestalt an Bedeutungen, die gleichzeitig möglich sind.
Vielleicht hat es The Notwist gar nicht so in den Sinn gehabt, als der Song entstand – er wurde ursprünglich für den Film One of these days geschrieben –, trotzdem hält er ein Plädoyer für einen unbekümmert-entschlossenen Umgang mit dieser verrückten Zeit. Stimmungsmäßig leistet „Avalanche“ dazu einen Beitrag. Der dritte Track der EP ist ein kürzeres, leicht optimistisch angehauchtes Instrumentalstück.
Halt dich fest – an was?
„We live on loose ends“ – ich denke oft an diese eine Songzeile, eingebettet im Notwist-Sound. Das Covermotiv ist mir inzwischen egal, weil die drei Songs wie eine Lossprechung wirken, wie ein Zauberspruch für die Corona-Situation: Auf was soll man sich schon festlegen in dieser Zeit?
Auch wenn das Weltgefüge und der eigene Nahbereich noch so fragil sich, arbeite dich erst gar nicht am Wunsch nach Stabilität ab. Sondern lass dich auf die offenen Enden ein:
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Seine Filmmusik war so prägnant, dass sie berühmter wurde als die Filme, für die sie bestimmt war. Und auch darüber hinaus ist der Einfluss Morricones kaum zu unterschätzen. Am 6. Juli 2020 ist der zweifache Oscar-Preisträger im Alter von 91 Jahren verstorben.
1966 sollte ein bedeutendes Jahr für den italienischen Western werden. Glaubt man den im Internet kursierenden Gerüchten, dann enthält das Screenplay zu Sergio Leones Filmklassiker „Zwei glorreiche Halunken“ zur berühmtesten Szene des Filmes nur einen Eintrag: „Tuco enters the graveyard.“ Was der Regisseur und der Komponist Morricone dann daraus machten, ist Filmgeschichte: Der Gangster Tuco erreicht in besagter Szene als erster der konkurrierenden Halunken einen Friedhof, auf dem 200.000 US-Dollar in Gold vergraben sein sollen. Er betritt zögernd das riesige Areal, die Vogelperspektive wird eingenommen und zart entfaltet sich das musikalische Thema von „The Ecstasy of Gold“. Immer hektischer und manischer beginnt Tuco zu suchen, die Musik nimmt Fahrt auf, die Kameraführung wird hektischer, die Musik steigert sich in ein nahezu kakaphonisches Finale – und stoppt: Tuco hat das Grab gefunden.
Stimmt die Geschichte nun? Oder entspricht sie dem Bedürfnis einiger YouTuber, den Mythos des genialen Duos Leone/Morricone weiter zu befeuern? Eigentlich ist das nebensächlich, denn sie illustriert nur allzu gut, wie Morricone Filmmusik verstanden hat und was ihn so besonders ausgezeichnet hat: „Der Film muss der Musik Zeit geben“ hat Morricone 2003 in einem Interview gesagt. Und so bildete sie auch im Fall von „Drei glorreiche Halunken“ den Ausgangspunkt für die Entfaltung der Handlung. Der Regisseur ließ sogar große Lautsprecher am Set aufbauen, um die Musik während der Dreharbeiten gewissermaßen live abzuspielen. Auch schrieb Morricone vorab Leitmotive für die drei Hauptfiguren des Filmes und wir finden im Film alle der ihm so eigenen Trademarks: Die kojotenhaften Menschenstimmen, die „sägende Gitarre“ und selbstverständlich die schräge Mundharmonika.
So charakteristisch die Eigenheiten der Musik Morricones sind, sind sie doch nie zum Klischee geronnen, weit ragen sie über den Kontext des Films hinaus. Vom Klassikbereich bis in die Independentszene hinein hat Morricone künstlerische Arbeit inspiriert. 2004 interpretierte der Cellist Yo-Yo Ma Kompositionen Morricones, Mark Knopfler und Radiohead berufen sich explizit auf ihn und auch ohne das berühmte Mundharmonikaintro bei jedem Muse-Konzert wäre der Einfluss auf das immer im Set folgende „Knights of Cydonia“ unverkennbar. Spätestens durch die Zusammenarbeit mit Quentin Tarantino findet Morricones Musik wieder den Weg auf Hollywoods Filmbühne, 2016 erhält er den längst überfälligen regulären Oscar für „The hateful Eight“. „Wenn’s nach mir ginge, müsste ich alle zwei Jahre den Oscar kriegen“, hatte er einmal gesagt.
Quelle: YouTube
Am Dienstag ist der gebürtige Römer, der wortwörtlich an hunderten von Filmen mit Größen wie Petersen, Polanski und De Palma gearbeitet hat im Alter von 91 Jahren gestorben.
Gespielt wird er inzwischen nicht nur vor Konzerten von Metallica, sondern längst auch in den großen Konzertsälen. Vielleicht bringt es ein Tributalbum aus dem Jahr 2007 am besten auf den Punkt: We all love Ennio Morricone.
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.
Ping. Ping. Ping. Wo gerade noch die ausgedehnte Anfangsstille war – ein Markenzeichen für die Alben des ECM-Labels –, tastet nun ein Echolot den Raum ab. Ping. Ping. Ping. Das Tasten, das Suchen und Erkunden könnte so etwas wie ein Leitmotiv sein, aus dem heraus Avishai Cohen mit seiner Band Big Vicious sein neues Album geschaffen hat.
»Wir kommen alle vom Jazz, aber einige von uns haben ihn früher verlassen. Jeder bringt seinen Hintergrund mit ein und macht ihn zum Teil des Klangs der Band«, beschreibt Avishai Cohen die Grundkonstruktion seiner Formation. Es ist das vierte Album, das der bärtige Trompeter (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bassisten) beim Münchner Label ECM veröffentlicht. Diesmal allerdings ist es kein Projekt mit kleiner Besetzung, sondern das Ergebnis einer vielseitigen Bandstruktur, die lakonisch »Big Vicious« heißt – das große Böse. Ok, das klingt bedrohlich, fast nach einem düsteren Metal-Act; doch das Album ist ganz anders angesiedelt. Electronica, Ambient-Musik und Psychedelia sind Teil der Mischung, ebenso wie Grooves aus Rock, Pop, Trip-Hop und mehr. Jazz eben.
Monolith
»In dieser Band geht es nicht wirklich um die Soli. Das ist hier nicht das Ziel oder die Ästhetik. Es geht vielmehr darum, wie man einen Song erschafft, auch wenn niemand singt.« Tatsächlich wirken die Songs wie aus einem Guss – fast schon so, ob hier nicht vier oder fünf Musikern zuhört, sondern nur einem einzigen.
Das liegt vielleicht daran, dass sich Big Vicious auf langjährige Freundschaften stützt: Avishai Cohen und der Gitarrist Uzi Ramirez besuchten die gleiche High School in Tel Aviv. Gitarrist bzw. Bassist Jonathan Albalak und der Schlagzeuger Aviv Cohen, beide aus Jerusalem, spielen sein zwanzig Jahren in verschiedenen Ensembles zusammen. Die Besetzung ergänzt der zweite Drummer Ziv Ravitz, der noch zusätzliche Energie ins Musikgeschehen pumpt.
Was bündelt eigentlich das Album?
Gibt es einen Signature Track, also eine Art Filetstück, in dem sich alle Qualitäten und Charaktereigenschaften des Albums verdichten? Ich schaue auf meine Notizen. Wo sonst ein-zwei Stücke unterstrichen sind, gibt es hier eine ganze Liste von Songs. Und die könnten kaum unterschiedlicher sein.
Da ist das Eröffnungsstück »Honey Fountain« mit seinem mitreißenden Thema und dem besagten Echolot. Smart kommt es daher und gibt dem Album alles andere als eine akademische Grundstimmung, sondern eher eine zugänglich-poppige. Cool ist hier, wie sich die beiden Drummer ergänzen und ein Koordinatensystem von Beats in den Raum hauen. Man dreht den Lautstärkeregler gleich etwas lauter …
Dann begeistert mich das Energiepaket »King Kutner«. Wie ein Turbolader gibt auch hier das Schlagzeug Schub und baut in Komplizenschaft der rotzigen E-Gitarre aus dem Stück eine punkige Nummer. Von akademisch und esoterisch-ätherisch – Vorurteile, die man dem ECM-Label und seinem vermeintlich nordischen Sound oft nachsagt – ist hier nichts zu spüren.
»This Time It’s Different« zeigt die Offenheit der Band für Synthesizer-Effekte und wie sie gelungen in eine doch ganz klassische Jazz-Nummer Einzug finden. Fiepsen, Pfeifen, dazu die Trompete – Big Vicious schaffen daraus einen ganz lässigen Sound mit Ohrwurmcharakter.
Also nochmal die Frage nach dem Grundcharakter. Die Antwort: Das Album legt sich nicht fest, fährt sich nicht auf einen Songtypus ein, sondern führt viele Stile zusammen. In diesem Patchwork aus Feinsinnigem und Kantigem findet sogar eine Version von Beethovens Mondscheinsonate ihren Platz – und natürlich eine betörende Coverversion …
Und dann kommt ein Übersong aus den 90ern
»Wir spielten zu Beginn einige Coverversionen. Vor allem Musik aus den 1990er Jahren, weil das bei unserer Generation nachklingt, die Dinge, die wir in der Schule gehört haben. ›Teardrop‹ von Massive Attack ist eine Musik, von der wir nie müde werden. Es ist ein Stück, in dem man für immer bleiben kann – jedes Element darin ist so vollständig und gleichzeitig so einfach.« Zweifellos gehört »Teardrop« zum Größten, was die Neunziger Jahre musikalisch geschaffen haben.
Wie das so ist mit Coverversionen von solchen Megasongs: So manche Band verhebt sich und zerschellt im schlimmsten Fall im Duplikat-Kitsch. Doch die Big-Vicious-Version umschifft diese Gefahren souverän; sie schafft die Gratwanderung, dem Songs-Charakter zu erhalten und ihn doch in eine eigene Form zu gießen. Die Trompete übernimmt die Rolle der Leadsängerin, das Schlagzeug liefert den düster-schleppenden Puls und die wahnsinnig schön verzerrte Gitarre mengt entrückte Klangspuren im Bitches-Brew-Style bei.
Dass der Song schon mehr als 22 Jahre auf den Buckel hat, ist egal. Das, was Big Vicious daraus machen, offenbart: Er war, ist und bleibt cool.
Big Vicious – das große Böse. Wenn Avishai Cohen mit seiner Formation diese Begrifflichkeit so schön auslegt, dann kann man nur sagen: Bitte mehr davon von diesem Teufelszeug, das so großartig klingt!
Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.