Kategorie: Literatur

Liebesgeschichte im Alkoholrausch. Martin Suters „Melody“

Es geht um gutes Essen, viel Alkohol und eine tragische Liebeserzählung. Und lange fragen sich die Leser*innen wie auch der Protagonist Tom, worauf das hinausläuft. Sicher ist: Es wird auf etwas hinauslaufen. Sonst wäre es kein Roman von Martin Suter.


Eigentlich soll der junge Jurist Tom den Nachlass des reichen und schwerkranken Dr. Peter Stotz, einst Politiker und Nationalrat, ordnen. Und dafür sorgen, dass jener nach seinem Tod noch so gesehen wird, wie er Zeit seines Lebens gern gesehen worden war. Für diesen Job hat ihm Dr. Stotz ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte. Sogar in die Villa am Zürichberg war Tom gezogen. Doch zwischen hervorragendem italienischen Essen der Köchin Mariella und regelmäßigen Drinks mit seinem Chef kommt er kaum dazu, die Papiere zu schreddern, so wie es ihm Dr. Stotz aufgetragen hat. Irgendwann interessiert Tom auch nur noch eins: die geheimnisvolle junge Frau, deren unzählige Porträts in der Villa hängen, und Antwort auf die Fragen zu finden, was mit ihr passiert ist.

Martin Suter ist für seinen schnörkellosen Schreibstil bekannt. Seine Romane funktionieren ohne große Ausschmückungen und Pomp. Jeder Satz in einem Text des Schweizer Bestsellerautors hat seine Berechtigung und eine Funktion, die sich später offenbart. Doch in seinem neuen Roman „Melody“ ist etwas anders. Ungewöhnlich detailliert und an einigen Stellen etwas langatmig werden Räume, Mahlzeiten, alkoholische Getränke und Gespräche beschrieben. So wird den Leser٭innen kein Wort vorenthalten, wenn Dr. Stotz – am Kamin sitzend mit unzähligen Drinks intus – ausschweifend von seiner Vergangenheit erzählt. Von seiner großen Liebe Melody, die kurz vor der Hochzeit vor 40 Jahren plötzlich und spurlos verschwand. Hier schiebt sich eine zweite Ebene ins Erzählte. Stotz wird zum intradiegetischen Erzähler, einem Erzähler in der erzählten Welt.

Seitenlang wechseln sich beide Welten ab – die Welt in der Villa und die Welt um die Liebe zu Melody. Und immer lauter wird die Frage, worauf eigentlich hingearbeitet wird. Denn erfahrene Suter-Leser٭innen ahnen: Auch für das Hinhalten wird es einen Grund geben. Der große Twist wird kommen, irgendwann. Doch zuvor merken sie, wie auch Tom immer ungeduldiger wird und anfängt, nachzuforschen: Er spricht mit Stotz’ Bediensteten über Melody. Er versucht, den Dokumenten etwas zu entnehmen. Er betritt private Räume, in denen er nichts verloren hat, und fliegt prompt auf. Denn das Haus hat Augen und nichts ist, wie es scheint. Das wird ihm irgendwann bewusst.

Vielleicht haben einige Leser٭innen bald eine Vermutung, wie das Ganze enden, ja, wohin der Plot führen wird. Und doch kommt es ganz anders als gedacht. Wie so oft bei Suters Romanen. Ob das überraschende Ende den vorherigen Spannungsbogen trägt, muss jede٭r Leser٭in selbst entscheiden. Sicher ist: „Melody“ ist ein runder, gut zu lesender Roman – wenn auch nicht Suters bester.


„Melody“ von Martin Suter erschien im März 2023 im Diogenes Verlag und hat 336 Seiten.

Buchcover: © Diogenes Verlag

Wir sind ein kleines, unabhängiges Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen?

Dann schau mal im postmondän Shop vorbei.

Aus Mikroperspektive. Miku Sophie Kühmel im Interview

Da ist sie nun. Die Pandemieliteratur. Sie erreicht uns mit Triskele, dem zweiten Roman von Miku Sophie Kühmel und vielleicht ersten Berlinroman, bei dem in der Stadt wirklich gar nichts geht. Er erzählt über drei trauernde Schwestern, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnten, die nichts als Zerstreuung suchen und in der aufgezwungenen Isolation zueinander finden.

Nach dem hochgelobten Debütroman Kintsugi, der vor allem durch eine mikro- und multiperspektivische Erzählweise auffiel, entwickelt Miku Sophie Kühmel ihren Stil in Triskele lässig weiter und flechtet eine fast unsichtbar kleine Geschichte unbeirrt ins Weltgeschehen ein. Am Erscheinungstag des Buchs nahm sie sich Zeit, auf den Bänken vorm ocelot bookstore in Berlin Mitte einige Fragen zu ihrer Arbeits- und Erzählweise, dem Entstehungsprozess des Romans, über Perfektionismus und die Ängste am Erscheinungstag zu beantworten.


“Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann.”

Miku Sophie Kühmel

 

Glückwunsch zum Erscheinen deines zweiten Romans. Wie spricht man eigentlich den Titel aus?

Es scheint sich als Tradition einzuschleichen, dass meine Romantitel komische Wörter sind, die man erstmal googeln muss. Bei diesem Buch war es anfangs triskéle, also französisch ausgesprochen. Der Verlag sagte mir dann aber, wir können gern dieses komische Wort nehmen, aber dann bitte auf deutsch. Ich habe nachgegeben, finde es jetzt auch ganz schön. Triskele (mit Betonung auf der zweiten Silbe), hat eine noch stärkere Gravitas. Ich hab aber auch schon alles gehört: Triskell, Trikse. Das kenn ich von Kintsugi nicht anders und darauf stell ich mich schon ein.

Dabei ist Triskele ja ein altes, bekanntes Zeichen. Ich hab jetzt immer, wenn Leute verwirrt geguckt haben, zu ihnen gesagt: Du weißt nicht, dass es so heißt, aber du hast es schon gesehen.

Kannst du in zwei Sätzen sagen, worum es in Triskele geht?

Ja. In Triskele geht es um drei Schwestern, die ganz weit auseinander sind – jeweils 16 Jahre, und deren Mutter sich umbringt. Die drei haben zwar dieselbe Frau als Mutter gehabt, aber nicht die gleiche. Und darum, das zu verstehen, geht es.

Wie bist du auf dieses Setting gekommen?

Ich weiß witzigerweise noch ganz genau, dass ich auf der Frankfurter Buchmesse 2019, als ich grad mit Kintsugi unterwegs war, zwischendurch mit meiner Lektorin zum Rauchen auf dem Hof stand. Und ich hab gesagt, ich hab an etwas gedacht mit drei Schwestern, die vom Alter her ganz weit auseinander sind. Und sie sagte sofort: Ja ja, das, genau das.

Danach hab ich mich lang mit einem anderen Projekt beschäftigt, an dem ich aber carcrash-mäßig gescheitert bin. Ich hatte gemerkt, dass es überhaupt nicht so aufgeht, wie ich es mir vorgestellt habe und danach mit meiner Agentin telefoniert. Ich hab ihr alles geschildert und gesagt, ich hab noch diese andere Idee und hab ihr das von den drei Schwestern erzählt. Und auch meine Agentin hat gesagt, ja, ja, das! Ich saß grad in einem dreimonatigen Stipendium, in der Hälfte der Zeit, und meine ganzen Ideen für das erste Projekt waren mehr oder weniger hinfällig. Ich hatte aber eben noch eineinhalb Monate und dachte, dann lass ich jetzt mal frei laufen, was kommt.

War dieser Moment genau in der Zeit, in der die Handlung spielt, also 2020?

Ja, es war schon Corona, im Sommer 2020 habe ich damit angefangen.

Aber die Idee zum Setting ist damit schon älter als die Pandemie, die ja auch sehr eng eingeflochten ist?

Genau, die Situation hat sich dann beim Schreiben eingeflochten – unweigerlich. Das Jahr war gesetzt, auch weil für die Handlung wichtig ist, dass Mone sich im Schaltjahr umbringt. Für mich war es aber auch in der Zeit nicht denkbar, an etwas zu arbeiten, in dem Corona einfach ausgeblendet wird. Du musst dir vorstellen, dass es 2020 im Sommer war. Ich war zwar auf dem Land, wo man nicht ganz so viel davon gemerkt hat, aber ich wusste natürlich, zuhause ist alles verriegelt. Und irgendwie war es dann sogar für die Figurenkonstellation spannend, dass das so eingeflossen ist. Für viele Menschen hat ja in der Zeit so eine Wendung nach innen stattgefunden, eine Konzentration auf die Familie oder chosen family. Was sind die engsten Leute, die zwei anderen Haushalte, die ich jetzt sehen kann? Und ich finde schön, dass es jetzt ein Berlinroman geworden ist, der überhaupt kein Berlinroman ist. Denn das Berlin in Triskele ist eben ein Dornröschenschlaf-Berlin, wie wir das alle gar nicht aus der Literatur kennen.

Das stimmt, aber es bildet Berlin in der Zeit ja eben auch sehr gut ab.

Ja, und mir gefiel daran, dass es die Situation sehr auf die drei Schwestern konzentriert hat. Übrigens waren es anfangs auch mal vier Schwestern, aber es war relativ schnell klar, dass es drei sein müssen.

War die vierte auch 16 Jahre älter?

Mit den Abständen hab ich etwas herumgespielt und ich hab das jetzt nicht vorher groß ausgerechnet. Es hat sich irgendwann herauskristallisiert, dass oft die Konstellation lautet: drei, aber eigentlich vier. In meinem Kopf ist das Verhältnis zwischen den beiden Zahlen immer drei Semikolon vier (3;4). Denn es sind eigentlich ja vier Frauen, aber die eine ist nicht mehr da. Es ist eigentlich ein Jahr, aber wir erleben nur drei Quartale, also neun Monate.

Mone passt ja auch vom Alter her in die Reihe. Sie ist 17 Jahre älter als ihre erste Tochter.

Genau, und dadurch sind es eben doch vier Töchter, nur dass eine davon eben auch die Mutter ist.

Dein Debütroman Kintsugi war sehr erfolgreich, hat Preise gewonnen, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde übersetzt. Hat das Druck auf das zweite Buch aufgebaut?

Ja. Direkt danach wusste ich gar nicht genau, was ich machen sollte. Obwohl ich schon die Idee hatte, brauchte nach dem Herbst 2019 ein paar Monate und habe mich erstmal über einen kleinen Text wieder ins Schreiben reingearbeitet. Und mir wurde klar, ich hab jetzt immer diesen Vergleich – nicht nur im Erfolg, sondern auch im reinen Text.

Ich hatte das Gefühl, der zweite Roman steht sofort im Verhältnis zum ersten. Verbunden mit der Frage, ob ich jetzt wieder etwas Ähnliches oder etwas ganz anderes machen soll. Das musste ich erstmal abschalten, um zu den essenziellen Fragen zu finden: was das denn nun für ein Buch werden soll. Wie soll sich das anfühlen?

Wir sind jetzt heute am Erscheinungstag. Gefühlt sind zehn Instagram-Besprechungen herausgekommen, die beim Drüberscrollen erstmal positiv aussahen. Aber natürlich hatte ich das auf dem Schirm und hab gleichzeitig gedacht, dass mich das beim Schreiben nicht beschäftigen darf. Ich habe das nicht in der Hand. Ich hatte bei Kintsugi schon nicht in der Hand, wie viele Personen das gut finden, wen es im richtigen Moment erwischt und so weiter. So ist es bei Triskele jetzt auch – mit dem erschwerenden Detail, dass es nicht mehr das Debüt ist.

Um das Debüt gibt es so eine Mythologisierung: Es gibt Preise, die man gewinnen kann, man kann neu entdeckt, als große Überraschung wahrgenommen werden. Das ist jetzt nicht mehr so. Für Debüts gibt es neben Preisen auch Lesereihen, in Budapest zum Beispiel ein ganzes Literaturfestival. Für zweite Bücher gibt es nur eine einzige Lesereihe – „Secondo, das schwierige zweite Buch“, in Stuttgart. Denen habe ich heute zugesagt.

Dass die zweite Veröffentlichung anders sein würde als die erste, habe ich gewusst und versucht, nicht zu viel drüber zu grübeln. Denn was ich am liebsten mache, ist mitten in der Arbeit, im Schreiben, zu sein. Wenn ich mich für etwas entschieden habe und es sich für mich richtig anfühlt, mache ich das dann nur für mich, unabhängig von äußeren Erwartungen.

Es gibt Autor٭innen, die das können, die wissen: dieses Thema wird sich gut verkaufen oder ist jetzt genau am Puls der Zeit. Aber ich denk überhaupt nicht so und könnte das auch gar nicht. Das, was ich jetzt grad mache, ist das, was geht. Und deswegen ist das mit dem Druck dann etwas in die Ferne gerückt.

Schlimm ist was das betrifft aber immer genau diese Zeit, von der Fertigstellung des Textes bis zum Erscheinungstermin des Buches, heute. Ich war vor ein paar Wochen noch auf einer Verlagsfeier, bei der viele Autorinnen waren, die ich toll finde. Antje Rávik Strubel war da, Sharon Otoo war da. Und wenn ich zu denen gesagt hab, in acht Wochen kommt das Buch, war das Gesicht bei allen gleich sehr bedauernd: „Ah, ja, schwierige Zeit.“ Das verstehen alle sofort.

Was ich mich bei deinen beiden Romanen gefragt hab: Was war eher da, der Titel oder die Geschichte?

Das kann ich gar nicht für beide so richtig beantworten. Bei Kintsugi gab es viele verschiedene Ursprünge, die zusammengekommen sind und glücklicherweise gepasst haben.

Die verschiedenen Stränge?

Ja, aber auch die einzelnen Gründe, warum ich das machen wollte: das queere Paar, das ganze Thema mit der Zerbrechlichkeit, der Kernmetapher. Wahrscheinlich war die Metapher hier schon sehr früh da, und sie ist ja eben titelgebend geworden. Und jetzt war es eher so, dass ich auch so ein bisschen herumgespielt hab mit Sisterhood und Sister und den Buchstaben und Tri und dann ist mir der Begriff untergekommen – Triskele.

Was bei mir schon immer früh da war, war die Struktur. Es ist jetzt auch beim zweiten Roman so, dass es der titelgebende Begriff nicht nur ein starkes Motiv ist, das vorkommt. Sondern es ist ein Strukturelement: Wenn es um die Konstellation der Figuren geht, diese gemeinsame Mitte, aus der drei Stränge kommen, die jeweils eine eigene Spirale sind. Das ist eine Form, die es sogar in der Mikrobiologie gibt, die also auch in der Natur vorkommt.

Dieses Symbol hat mein Vorhaben so gut für mich gefasst, dass irgendwie klar war, das nehme ich jetzt als gedankliche Struktur mit. Es war bei Kintsugi auch schon genau so, dass ich dachte, dieses Kintsugi-Gefühl soll allem wie eine zweite Haut unterliegen. Ich wollte, dass es sich nach Kintsugi „anfühlt“ beim Lesen. Das war weniger strategisch und eher ein komisch intuitives Ding.

Auch die Buchcover greifen ja sehr gut mit dem Rest ineinander. Bist du in der Beziehung perfektionistisch?

Ja, Ich bin als Autorin schon nervig für den Verlag, weil ich das sehr genau nehme. Ich bin dann fleißig und erstelle Moodboards für das Cover: Was könnte taugen? Bei Triskele weiß ich, das waren verschiedene Dinge, Figuren würden Sinn ergeben, aber auch Wald und andere Themen kamen in Frage. Ich hab alles Mögliche gesammelt, aber es war schon klar, es wäre schön, wenn man so drei, vier Figuren hätte. Und auf meinem Moodboard fand sich schon dieses Bild einer kanadischen Künstlerin, was dann als Grundlage für das Cover gedient hat. Ich hab es im Prinzip gefunden, aber es war in blau und mit Tinte, und witzigerweise sind auf dem Originalbild eigentlich vier Figuren. Und eine von ihnen ist jetzt weg. So wie im Text. Das hat mich natürlich auch bildgeschichtlich sofort gekriegt – find ich ganz toll.

Ich bin da schon perfektionistisch, auch mit dem Farbton. Bei Kintsugi habe ich mir irgendwann sechs verschiedene Blautöne erbeten. Das war ursprünglich ein bisschen türkiser, was gar nicht gepasst hat. Ich hab mir im Copyshop dann noch sechs Varianten ausdrucken lassen und lange darüber gebrütet, welches Blau es wird.

Bei Triskele war es auch ganz lange so, dass es um Farbtöne ging. Übrigens schon vor dem Schreiben. Ganz früh stand fest: Wenn ich eine Sache im Kontrast zu Kintsugi gesehen habe, dann dass ich jetzt ein rotes Buch schreiben wollte. Mit „rot“  meine ich an der Stelle aber, ich hätte gerne etwas Lauteres, etwas Bewegteres, nicht ganz so Zurückhaltendes – mit gröberen Momenten. Ich hatte einfach ein rotes Buch vor Augen. Und das ist es jetzt am Ende auch geworden.

Mit ihrem Roman Triskele: Miku Sophie Kühmel

Ist es denn einfach, als Autorin über das Cover zu entscheiden? Ich dachte, das würde eher bei den Verlags-Vertreter٭innen liegen.

Das dachte ich auch, aber ich bin ja zum Glück beim besten Verlag der Welt. Das hat zumindest Roger Willemsen gesagt. Und ich hab mir damals beim ersten Buch, weil ich verunsichert war, dass dieser Traditionsverlag an mir interessiert war, schon zusichern lassen, dass das mein Projekt ist und ich immer das letzte Veto habe. Gerade bei Titel und Cover. Da wird nichts über deinen Kopf hinweg entschieden. Ich bin aber dann auch immer sehr proaktiv, gebe, wie gesagt, viele Ideen rein und sage, was ich auf keinen Fall möchte. Ich bin auch immer sehr meinungsstark. Mir sind da wenig Sachen egal, übrigens bis zum Schluss, auch bis zum Klappentext.

Und noch eine Gemeinsamkeit: Zumindest im Erzählstil sind beide Geschichten sehr ähnlich und die Handlung entsteht aus verschiedenen Perspektiven. Du kannst dir eine von zwei Fragen aussuchen. Entweder: Hast du Vorbilder für diesen Schreibstil? Oder: Wie bist du darauf gekommen?

Ich hab das nie bei jemandem, dass ich denke, ich wünschte, ich würde so schreiben. Das hat gar nichts mit Hybris zu tun, aber du hast sofort eine Art Verhältnis zu dem anderen Text. Es ist eher so, dass ich etwas spannend finde oder denke, ich würde das oder jenes anders machen – manchmal merke ich mir ein Werkzeug. Aber es ist nie Mimikri.

Und das mit diesen Multiperspektiven ist für mich eine Stärke, die mir sehr taugt, an der Fokalisierung in dieser Ich-Perspektive. Ich finde besonders in der Mehrdimensionalität spannend, damit zu spielen und hatte auch überlegt, ob ich das wirklich nochmal so machen sollte. Es gibt da ja auch wirklich Ähnlichkeiten zwischen dem ersten und zweiten Buch, aber die Handlung und die Figuren und Themen sind so anders, dass es dann am Ende für mich okay war. Auch der Rhythmus ist ja anders, jeden Monat erzählt ja abwechselnd eine Schwester. Die Perspektiven sind also wie drei Haarsträhnen, die Kapitel für Kapitel in einen Zopf geflochten werden.

Du bist immer viel in Bildern, oder?

Ja, schon. Das hilft mir und ist ein intuitiver Zugang, der für mich funktioniert. Text als Textil und Text als Garn und Text geflochten ist ja aber Derrida, Roland Barthes. Da brauch ich gar nicht bei mir anzufangen, an dem Bild sind die Theoretiker schon echt lange dran.

Wie wählst du aus, was für Perspektiven du erzählen möchtest?

Wie ich die Figuren auswähle, ergibt sich immer so. Ich wusste, dass es drei sind, und in welchem Abstand sie auseinander sind. Und dann lernte ich sie im Einzelnen kennen. Witzigerweise ist es bei mir diesmal sehr früh über die Namen gegangen. Es ist ja sehr auffällig, dass die Figuren Mo, Me, Mi, Ma, Mu heißen, also Mone, Mercedes, Mira, Matea und Muriel (die Katze). Und da war mir relativ schnell klar, dass das Absplitterungen von mir selber sind, also von Miku, und es war mir wichtig, sie nah an mir dran zu halten. Ich hatte dann die Namen und die hatte schnell eine Idee davon, wie die Figur so ist. Beim Schreiben lerne ich sie kennen und sie erzählen mir selbst, warum sie so sind, wie sie sind.

Über ihren Charakter entscheide ich nicht, sondern es ergibt sich sukzessive aus der Verarbeitung. Auch, wie sie im Verhältnis zueinander sind. Wie ein jüngstes Kind da agiert, und ein mittleres und ein ältestes. Wie man ist, wenn man in der DDR noch Teenager war, oder wenn man von der DDR eigentlich nur noch Rudimente mitbekommen hat, also, was sich in die Landschaft und in die Leute eingeschrieben hat, die einen großgezogen haben. Das ergibt sich dann einfach und ich muss das den Figuren gar nicht aufdrücken. Im Gegenteil merke ich eher, dass sie sich, auch wenn es kitschig klingt, wehren, wenn sie etwas nicht machen wollen. Wenn ich sie zu einem gewissen Grad kenne, kann ich sie zusammen in die Sauna setzen und kann sie reden lassen und gucken, was passiert.

Wenn du sagst, das sind Absplitterungen deines Namens: Bezieht sich das nur auf die Namen oder gibt es auch Absplitterungen deiner Charaktereigenschaften?

Beides. Für mich sind die Figuren immer auch ein bisschen ich. Das war bei Kintsugi auch schon so. Ich wurde einmal gefragt, wer mir da denn am nächsten sei. Und derjenige, der das fragte, erwartete natürlich, dass ich sagte, Pega ist mir am nächsten. Denn das ist ja die einzige Frau im ersten Buch. Ich habe aber geantwortet, die sind mir alle sehr nah. Am nächsten wahrscheinlich Max und Reik als dieses widersprüchliche Paar. Beide behandeln genau Themen, die meine Themen sind.

Die Entwicklung von Protagonist٭innen funktioniert für mich nie über Typen oder darüber, dass ich ganze Menschen „aus dem Leben stehlen“ würde oder so. Es ist komplizierter: Figurengenese ist ein Flickenteppich, ein Geflecht, verschiedene Splitter kommen da zusammen. Nimm das Bild, das dir gefällt, aber am Ende ist es etwas Zusammengesetztes, was im Idealfall zusammenwächst.

Es geht Zeug in einen rein, man prozessiert das irgendwie und es kommt irgendwas dabei heraus. Aber ich bin kein Spiegel, keine Linse, sondern es passiert etwas zwischen Eingabe und Ausgabe. Die Figuren setzen sich aus verschiedenen Dingen zusammen, natürlich auch aus Teilen von mir. Sie tragen Diskurse von mir in sich und geben mir die Chance, Fragen zu verhandeln. Ich merk mir schlecht Zitate, aber was ich nicht vergesse ist, dass Joan Didion gesagt hat: „Schreiben um zu Begreifen“. Das kann ich total nachvollziehen, dass man mit Fragen an einen Text herangeht, mit etwas, das man nicht versteht. Etwas nachvollziehen, um es zu verstehen. Um die Welt überhaupt zu ertragen und eben zu begreifen. Das kann ich über die Figuren spielen.

Wie wichtig ist Isolation als Setting für multiperspektivisches Erzählen?

Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann. Ich bin nicht die Person, die dir das große, weltumspannende Panorama-Fresko malt, sondern würde dir eher sagen: „Hier guck mal, das Detail, das Mauseloch hier, die Wolke dort“. Und dafür ist die Isolation natürlich irgendwie gut, das Haus auf dem Land genauso wie eine gesellschaftliche Isolation, weil man nicht so viel jonglieren muss, sondern sich auf das wesentliche konzentrieren kann.

Auf der anderen Seite denke ich mir aber auch, ich hab ja eine ganz andere erzählte Zeit im zweiten Roman. Das ist am Ende ja schon ein ganzes Jahr. Die Kapitel sind einzelne Monate, aber natürlich ist das nie der ganze Monat, sondern ultra-eklektisch, es sind immer zwei bis vier Szenen – wenn’s hochkommt. Ich glaube sogar weniger.

Am Ende wirst du immer auswählen und ich glaube, dass auch das schon eine Form von Isolation ist – und dass dies immer etwas sein wird, das mir hilft: eine Situativität, die einen viel besseren Zugang zu Figuren gibt. Ich les grad ein Buch, in dem es immer wieder diese sehr jetzigen Momente und dann wieder Abschnitte gibt, in denen Geschichte erklärt wird. Also wirklich historische Geschichte. Und daran find ich total bemerkenswert, wie wertvoll situatives Erzählen ist – zum Beispiel auch im historischen Kontext. Also Isolation ja, aber wahrscheinlich eher auf einer formalen Ebene.

Da das Buch mit ihrem Selbstmord beginnt, fehlt die Perspektive der Mutter, Mone. Wie würdest du sie beschreiben? Oder würdest du das eher ungern tun?

Also sie ist nicht nicht da und hat immerhin einen Brief hinterlassen, in dem schon sehr viel von ihr drinsteckt. Ich hab sie aber auch erst über die Erzählungen der anderen nach und nach verstehen gelernt. Ich glaube, für mich war sie in dem Kontext eben einfach nicht die Hauptperson oder Erzählerin, weil sie vielleicht auch gar nicht unbedingt in der Lage gewesen wäre, sich für das, was ich wollte, selbst aufzuschlüsseln. Und das Ergebnis ist auch, dass es gar nicht so sehr ums Aufschlüsseln geht, sondern um das Ertragen, um das Einordnen, darum, sich selbst in Position zu setzen zu dieser Mutter, die nicht mehr da ist. Ich glaub, Mone ist… Nein, ich glaube, ich will das gar nicht.

Das dachte ich mir fast. War dir beim Schreiben wichtig, dass die Frage offen bleibt und jede Tochter ihre eigene Mone hat?

Ich wusste vorher schon, dass das so sein wird. Das Buch ist überhaupt nicht autobiografisch, aber es gibt ein paar Dinge, die man doch irgendwie weiß. Und das ist etwas, das ich weiß: Geschwister, die weit auseinander sind, erleben unterschiedliche Eltern. Und ich finde es eh spannend, zu versuchen, die einzelnen Bilder, die Leute von einem Menschen haben, in Einklang zu bringen. Sie nebeneinander zu halten und zu versuchen, jemanden zu verstehen.

Das ist eher das, was du aus der Figur herausholen wolltest, oder?

Ich glaube schon. Ich wollte viel. Ich wollte über das Sterben schreiben, über Selbstmord und über Frauen und Frauenkörper. Das habe ich alles gemacht und jetzt ist das Buch eben sehr … rot.

Mones drei Töchter sind sehr unterschiedlich. Was, würdest du sagen, sind ihre Gemeinsamkeiten?

Humor und Sprache sind das, wo sie sich am ehesten verbinden können. Mir fällt grad auf, dass sie alle am Anfang sagen, „die andere kann besser reden als ich“ oder „die ist viel souveräner als ich“, aber eigentlich finden sie eine gemeinsame Sprache, können miteinander reden und gemeinsam Witze machen. Einen gewissen Galgenhumor unter anderem auch miteinander führen. Und dafür müssen sie natürlich erstmal ins Sprechen kommen, was manchmal halt seine Zeit dauert.

Mir ist besonders bei Mira, der mittleren Tochter aufgefallen, dass die Dialoge auf mich sehr natürlich und lebensnah wirken, die ja ungefähr in deinem und meinem Alter ist. In wessen Perspektive fiel es dir am leichtesten, dich hineinzufühlen? Wie bist du vorgegangen?

Ich würde witzigerweise gar nicht sagen, dass es mir bei Mira am leichtesten gefallen ist. Ich glaube, am besten verstehen konnte ich anfangs Mercedes. Ich wusste bei ihr relativ schnell, warum sie so ist, wie sie ist. Und mochte sie auch sehr schnell sehr gern. Bei Mira war es viel komplizierter – sie in ihrer Persönlichkeit zu begreifen. Ich würde zum Beispiel sagen, dass sie mir von der Persönlichkeit her am fernsten ist, obwohl sie mir vom Alter ähnelt. Und dafür, wie sie spricht, was sie denkt und wie sie handelt, musste ich vielleicht sogar erstmal die meiste Empathie aufbringen. Ich musste durch ihre Brille durchgucken, was sie gesehen und erlebt hat. Und bei Matea, der jüngsten, hatte ich auch Skrupel, denn man möchte ja nicht unangenehm über 16-Jährige schreiben.

Ich hab dann irgendwann aber begriffen, dass es nicht darum geht, allen 16-Jährigen zu entsprechen, sondern nur meiner 16-Jährigen. Etwas, was sie zur Jüngsten macht, ist, dass sie sehr haltungsgetrieben ist. Sie hat noch nicht diesen „Dum spiro spero”-Gedanken. Ich weiß, dass ich nichts weiß und je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich immer weniger verstehe. Sie ist sehr abgeklärt und denkt, dass sie alles versteht und durchschaut. Das ist, was sie jugendlich macht.

Ich habe das Gefühl, von den drei Schwestern ist Matea auch die toughste. Es gibt eine Szene, in der sie sehr souverän einer Person in Not mit der Suizid-Nothilfe verknüpft, was ich für eine 16-Jährige ziemlich stark finde. Was hat sie so stark gemacht?

Ich glaube, da lohnt es sich, anzuschauen, wer wie mit welcher Mone zusammengelebt hat. Und wenn man hört, wie Matea von ihren Erinnerungen erzählt, versteht man, wie allein sie war. Ich habe viele Gespräche geführt, also nicht für das Buch, sondern einfach in meinem Leben, mit Leuten, die ihre Eltern verloren haben. Auch oft wegen Suizid. Und ein jüngstes Kind sagte mir einmal, er war am Ende froh, als sein Vater nicht mehr da war: „Ich war der Letzte, ich war der Jüngste, der mit ihm leben musste. Und es war scheiße. Es war hart und nicht mehr schön mitanzusehen. Und ich wusste auch, ich kann nichts mehr machen.“

Ich glaube, da sind eine Härte und eine Rauheit, die aus einem Überlebenstrieb kommt. Daher, dass man konfrontiert mit dem Jetzt ist und nicht in der Lage, sich in Nostalgie zu verlieren. Zum einen hat man sie vielleicht auch viel weniger, weil man als jüngstes Kind die Eltern anteilig am längsten zum Beispiel in Krankheit erlebt hat. Oder nach einer Krise oder suizidal. Man kann durch die Gegenwärtigkeit dieses schlechten Zustands aber auch einfach nichts romantisieren. Das ist das, worin Matea so geschult ist.

Letzte Frage: Du brauchst ihn nicht zu verraten, aber du schon einen Titel für deinen nächsten Roman?

Ja, hab ich. Mal gucken, ob er es bleibt.

Vielen Dank!

Voll gern.


 

„Triskele“ von Miku Sophie Kühmel erschien am 10. August 2022 bei S. Fischer und hat 269 Seiten.

 

 

Bilder: © Gregor van Dülmen

 


Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Fett, Schweiß und Zersetzung in Niendorf 

Wenn der Verlag einen Roman als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘“ ankündigt, sind die Erwartungen hoch. Es sei denn die Betonung liegt auf „eine Art“. Denn bei einem Vergleich zwischen Thomas Mann und Heinz Strunk wird man beiden nicht gerecht.


Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Aber ja, vielleicht ist er eine Art „Tod in Venedig“, dann aber auch eine Art „Die Verwandlung“ oder eine Art „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Am Schluss ist er jedoch ein Roman, der für sich und gleichzeitig ganz in der Tradition der Heinz-Strunk-Werke steht. Denn worum geht es? Es geht um die Abgründe des männlichen Seins, es geht um das Unappetitliche, es geht um menschliche Ausdünstungen, Essensmief, Körper- und andere Flüssigkeiten. Es geht um „einen eifleckigen, einen Geruch hinter sich herziehenden Freak“.

Dabei fängt er doch so sauber und geordnet an, der Plot. Anwalt Dr. Roth, 51, mitten im Berufsleben stehend, gönnt sich eine dreimonatige Auszeit zwischen zwei Jobs im schleswig-holsteinischen Niendorf an der Ostsee. Als Ortsteil der Gemeinde Timmendorfer Strand verspricht dieser Aufenthaltsort wenig Aufregung und Ruhe zum Schreiben. Genau das, was der Protagonist sucht, will er doch nichts weniger als einen Bestseller schreiben – über seine bürgerliche Familie. Diese Rechnung hat er jedoch ohne seinen Vermieter, dem Strandkorbverleiher und Spirituosenladenbesitzer Breda, gemacht. Herr Breda ist die Personifizierung von allem, was Roth verabscheut. Von allem, was Roth niemals werden will, niemals sein möchte, nie sein wollte. Doch die Langweile, die Trostlosigkeit, die Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft regelt das. Und viel zu später merkt Roth, dass seine Verwandlung bereits in vollem Gange ist.

Aber ist es wirklich eine Verwandlung? Kämpft sich da nicht eher etwas an die Oberfläche, was immer schon tief in ihm geschlummert hat? Oder ist es doch ein Befreiungsschlag aus einem Leben, das er schon lange nicht mehr leben wollte? Fest steht, irgendwas passiert mit dem Protagonisten. Und lange ist nicht klar, wohin das führen wird und was das alles in der Konsequenz bedeutet.

Währenddessen werden die Leser*innen durch den Plot geführt wie durch ein Horrorkabinett. Denn Strunk porträtiert einmal mehr den Blick seines Protagonisten auf seine Mitmenschen. Und dieser ist meist kein freundlicher, wohlwollender, sondern ein abfälliger, ein oberflächlicher, auf das Äußere reduzierender Blick: Ihre abstoßenden Gerüche werden beschrieben, ihre gelb verfärbten Achselhöhlen und ihre Haut, die die „Farbe von fauligem Obst angenommen“ hat. Das ist nicht neu, werden doch die Protagonisten (nicht gegendert, da ausschließlich männlich) in Strunks Romanen weniger über die Schilderung ihrer Gefühlswelt, ihres Innenlebens charakterisiert, als mehr darüber, wie sie die Welt um sich herum sehen, ertasten, riechen, schmecken und verurteilen. Und das ist es, was Strunks Werke ausmacht: seine sehr detailreichen Beschreibungen neben den pointierten Dialogen, die lustig und tieftraurig zugleich daherkommen.

Doch zwischen diesem Abstoßenden und Trübsinnigen gibt es einen Lichtblick in „Ein Sommer in Niendorf“: das ältere Ehepaar Klippstein. Können sie Dr. Roth retten?

Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Und auch keine Sommerlektüre im klassischen Sinne. Aber er liest sich schnell und er unterhält. Doch eines muss wirklich einmal ausführlich analysiert und diskutiert werden: das Frauenbild ins Strunks Werken. Denn auch in diesem Roman wirft es einige Fragen auf.


„Ein Sommer in Niendorf“ von Heinz Strunk erschien im Juni 2022 im Rowohlt Verlag und hat 240 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag 

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Maximales Jokschusview

Max Jokschus, mit dem unser Autor Daniel Ableev (also ich) über Diesel & Jena klönschnackuliert, wurde am zweiten Dezember 1992 in einem Zwickauer Krankenhaus geboren, woran er sich aber nicht mehr erinnert. Seit Erinnerungen existieren, nehmen Bilderbücher, Gedichtbände und Horrorfilme einen großen Stellenwert ein. Aktuell lebt er in Leipzig, arbeitet dort halbtags an der Uni und die andere Hälfte an einer Promotion über den Horrorfilm. Obwohl sein Tag damit ausgeschöpft ist, stiehlt er sich regelmäßig ein paar Extrastunden, in denen er kleine Reimereien verfasst und bebildert.


Welche Tools benutzt du zur Erzeugung deiner Kunst?

Ein Surface Book (teuer) und FireAlpaca (das Gegenteil).

Was ist schwarz-rot-gelb und trägt zur Novelle888 bei?

Eine Koalition aus CDU, SPD und FDP, die Orthographie strafbar macht.

Nicht ganz, Urus war gemeint. Was sind einige Vor- und Nachteile des Künstlerseins?

Das wüsste ich auch gern.

Unter welchen Bedingungen würde Sarah Palin auf einem Ursus die Prämisse für eine fesselnde Graphic Novel ergeben?

Unter der Bedingung, dass Orthographie strafbar ist und die Sprechblasen voller Kringel und Flecken sind. Ansonsten leider aussichtslos.

Wobei ich mich freue, klugscheißerisch anzumerken: Bei Urus Palin bitte keine Verwandtschaft zur amerikanischen Politik unterstellen, sondern allein zu Palinurus elephas.

Wer inspiriert dich und wen inspirierst du?

1) Edward Gorey und Mike Mignola; 2) niemanden, der mich kennt.

Wer oder was ist unbedingt in mJok (Millijokschus) zu messen?

Die Kratzigkeit des Hustens im Verhältnis zur Versicherung, man sei wirklich nicht krank.

Mit welchen Adjektiven (bzw. Interjektionen, Partikelkanonen usw.) würdest du am ehesten deinen Stil bezeichnen?

Preisunverdächtig. Wohlig. Hmm.

Welche unmittelbaren Privilegien ergäben sich aus einer sublimen Mensch-Languste-Bastardisierung?

Wahrscheinlich hätte es keine Covid-Pandemie gegeben, denn Langusten haben keine Lungen (glaube ich). Gewisse Konflikte mit jüdischen Speisegesetzen ließen sich aber nicht kleinreden.

Was sind deine cleversten Lebenssinnhaftigkeitsvorgauklertricks?

Thomas Ligotti nur in kleinen Dosen lesen.


Urusvon Max Jokschus gibt’s online, in den Headquarters of Experimentalism.

Titelbild: © Max Jokschus

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Interliefiew – Im Gespräch mit Thomas Liefhold

Im folgenden Gespräch mit Thomas Liefhold – geboren in 1984, aufgewachsen in Gera, lebend in Mannheim – geht es nicht zuletzt um Cindy Told Him of the Sea, seine 2020 erschienene Sammlung generativer Maschinengedichte. Nagesake hingegen bleibt relativ unerwähnt.


Drei meiner Lieblingsautoren sind Burroughs, Brautigan und Beckett – und deine?

Gerade sind das wahrscheinlich Agnar Mykle, John Fante und Tove Ditlevsen.

Welche Dienstleistungs-App wärst du am liebsten?

Translate von Google.

Drei meiner Lieblingsbands sind Redemption, Jean-Michel Jarre und Carlo Domeniconi – und deine?

Die letzten Titel, die auf meinem Handy liefen, waren von Leighton Craig, Glorious Din und Mary Halvorson.

Wie lange noch bis zum ersten Auto-Complete-Herrn?

Das kommt darauf an, wann ich wieder länger auf Reise gehen kann. Die Gedichtsammlung, die du ansprichst und die ich 2020 unter dem Titel Cindy Told Him of the Sea herausgebracht habe, hatte ja eine solche längere Reise zum Anlass. Ich war sechs Monate unterwegs und habe einfach notiert, was Google Translate an Gedichten fabriziert, sobald die App versucht, thailändische oder vietnamesische Rezensionen ins Englische oder Deutsche zu übersetzen. In den USA, Mexiko und Guatemala gab es da keine Probleme, aber in Südostasien wusste die App phasenweise wirklich nicht mehr weiter. Die Algorithmen sind zumindest heute noch nicht so vollständig fehlerfrei, wie wir manchmal glauben, und das ist irgendwie beruhigend, denn aus den Fehlern der Maschine entsteht manchmal etwas sehr Poetisches. In Vietnam hieß es beispielsweise über ein Restaurant, dort stünden „vier Tassen Licht“ auf der Speisekarte, und über ein Ausflugsziel in der Nähe von Hanoi hatte jemand geschrieben, man sehe „die Berggeister im Nebelmeer spielen“, sobald man ein paar Treppenstufen eines Tempels nach oben gehe oder etwas in diese Richtung. Was derjenige wirklich geschrieben hat, kann ich nicht sagen, aber was Google verstanden haben will, ist klasse. Diese unfreiwilligen Gedichte habe ich festgehalten.

Drei meiner Lieblingsvideospiele sind Super Mario World, Pony Island und Monument Valley – und deine?

Ich habe mit meinem besten Freund aus der Grundschulzeit viele Nachmittage im Zimmer seines Bruders verbracht, um ihm beim Spielen am Sega Mega Drive zuzusehen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an Streets of Rage 2, was eine Art Prügelspiel war, das man auch zu zweit spielen konnte, aber dazu kam es meist nicht, weil uns der Bruder meines Freundes nur selten an die Konsole ließ. Damals fand ich es unglaublich, dass man als Vierzehnjähriger einen eigenen Fernseher und eine Konsole besitzen konnte. Vor drei Jahren habe ich in Mexiko einige Wochen lang Stardew Valley gespielt, während meine Freundin im Pazifik surfen war. Wir sind am Morgen gemeinsam aufgestanden, die anderen Zimmer im Hostel lagen da noch totenstill, und dann lief Kathrin in Richtung Ozean und ich habe Kaffee gekocht und im Bett meine Farm aufgebaut und erst wieder aufgehört, als Kathrin drei Stunden später völlig erschöpft vom Strand zurückkehrte.

Worum geht es in deinem Blog Das Jahr der Fahnen?

Um dieses Jahr. Ich wusste im Januar, dass mein Roman im Sommer erscheint, ich wusste auch, dass ich einen neuen Job antreten werde oder vielmehr muss. Anfangs habe ich an einen Umzug gedacht und an eine neue Stadt, manchmal sogar an eine längere Reise. Aber das hat sich schnell zerschlagen. Außerdem war mir klar, dass ich dem Schreiben endlich vertrauen muss, weil es anders gar nicht mehr geht, und ich wollte unbedingt festhalten, was in diesem beweglichen Jahr mit mir geschieht, denn dieses Jahr stellt für mich so etwas wie eine Entscheidung dar, und deshalb dachte ich, am Ende macht es womöglich Sinn, über ein entscheidendes Jahr zu schreiben und herauszubekommen, ob es tatsächlich so entscheidend wird, wie man anfangs denkt. Außerdem geht es im Jahr der Fahnen um das kontinuierliche, tägliche Schreiben, auch wenn manchmal ein paar Tage zwischen den einzelnen Einträgen liegen. Ich arbeite jeden Tag etwas und erinnere mich plötzlich wieder an Dinge, die fünfzehn oder zwanzig Jahre lang nicht mehr da gewesen sind, und dann denke ich, irre, dass so etwas möglich ist, dass die Dinge überhaupt wieder auftauchen können, denn dafür gibt es ja weder einen Grund noch eine Garantie. Mittlerweile glaube ich sogar, dass ich im Jahr der Fahnen einen solchen Grund oder Anlass für mich selbst geschaffen habe, einen Anlass für die Rückkehr der Dinge sozusagen, für ein paar bedeutende oder unbedeutende Erinnerungen, für das Auftauchen meiner verlorenen Freunde, an die ich mich nicht mehr oder nur indirekt zu schreiben getraue, für die viele vergeudete Zeit, die ich mir wahrscheinlich immer zum Vorwurf machen werde. Ich versuche noch immer, aus allem herauszukommen, ohne wirklich zu wissen, was ich damit meine, und für dieses Gefühl ist das Jahr der Fahnen am Ende da.

Drei meiner Lieblingsfilme sind Lost Highway, Begotten und Everything Is Terrible – und deine?

Die Feuerpferde von Paradschanow fallen mir ein, Licht im Winter von Bergman und Ariel von Kaurismäki. Aber auch 2001: A Space Odyssey von Kubrick, alles von Tarkowski, Kurosawa und Ozu, Idioten von Lars von Trier. The Act von Killing habe ich in einem komplett leeren Kino in Wien gesehen, als der Film gerade rausgekommen war, und er hat mich damals völlig umgehauen und mitgenommen, so etwas habe ich danach nie wieder erlebt. Leider habe ich von Filmen nur eine oberflächliche Ahnung und zähle mit Sicherheit zum sentimentalen Publikum. Ich finde also alles gut, was ich mit mir selbst in Verbindung bringen kann.

Wie seltsam wird dein erster Roman Gärten in der Wildnis?

Der Roman selbst ist hoffentlich nicht seltsam, aber was mit meinem Erzähler passiert, wahrscheinlich schon. Seltsam ist hier vielleicht sogar eine ganz gute Beschreibung. Der Roman spielt in naher Zukunft, im Sommer 2029, und das Leben von Jakob, meinem Erzähler, gerät nach und nach völlig aus den Fugen. Eigentlich nimmt er dieses Leben überhaupt nicht mehr als Leben wahr, als Möglichkeit und Chance, als etwas Offenes, denn er hat sich komplett vergraben. Er arbeitet als Texter für fiktive Liebesbeziehungen in einer Agentur und liest durch Zufall von einem Schreibkurs. Schreiben, das wollte er immer, ein Buch, das wäre doch was, darin könnte ja der Ausweg aus der Sackgasse liegen, und deshalb macht sich Jakob zu diesem Schreibkurs auf und das wiederum bringt alles ins Rollen.

Er wird Teil einer Gruppe von dilettierenden Außenseitern und lernt einen verbotenen Schriftsteller kennen, ein euphorischer Abschnitt beginnt für ihn, plötzlich scheint das Schreiben real, und Jakob will von vorn anfangen. Das alles passiert vor einem düsteren Hintergrund – im Roman steckt ziemlich viel Dystopie –, denn die Stadt wird von einer Terrorgruppe heimgesucht, deren Agenda unscharf bleibt, patriotische Bürgerwehren sind allgegenwärtig, man hat alle Obdachlosen an die Ränder der Städte verbannt. Zu allem Überfluss bilden sich dort draußen gerade Wüsten, die Tage sind unerträglich heiß, aber dafür haben Jakob und die anderen keinen Blick. Sie halten weiter an der Kunst fest, darin steckt so etwas wie ein Ausdruck von Freiheit. Und genauso geht es auch Ruben, dem Zentrum des Kreises, zu dem alle aufschauen und der in erster Linie ein brutaler Dichter ist, was Jakob unglaublich fasziniert.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ruben ist mit Sicherheit seltsam, wenn man darunter etwas Zwiespältiges und Besonderes versteht. Vor allem Jakob treibt er an, er ist sozusagen für einen Lichtblick in der allgegenwärtigen Wildnis verantwortlich. Ruben will ganz einfach mehr als das, was uns überall angeboten wird, als wäre es genau für uns und nicht für alle anderen gemacht. Und damit zeigt er Jakob einen Weg aus der selbstverschuldeten Monotonie seiner Tage. Wobei nicht ganz klar ist, wie weit Jakob diesem Weg letztendlich folgt.

Drei meiner Lieblingsvokabeln sind „Trumen“, „Raumzeit“ und „safidal“ – und deine?

„Verunsicherung“ und „Sanftmut“, würde ich sagen.

Wofür sind deine Soundscapes am besten geeignet?

Die haben keinen Zweck.

Drei meiner Lieblingsbildkünstler sind Giger, Dalí und Mœbius – und dune?

Ich mag die Landschaften von David Hockney und die Stillleben von Wolfgang Tillmans. Und ich mag Goodiepals Installationen.

Drei meiner Lieblingsästhetiken sind minimalist’sch, rot-schwarz und transmutiert – und deine?

Das überlasse ich anderen.

Was ist der Sinn des Lebens?

Wer hat auf diese Frage eine spruchreife Antwort?

Titelbild: privat

 

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Wiener Vagabunden-Jugend

Die österreichische Autorin und Humoristin Stefanie Sargnagel hat mit „Dicht“ einen unterhaltsamen Coming-of-Age-Roman geschrieben – über eine Wiener Herumtreiber-Jugend in Parks, vor Clubs und in Privatwohnungen abgedrehter, aber liebenswerter Freunde mit Zigaretten, Joints und viel Bier. Die Schule hingegen kommt konsequent schlecht weg.


Es ist eine ganz eigene Welt, in die Stefanie Sargnagel ihre Leserinnen und Leser in „Dicht“ mitnimmt, eine Welt, auf die man sich am Anfang ein wenig einlassen muss, was allerdings aufgrund des heiteren und unverkrampft humorvollen Erzähltons der Autorin nicht weiter schwerfällt. Bereits nach einigen Seiten fühlt man sich wieder in die eigene Jugend zurückversetzt, als Autoritäten infragegestellt wurden, wenn auch vielleicht nicht ganz so radikal wie das die Protagonistin von „Dicht“ tut, indem sie die Schule („Maturafabrik“, „gewalttätiger Polizeistaat“) schwänzt, den Unterricht verweigert und während ihrer so gewonnenen Zeit im Wiener Bezirk Währing herumstreicht wie eine junge, moderne Vagabundin.

Dabei sind die Verhältnisse in ihrer Familie im Grunde, wenn man von einigen Makeln absieht, geordnet: Vater und Mutter leben getrennt und der Vater lässt sich kaum blicken. Doch die Mutter arbeitet als Krankenschwester und kümmert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten darum, dass ihre Tochter die Matura schafft, selbst wenn sie als alleinerziehende berufstätige Frau zunehmend von der rebellierenden Haltung ihrer Tochter überfordert ist und diese in einer Art Laissez-faire immer mehr gewähren lässt. Großeltern oder andere enge Verwandte kommen in dem kleinen Währinger Familienkosmos nicht vor.

Die Jugend der Protagonistin spielt sich im Laufe dieses autofiktionalen Romans an wechselnden Schauplätzen ab – in den „Beisl“ genannten Kneipen, in Wiener Parks, in Privatwohnungen, vor Clubs –, die alle gemeinsam haben, dass dort bereitwillig geraucht, gekifft und Alkohol getrunken wird. Mit dabei ist meist ihre beste Freundin Sarah, die allerdings im Gegensatz zur Erzählerin in der Schule weiterhin fleißig mitarbeitet und letztlich auch ihre Matura besteht, obwohl sie gleichzeitig von ihrem Freund Peter schwanger ist. Mit der Zeit bildet sich eine Gruppe von recht bunt zusammengewürfelten Freunden, die sich regelmäßig treffen und zu denen je nach Zeit und Laune einzelne Personen dazu stoßen und diese meist schnell auch wieder verlassen – Obdachlose, psychisch Kranke, Freaks, Drogensüchtige, Punks, in der Stadt bekannte Herumtreiber, einmal sogar zwei Nazis.

Zuerst streifen die Erzählerin und ihre Freundin durch die Kneipen des Bezirks wie das „Joe’s“ oder das „Café Stadtbahn“ und analysieren die Gesellschaft, die Schule und ihre Probleme. Auch im Türkenschanzpark treffen sie sich am Nachmittag regelmäßig mit einer Gruppe. Während für die Protagonistin die Schule immer mehr zur Last wird, versucht Sarah, ihr durch Mitschriften zu helfen. Die Erzählerin möchte vor allem zeichnen – dies tut sie auch während des Unterrichts, worüber die Lehrer sich beschweren. Über sich selbst sagt sie, dass sie bereits sechs Jahre Zeit hatte, sich den Ruf an dem humanistischen Gymnasium, auf das sie geht, zu verderben.

Im Beisl lernen die beiden auch Michael kennen, der „Aids Michl“ genannt wird, weil er HIV-positiv ist. Mit seinen lustigen Aphorismen, seiner verschmitzten Art und seinen ausgefallenen Witzen bringt er die jugendlichen Mädchen auf seine Seite – und sie freunden sich mit ihm an. Nachdem sie einmal mit zu ihm nach Hause gegangen sind, in eine relativ große, spartanisch eingerichtete Wohnung, treffen sie sich von da an immer bei „Michi“ zuhause. Jeden Nachmittag kommt eine Gruppe von Stammgästen in Michaels Wohnung, um zu reden, zu trinken, zu rauchen und um sich die Zeit zu vertreiben, denn angesichts der Macken und Ecken und Kanten, die so mancher der Freunde mitbringt, wird es dort selten langweilig.

Michael, der hin und wieder in der Psychiatrie untergebracht wird, um wieder auf die Beine zu kommen, hat trotz aller guter Laune auch seine traurigen Tage, während sich manch anderer Gast scheinbar permanent in Hochstimmung befindet. Die beiden Mädchen nehmen die oft außergewöhnlichen Leute, die sie bei Michi treffen, so hin, wie sie sind – eine sehr angenehme Art, mit Menschen umzugehen, von der man sich etwas abschauen kann.

Der vorherrschende Tonfall in „Dicht“ ist der der heiter-humorvollen Ironie und des Unernsts, ohne dass den Dingen dadurch ihre Bedeutung genommen wird, weil alles als ironisch aufzufassen ist. Müsste man ein Sinnbild für die Erzählerin und ihre Freundesclique wählen, wäre es wohl ein herumreisender Hofnarr der Heutezeit, der die Gesellschaft durchschaut hat, in der er lebt, oder der nie erwachsen werdende WG-Bewohner, der von einer Party zur nächsten zieht und sein Studium schleifen lässt.

Das alles ändert nichts daran, dass auch ernste Themen wie Schulabbruch, Depression, Schizophrenie, Psychiatrie, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit zur Sprache kommen, allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger und ohne jeglichen didaktischen Impetus. Die selbstverständliche Thematisierung psychischer Krankheiten in diesem Roman vermag dem Thema vielleicht ein wenig seinen Schrecken zu nehmen und zur Normalisierung dieser Erkrankungen beizutragen. Dass dennoch Drogen so präsent sind, kann man zumindest fragwürdig finden; immerhin kann auch das hier allgegenwärtige Cannabis, das die Erzählerin und ihre Freundin in zwielichtigen Kneipen erwerben, Psychosen auslösen. Als die Hauptfigur nach einem missglückten LSD-Trip beim Kiffen jedesmal doppelt sieht und andere Nebenwirkungen hat, gibt sie die weiche Droge allerdings auf und verlegt sich auf den Alkoholkonsum.

Eine witzige Nebenhandlung ist auch der Versuch der beiden Freundinnen, sich als Umweltaktivistinnen zu betätigen. Durch eine Greenpeace-Broschüre werden sie auf die Umweltbewegung aufmerksam und möchten in den Ferien zu einem Jugendumweltcamp in den Niederlanden fahren. Da sie die politischen Workshops dort langweilen, vergnügen sie sich lieber in dem dem Campingplatz benachbarten Freizeitpark mit Attraktionen und Popcorn. Und bei einem Ausflug nach Amsterdam ziehen sie trotz aller Verbote solange von einem Coffeeshop zum nächsten, bis sie etwas Gras erhalten.

Allgemein verkommt jede politische Tätigkeit, jede Art von versuchtem politischen Engagement bei Sargnagel rasch zur Karikatur und zur Quelle von Langeweile. Ist dies Ausdruck eines Glaubens daran, dass man in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft ohnehin durch das Tätigwerden Einzelner kaum noch etwas verändern kann? Oder ist es nur eine weitere Ausgestaltung der Spaß- und Konsumgesellschaft, bei der selbst politisches Engagement nicht öde sein darf, wenn man die Leute bei Laune halten möchte?

Was die Protagonistin und ihre Freundin anbelangt, scheint der zur Schau getragene Wille zu Weltveränderung letztlich eine ephemere Teenie-Attitüde zu sein. Bei Sarah weicht die Rebellen-Haltung bald der Mutterschaft und der Zufriedenheit als Mutter und Partnerin. Der Erzählerin hingegen sind ihre Kunst, ihre Freunde und ein angenehmer Zeitvertreib wichtiger. Die Kunst ist es schließlich auch, die die Protagonistin darüber hinwegrettet, dass sie ihre Matura nicht bestanden hat. Am Ende bewirbt sich die Erzählerin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und findet sogar einen Partner. Michi sitzt indessen am Ende seines Lebens zwar im Rollstuhl, lässt sich aber seinen Hang zur Freude nicht nehmen.

Das Werk „Dicht“ ist Michi (1963-2014) gewidmet, dessen Portrait am Ende des Textes abgebildet ist. Außerdem erfährt man, dass eine Gruppe seiner alten Freunde bei seiner Beerdigung ein Lied des von ihm geliebten Georg Kreisler gesungen hat, nämlich „Das Beste“.

Der Debütroman von Stefanie Sargnagel ist insgesamt ein gelungenes Stück Literatur, das eindeutig nicht mehr als gute Unterhaltungsliteratur sein möchte. Wenn man nur dies davon erwartet – einen unterhaltsamen, mitunter leicht provokanten Text –, wird man damit einige vergnügliche Stunden verbringen. Die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, wie der Untertitel lautet, sind allerdings nicht nur von einer fiktiven Erzählerin aufgezeichnet, sondern bisweilen auch etwas überzeichnet. Kaum vorstellbar ist es, dass eine Schülerin im Teenageralter mit erwachsenen (oder auch nicht immer ganz erwachsenen) Freunden derart unbekümmert Alkohol und Drogen konsumiert, den Tag verstreichen lässt und davon nicht von ihren Eltern abgehalten wird.

Doch diese Übertreibung darf nicht verwundern. Schließlich ist Stefanie Sargnagel für die direkte, auch provokante Art zum Beispiel ihrer Facebook-Einträge bekannt geworden. Sargnagel ist Mitglied der Burschenschaft Hysteria, die durch Aktionen beim Wiener Opernball auf sich aufmerksam machte. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Cartoonistin. 2016 erhielt sie den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis.


„Dicht“ von Stefanie Sargnagel erschien im Oktober 2020 im Rowohlt Verlag und hat 256 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Wut, Sex, Tod, Erwartungen und Humor. Jovana Reisinger im Interview

Jovana Reisinger hat einen neuen Roman veröffentlicht. Und unter vielen Gesichtspunkten ist dieser ganz anders geworden als ihr Debüt „Still halten“ von 2017. Dennoch haben beide Texte eine gemeinsame Wucht und prügeln auf Rollenbilder und ihre Protagonist٭innen ein. Erneut ist ihr ein intensiver Roman gelungen, der gleichzeitig erdrückt, dabei aber nicht vergisst, kurzweilig zu sein und zu unterhalten. Warum aber hat sie ihn „Spitzenreiterinnen“ genannt? Und wieso heißen die Frauen darin wie Zeitschriften? Welche Rolle spielen Männer? Worum geht es überhaupt? Gute Fragen, noch bessere Antworten.

Spoiler-Hinweis: am besten erst den Roman lesen, dann das Interview.

Worum geht es in „Spitzenreiterinnen“?

Es geht um Frauen, die nach Frauenzeitschriften benannt sind. Und um Rollenzuschreibungen, Klischees und Stereotype. Auch behandelt er Gewalt – in jeglicher Hinsicht –, Diskriminierungserfahrungen, Sexismus und neoliberale Leistungsversprechen. Jetzt hab ich viele Schlagwörter rausgeballert.

Wie bist du darauf gekommen, die Protagonistinnen nach Frauenzeitschriften zu benennen?

So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich finde das Medium Frauenzeitschrift sehr spannend, weil es einen großen Raum einnimmt. Nicht unbedingt in meinem Leben, aber generell verfügen sie über Reichweite, Macht und Geschichte.

Für Männer gibt es weniger Magazine, an denen man sich als Teenager orientieren kann. Widersprich mir gern, aber ich glaube nicht, dass man in der gleichen Form in Magazinen Hilfe suchte. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, was in meiner Jugend zum Thema Sex in diesen Magazinen stand: Hier sind die fünf Supertipps, mit den Stellungen wird er wahnsinnig nach dir, so wirst du zur Blowjob-Queen. Es ging darum, den Mann zu befriedigen und überhaupt nicht darum, für sich ein Frausein zu erkennen und zu entwickeln. Es ging immer um die Frage: Was muss ich machen, damit man mich akzeptiert und anerkennt?

Ich fand spannend, mich Jahre später wieder mit diesen Zeitschriften auseinanderzusetzen und da entstand die Idee, einen Ensemble-Roman zu schreiben – mit gleichberechtigten Charakteren und Protagonistinnen. Der nächste Schritt war dann einfach, diese nach den Magazinen zu benennen, und sich gleichzeitig auf die Themen zu stürzen, die darin behandelt werden. Beauty, Fashion, Sex. Laura und Lisa haben ja zum Beispiel immer ganz viele Tipps und Tricks in ihren Kapiteln.

„Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind.“

Jovana Reisinger

Es ging also darum, die Rollenmodelle der Zeitschriften zu hinterfragen?

Nicht nur die der Zeitschriften. Der Gesellschaft. Aber ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich sie mit diesen Namen besetze. In meinem ersten Roman, du hast ihn ja gelesen, hat die Protagonistin keine charakterisierenden Beschreibungen. Man weiß nicht wirklich, wie alt sie ist usw. Das ist hier wieder so: Ganz selten kommt ein Alter vor, stattdessen Beschreibungen wie: „Sie ist Rentnerin und Witwe.“ Das verankert sie natürlich irgendwo, aber es wird nie beschrieben, wie sie aussehen, sondern sie sind alle irgendwie da.

Nirgends steht, was für Haarfarben, Haarstrukturen, Hautfarben oder Körpergrößen sie haben. Ich glaube trotzdem, wenn man dann aber die Frauenzeitschriften vor Augen hat und an die Frauen denkt, die einen von den Covern aus anlächeln, hat man eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnten. Ich hab mich gefragt, was das mit den Leser٭innen macht? Stellt man sie sich jetzt alle weiß, blond und blauäugig vor? Zu den Magazinen würde es passen. Aber vielleicht reflektiert man beim Lesen diesen Rückgriff und stellt sie sich dann ganz anders vor.

Für einen Capriccio-Beitrag hatte die Redakteurin alle Frauenzeitschriften gekauft, die im Buch vorkommen, und auf jedem Cover war eine weiße, dürre, blonde Frau mit blauen Augen. Die einzige Woman of Color war auf der Vogue.

Besonders kritisch stehen die Hauptfiguren ihren Rollen ja gar nicht gegenüber, oder?

Nein, die haben ja auch gar keine Zeit. Sie ackern und versuchen, ihr Leben hinzukriegen.

Kann es sein, dass sie alle vorgezeichnete Wege ausprobieren, dabei aber Schwierigkeiten haben, glücklich zu werden?

Ja, auch. Besonders die zwei Freundinnen Verena und Laura glauben, dass es einen vorgezeichneten Weg gibt, ein Frauen-Game, in dem man bestimmte Etappen gewinnen muss: guter Job, Macker, Ehe, Vermögen. Mit denen konnte ich natürlich gut den Konkurrenzkampf aufzeigen, der manchmal zwischen Frauen herrscht. 

Laura lädt ein Foto von ihrem Ringfinger bei Instagram hoch. Die Likes prasseln darauf wie ein Unwetter. Verena aktualisiert ihr Tinder-Profil.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Was würdest du sagen, wer von beiden den Wettkampf entscheidet?

Das kommt auf die Perspektive an. Ich hätte lieber die Villa, die Verena erbt, als Lauras Typen.

Es ist schon generell in dem Roman so, dass Figuren von Todesfällen eher profitieren als daran zu zerbrechen, oder?

Findest du? Ja, vielleicht hast du recht, es sterben einige. Und ich meine, für Barbara ist es auch super, dass ihr Mann stirbt und auch, dass weitere Personen sterben. So kommt sie ja auch an ihren Hund.

 

Findest du eigentlich selbst manchmal, dass deine Texte ein bisschen zynisch sind?

Zynisch find ich besser als ironisch. Das möchte ich nämlich auf gar keinen Fall sein. Ironie in der Kunst ist ein billiges Mittel.  Aber wenn man ein Kunstwerk herausgibt, hat man ja schon selbst gar keine Macht mehr über die Rezeption. Das Buch ist draußen, wenn jemand sagt, es ist ironisch, dann ist es für diese Person so. Für mich ist es am Ende aber wirklich eher zynisch. Und es ist auf jeden Fall gemein und boshaft. Aber so ist es halt auch.

 

Du meinst, das Leben ist auch so?

Ja. Als der Text noch im Entstehen war, ist mich eine Förderreferentin harsch angegangen. Sie hat gesagt, so einen Text braucht man nicht, der sei zu rough, das sei nicht der Feminismus, den wir jetzt benötigen. Was wir bräuchten, sei ein Happy End. Ich hab ihr gesagt, es gibt für uns jetzt auch kein Happy End. Ich geh hier ja jetzt nicht raus und bekomm ein Happy End serviert. 

Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus.“

Jovana Reisinger

Trotzdem suchen deine Protagonistinnen ja nach Happy Ends. In der Einleitung zum Beispiel steht der Satz: „Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen, dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens.“ – Warum schreibst du sowas?

Für Laura, genauso für Verena, ist der Höhepunkt ihres Lebens, sich einen guten Macker zu angeln. Wie eben im klassischen Rollenverständnis. Die sichere Ehe als ein Ideal. Aber dass die Ehe auch in jeglicher Form total unsicher sein kann, ob Gewalt, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Scheidung, spielt in der klassischen Theorie überhaupt keine Rolle. Als wäre Ehefrau und Mutter die einzige Bestimmung.

Am Samstag vor zwei Wochen gab es in München eine Demo mit Abtreibungsgegner٭innen, die zum Teil Schilder mit Slogans wie: „Mutter werden, mehr Frau sein geht nicht“ trugen. Klare Rollenbilder. Ich bin in einer Bubble, in der man glaubt, sowas findet nicht mehr statt und hat keine Realität mehr. Aber da standen 900 Leute, die das Gegenteil behauptet haben. 

In deinem Buch kommt ja auch eine Demo vor.

Ja, die klassische 8.-März-Demo. Mit wütenden Männern, die etwas sagen wie „Frauen sind doch schon überall an der Macht. Jetzt wollen sie auch noch Gratis-Tampons – wie unfair.“

Was glaubst du, warum auch in der Realität viele Menschen unterschreiben würden, dass eine Hochzeit der Höhepunkt weiblichen Lebens ist?

Das kann ich nicht sagen, ich bin ja keine Soziologin. Aber wenn das für die so ist, ist das ja auch toll. Im Feminismus muss es wichtig sein, dass dies freie Entscheidungen sind. Genauso wie zum Beispiel sexuelle Identitätspolitik. Dazu gehören auch Schwangerschaftsabbrüche. Wenn ich heirate, ist es auch meine Entscheidung. Auch, ob ich den Namen annehme. Trotzdem muss man meiner Meinung nach diese Rollen und was mit ihnen einhergeht, zumindest einmal durchdenken. Warum macht man es, warum kommt es so selbstverständlich daher? Warum wird es nicht hinterfragt – auch persönlich? Warum denkt man, etwas ist das Ziel? Und das Ziel von was überhaupt? Genauso ist es für mich beim Thema Schönheit: Ist doch egal, ob eine Frau sich die Brüste machen lässt oder nicht. Wenn sie’s machen will, ist alles gut.

Stimmt. In dem Roman gibt es immer wieder losgelöste Absätze Themen wie „Solidarität unter Frauen“, „weibliche Lust“, „Karrierefrauen“, „Haare“. Was hat es damit auf sich?

Das sind Sonderkapitel. Eine Figur, die es jetzt am Ende im Buch nicht mehr gibt, trug immer Powersuits. Es gab bei ihr einen längeren Abschnitt, in dem ich mich mit Hosenanzügen und dem Styling fürs Büro beschäftigt habe. Ich hab dann nach längerer Zeit festgestellt, dass die Figur für den Roman keinen Sinn macht, aber ich hing so an diesem Abschnitt. So entstand die Idee für diese Sonderkapitel, die auf jeden Fall inspiriert von diesen Frauen-Zeitschriften sind. 

Einiges, Haare und Haut, kommt ja direkt aus dem Beauty-Bereich, genau wie die Karrierefrau mit ihren Modetipps. Ich hatte hier das Gefühl, ich kann nochmal eine andere Sprache anwenden – fast wie für ein neutrales Medium, ein Nachschlagewerk. Aber es bietet natürlich auch die Möglichkeit, auf Gemeinheiten hinzuweisen wie den realen Fall, dass eine Frau entlassen wurde, weil sie zu sexy war. Dass das Gericht ihrem Chef recht gegeben und geurteilt hat, das sei gefährlich für seine Ehe und dass er diese Frau entlassen dürfe, ist doch spektakulär. Ich mochte, dass die Sonderkapitel so überraschend daherkommen, weil sie nicht im Inhaltsverzeichnis stehen.

Im ersten Sonderkapitel schreibst du, warum Frauen sich nicht als „Mädels” bezeichnen sollten. Dazu gab es bei postmondän auch schonmal einen Text. Warum sollten sie das aus deiner Sicht nicht tun?

Ich persönlich hasse es einfach, als „Mädels“ bezeichnet zu werden. Wenn ich mit einer Gruppe Frauen zusammen bin und wir sind die „Mädels“, die einen Mädelsabend machen, ist mir das viel zu niedlich, zu lieblich und harmlos. Was soll das? Und Jungs treffen sich dann zum Jungsabend? Sind wir jetzt alle wieder Kids? Es gab eine Zeit, in der ganz viele Produkte im Supermarkt so gebrandet wurden. Auf Prosecco-Flaschen stand dann in Rosa „Für den Mädelsabend“.

Und wieso heißt der Roman eigentlich „Spitzenreiterinnen“?

Die Idee hatte ich auch beim Konzipieren, was eine zweijährige Phase war: Ich glaube, ich habe eine Werbung gehört mit einem Solgan wie „Die Spitzenreiter der Charts“  oder „Spitzenreiter im Sport“. Mir ist dabei aufgefallen, erstens, was für ein tolles, klanghaftes Wort das ist, und zweitens, dass es aber weder „Spitzenreiter٭innen“ noch „Spitzenreiterinnen“ gibt. 

Ich hab mich erinnert, dass ich als Kind, wenn nachts Dauerwerbesendungen zur Schlager-Compilations im Fernsehen liefen, immer schon faszinierend fand, dass es diesen rein männlichen Begriff gibt. Das ist ja ein toller Superlativ, aber man benutzt ihn eigentlich auch nie, außer eben im Sport.

Neulich erzählte mir eine Buchhändlerin, dass bei ihr mein Buch jeden Tag gekauft wird, immer von Männern, und sie sich das Buch ganz lang nicht genauer angeschaut hat, weil sie dachte, das wär ein Buch über Sport oder antifeministischer Scheiß. Sie hat es sich dann irgendwann mal durchgelesen, und mich dann auch gleich zum Signieren eingeladen. Eine wahnsinnig lustige Frau. Spitzenreiterinnen – ein Sport-Roman.

Wäre eigentlich auch ein guter Name für Frauenzeitschriften, oder?

Ja, er klingt dann aber gleich wieder so nach Executive Chick, nach Managerinnen …

Ja stimmt, nach „Powerfrauen“. Das ist ja auch so eine ähnliche Kategorie wie der Begriff „Mädels“, oder?

Richtig schwierig. „Starke Frauen“ ist genau so eine Hass-Kategorie von mir wie „Mädels“.

„Power, also Macht, wird durch Powersuits, Powerfarben und Powerhandtaschen demonstriert. Mode als Power-Tool.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Anderes Thema: Dein Debütroman „Still halten“ hat sich ja stark mit der Innenperspektive einer Figur beschäftigt, die an ihrer Umwelt zerbricht. „Spitzenreiterinnen“ konzentriert sich eher auf Außenperspektiven, auf Frauen in ihren Umfeldern. Was ist dir beim Schreiben leichter gefallen?

Der Schreibstil bei „Still halten“ war auch deswegen anders, weil ich versucht habe, über Form und Sprache dem Inhalt eine andere Ebene zu geben, und die Leser٭innen genau so verrückt zu machen wie die Protagonistin, sie in den Wahnsinn zu treiben. Das hat die Erzählerin zu einer unzuverlässigen Begleiterin gemacht. Bei Spitzenreiterinnen ist es leser٭innenfreundlicher. Es gibt ja immer diese kurzen Episoden, alles ist sehr beschreibend, immer mit einer Draufsicht. Auch dadurch, dass es hin und wieder diese kommentierende Erzählerin gibt, hat es eine ganz andere Perspektive. 

Ich würde aber sagen, dass sich rein sprachlich nicht so viel verändert hat, weil beide Sprachen relativ hart sind – das ist zumindest mein Anspruch –, gnadenlos und schonungslos. Was leichter zu schreiben ist, kann ich nicht beantworten, denn in beiden Büchern steckt viel Vorbereitung und eine lange Schreibzeit. In „Still halten“ nochmal wesentlich mehr, zwei Jahre länger, aber die Form, die „Spitzenreiterinnen“ jetzt angenommen hat, entspricht der Sprache, die ich jetzt gerade schreiben möchte.

Bei „Still halten“ gab es ja auch interessante Figuren, zum Beispiel den Förster: ein konservativer Gegenpart zur Protagonistin. Ich hatte das Gefühl, dass du ihm im Roman, trotz seines verschrobenen Verhaltens und Denkens, immer noch viel Liebe entgegenbringst. Kann es sein, dass dir diese Liebe in den Beschreibungen von Männern bei „Spitzenreiterinnen“ abhanden gekommen ist?

Das würde ich jetzt nicht sagen. Lisa hat ja am Ende einen Super Date mit einem Supertypen. Es kommen auch coole, nette, anständige, aufgeklärte Männer vor, die haben aber nicht so viel Platz. Deswegen werden sie auch ein bisschen überlesen.

Männer haben im Roman aber keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben.

Genau. Die Männer sind durch ihre Taten sowieso präsent genug. Dadurch, dass ich mich auf die Gemeinheiten im Leben von Frauen gestürzt habe, Sexismus, häusliche Gewalt, brauchten diese Männer dann auch gewisse antagonistische Kräfte, und nicht noch mehr Identifikationsmöglichkeit.

Dementsprechend haben die keine richtigen Namen. Wonach hätte ich sie denn auch benennen sollen. Wenn ich meiner dramaturgischen Entscheidung treu bleibe, wonach alle Frauen nach Frauenzeitschriften benannt sind, wie soll ich denn die Männer benennen? Ich kann sie ja nicht „Beef“, „GQ“ und „11 Freunde“  nennen.

Komisch eigentlich, dass Männer-Lifestyle-Magazine nicht auch wie Männernamen heißen, oder?

Genau, die sind eher so nach Dingen benannt. „Beef“ sagt ganz klar, dass „Männer“ anders essen. Ich weiß nicht, was das soll. Und der Planet geht mit dem Fleischkonsum zugrunde. Aber egal. Hier ist dein Steak. In einer Rezension wurde mir vorgeworfen, ich hätte mich als Männerhasserin geoutet – der schlimmsten Form des Feminismus. Ich möchte hiermit sagen, ich bin keine Männerhasserin. Ich versteh auch nicht, wie man das herauslesen kann, aber es ist schon in Ordnung. Ich hab das Gefühl, es geht halt einfach eher um die Frauen. Und es darf auch einfach mal nur um die Frauen gehen. Und die Männer sind einfach Nebendarsteller. Ist doch auch okay.

In vielen Büchern ist es ja andersherum.

Eben, ist doch die ganze Zeit andersherum.

Männer können sich in deinem Roman relativ viel erlauben, kommen bspw. mit häuslicher Gewalt ungestraft davon. Die Frauen haben aber bei kleinsten Abweichungen mit starkem Widerstand zu kämpfen. Wie viel Wut steckt in diesen Beschreibungen?

Wut ist definitiv ein Motor für mich ist. Nicht der einzige, aber ein sehr starker. Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind. Ich denke dann jeweils weiter, was passen würde. Bei häuslicher Gewalt zum Beispiel: Es ist extrem kompliziert, aus so einer Beziehung wieder herauszukommen. Und es ist unfassbar anstrengend, vor allem wenn Kinder oder wirtschaftliche Abhängigkeiten im Spiel sind. 

Wie mit Tina umgegangen wird, ist für viele Frauen Realität. Dementsprechend war es mir auch so wichtig, ihr Hadern zu erzählen. Ganz oft sind Erzählungen so: „Er hat mich einmal geschlagen und dann bin ich gegangen. Ich geh als starke Frau heraus und mir kann sowas nie passieren.“  Klar, so etwas gibt es auch und es ist super, wenn das klappt. Aber wenn Abhängigkeiten geschaffen und festgezurrt sind, ist es viel schwieriger, wieder herauszukommen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, diesen Mann zu verlassen und zu verraten. In ihren Augen ist sie ja auch so schon schuldig. Sie sagt, eigentlich müsste sie sterben, weil sie so eine schlechte Mama ist. Weder hat sie geschafft, ihre Kinder zu retten, noch ihre Ehe. Es ist wahnsinnig kompliziert, aus solchen Beziehungen herauszukommen. 

Ich wollte ihr Handeln weder bewerten oder verurteilen, sondern den einzelnen Storys Raum bieten, um nachvollziehbar zu machen, wie kompliziert und anstrengend das ist – alleine, zu so einer Beratungsstelle zu gehen und immer wieder diese Geschichte zu erzählen. Man wird immer wieder fotografiert, wenn man nach solchen Übergriffen zum Arzt geht. Die Fotos landen dann in einer Akte. Selbst wenn man schon mehrfach der Polizei gesagt hat, dass der Ex-Freund oder Ex-Mann oder wer auch immer einen attackiert, und ihm ein Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, kann er ja trotzdem lauern und dich attackieren. 

Alles ist wahnsinnig anstrengend und kompliziert. Gleichzeitig ist es intensiv für weibliche Opfer häuslicher Gewalt – natürlich auch männliche, auch wenn das ein viel kleinerer Teil ist. Beratungsstellen sind unterbesetzt, man wird ins Frauenhaus gebracht. Warum überhaupt? Wieso wird das Opfer irgendwo hingebracht und nicht der Täter mitgenommen?

Du versuchst also eigentlich schon, etwas einfach so abzubilden, wie es ist?

Ich versuche die Wut in etwas anderes zu transportieren. Das versuche ich in meinen filmischen Arbeiten genauso. Eigentlich ist meine Herangehensweise Humor und Überstilisierung, also Übertreibung. Bei der Szene mit Lisa, in der im Restaurant Austern herumfliegen, wäre ich gern dabei gewesen. Ich find’s auch super, Barbara zu sehen, die auf ihrer Terrasse sitzt und sich so gerne fürchten möchte, weil nichts passiert und ihr so langweilig ist. 

Ihr Mann ist tot, sie ist Rentnerin, sie weiß nicht, was sie machen soll. Als Katalysator sucht sie sich die Angst aus und plötzlich kommt ein Hund dahergelaufen. Und zur Wut: Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus. Jetzt zum Beispiel bin ich total friedlich. Ich bin gar nicht mehr wütend.

Was würdest du sagen, welche deiner Protagonistinnen am glücklichsten ist?

Das weiß ich nicht. Ich hoffe, am Ende sind sie alle glücklich. Nach welchen Parametern soll man Glück auch bemessen? Ich versuche sie ja eben nicht zu bewerten. Manche Lebensentscheidungen treffen eher auf meine Identität zu, aber ich find’s auch völlig okay, wenn sie andere Entscheidungen treffen.

Du hast dich beim Schreiben aber ja in alle hineinversetzt.

Ja, und ich liebe sie. Es hat Spaß gemacht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber ich würde sagen, am Ende sind alle glücklich. Nur bei Tina ist es in bisschen gemein, mit dem offenen Ende. Aber Petra und Brigitte sind madly in love. Das ist doch mega schön. Jolie hat sich für ein Kind entschieden, das sie allein großziehen will. Verena hat eine geile Hütte. Barbara ist im Urlaub, bekommt ihren toten Mann endlich aus ihrem Kopf heraus. Er spricht nicht mehr mit ihr, was ja bestimmt auch ein bisschen anstrengend war. Lisa hat einen neuen Lover und einen geilen Job. Und sie lernt ihre neue Mitarbeiterin kennen, die auch irgendwie cool ist. Laura ist aufgeräumt, hat genau bekommen, was sie wollte. Ich würde unterm Strich sagen, Happy End für alle.

Letzte Frage: Mit wem von ihnen würdest du gerne tauschen?

Ich glaub, ich könnte mir vorstellen, mal in jede hineinzuschlüpfen. Selbst in Tina, die auch einfach eine absurde Stärke hat. Aber ganz tauschen, weiß ich nicht. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben. Guck mal, ich bin in einer totalen Luxusposition, sitze zu Hause und bekomme Interviewfragen gestellt. Ich liebe es.

Das ist ja auch was. Vielen Dank für das Interview.


„Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger erschien im Verbrecher Verlag, dem wir an dieser Stelle herzlich zum 25. Geburtstag gratulieren. Der Roman hat 264 Seiten.

doors&beingruen@mayroecker.@

DÖBLING’s BLUDENZ PNEUplatzt
LULUHONIGBrATZEN
FUCKARzT AUFKLAUBENd

[Friederikollage]

Friederike „Unstern über Wien”[1] Mayröckers ωte Makulatour de Force als Volljährige Kunstschrulle avantgärtnert sich mit schlichten Strichninkrüppelchen + Feststelltaste unterm Arm durchs Grusel-Ich zu bewerben, weckt womöglich Neugier. Doch die 200 Seiten starke Promotionsschrift zum Thema „Suadomasochismus“ ist eine eher schwächelnde Verklumpung von im Rahmen endloser Nabelschau gewonnenen Pulmäusen, deren Künstlernamen das lyrische (wortsp)I(el) dropt wie Netflix True-Crime-Shows.


„Althing“, wie die Grande Made des Wirrsals von Erbelke genannt wird, entfuhr im Café Sperl, inzwischen Deutschlands keinstes Endlager für Mottenfallen, jenes Quantum, mit dem sie fast zeitgleich das Einlaufen lernte. Doch schert sich Wunderschräubchen, im Gegensatz zu ihrer Namensvettelin Ingrischlotte, nen zitznassen Raptus um Wurmlöcher, da sie nun mal in die KUNST verknallt ist und hier dement-sprechend so einige Buchstabierflaschen, Malermeister oder Straßenmusiker durchästimiert kriegt. Am meisten steht das von Schmelzhure Zeit angesägte Tantchen allerdings auf deutschen Jugendjargon mit seinen Gabelstaplerfrühstückchen, Gurgeldingers und Klaubuntspechten. Die eine oder andere Lieblichkeit = allerliebst angekuckt! wie Kuckuck = mag das eine oder andere geistreich schmunzelnde Gespenst hinterm Spamofen hervorlocken, zugleich ist die so banan besungene „Sprachverspieltheit“ (vgl. Das Geheimnis dieses neugierig machenden Textes, ein Zwischending aus Ort und Zeit, lässt immer wieder aufhorchen. Das Schreiben am Morgen in seinem überaus fruchtbaren Zusammenspiel mit elegischen Blicken aus der Luke ist die Morgentoilette der Künstlerin und Intellektuellen. Durch eigenwillige Komma- und Beistrichsetzung beschwört die Autorin einen Ort der Träume und damit zugleich ein poetisches Programm herauf, das unbeirrbar Höhepunkte auslotet und um die Bedeutsamkeit des Neugierigwerdens – und -bleibens! –  weiß. Obwoolst ein grauer Schleier des Wenig-Tröstlichen sich über die Sollbruchstelle legt, arbeitet sich die Autorin im Rausch der Kaffeehäuser an jenem unbändigen Wechsel zwischen Lyrik und Prosa, Sub und Optimum ab, der mal als literarischer Lackmustest, mal als moralinverseuchtes Fanal Sollbruchstellen im Konjunktiv aufzeigt. Dabei eröffnet das Spracheffluvium einen Wahrnehmungsraum voller Mosaikschnappschüsse, eine geheimnisvolle Landschaft im poetischen Konjunktiv. Insofern haftet der Liebeserklärung an die Sprache etwas Hommage an – doch kann das funktionieren? Man darf jedenfails auf das nächste Buch gespannt sein – und darauf, wie es der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlägt.) derart abkotzig, dass nicht einmal die Aufzählbarkeit von Eigenschaften den dazugehörigen Text veredelt. Ermüdend onanzephale Intellektuellenlängen, die Kunst so viel weniger voranbringen als etwa die von ihr erwähnten Suigeneratoren Beckett oder Schwitters, demontieren einmal mehr Belesenheit, die viel eher Zitier- als Zitierfähigkeit zur Folge hat. Selbst wenn Bildung sicherstellt, dass Salmonellen keine Fische sind und gegen Blutkruste am Mäulchen in 08 von 15 Fällen dnepropetrollhaltige Salben helfen, ist das noch lange kein Grund, zwischen zwei Suhrkamp-Deckel zu keulen. Musensöhne auf Psychonatrium müssen nun mal nicht über jede Noch-so-Umbuschigkeit abbeichten. Zumal Derrida-Fans beim Gamen zuzusehen bisweilen (durch verkapptes Mitleid mit Lutzleichen und vergleichbaren Kawaiitäten charakterisierte) Niedlichkeitsgefilde erschließt, in denen Tandoorian Chicken mit Dekompression und Tod reüssierte – doch kann das funktionieren?

Die draisingende Kultschabracke, deren Metal-Ümlaut leider nicht über logorrhoische Anämie hinwegzutrösten vermag, streamt ihr Conschissness bequem in die heimischen vier Augén, welche wie ein Päckchen Cojones unterm Sacktuch hervorfunkeln und sich, ganz analog zu Licht, mittels Welle-Genital-Dualismus fortpflanzen. Klar will die graphomanische Chimäre im Fichtenwäldchen durchaus noch ein Blättchen vollkritzeln, inzwischen ist es allerdings > 1 Akt, eine Treppe hinab[zu]steigen, schreibt man „dass“, da da, mit Droßßel-p und verzichtet bei einem Lamentation-Buchstabierchen (s. o.) nur unter Extrembedingungen auf „lame“. Denn ein Tag ohne Zeile ist ungefähr so, als würde die Schreibmaschine (eine Ex-Zentrifuge) losheulen, ohne die Tränen vorzuheizen.

Wem sweatshop ein Schweiszgeschäft ist, dem sind sweatpants womöglich auch US-Vize. Wer Frau Freude mit einschlägiger Ode begrüßt, sollte so konsequent sein und dem Taube seinen Kropf abkleben. Und wer den eigenen Vornamen hauptsächlich dazu nutzt, Sublämmer zu befehligen, ist nur eine Frage der Zeit, bis der erste klonende Mumienwurm das Spülicht der Welt erblökt. Jedenfalls muss es schon reichlich spät sein, wenn die Uhr 15er-Potenzen anzeigt und herauskatapultierbare Kausalitätskaskaden „Baum : Knospenkunst = Mensch : Knorpelkunst“ nahelegen.

Indes verzetteln sich glasierte Gürkchen in Traumata wie der am Mond deines Daumennagels […] empor. Kletterndste Verwahrloser aller Zeiten und lyrres Gewürm glotzt mit Geäug aus Enfant the Terribles Damenloch, um Multiples im Vorgarten anzutreffen: dentalsommerliche Krankheitswinde aus der Schattentüte, Deppenapostrophieh macht auch Mist & Last but not Liszt: Sobald GRAMMO‘s BETTELARM überm Rohling v.GAIA zu levitieren beginnt, wird die Baustelle Hirn! blitzschnell mit einem sog. Mäntelchen aus baumelter (Ö-Ton Partizip VIII.) KUNSTSPRACHE verhüllt und gilt von da an als eine Art Brut, die sich nur der allerschlimmste Erzhold von Messi zusammengereimt haben kann. Sich jedoch darauf einen Reim zu machen heißt unweigerlich, in Graz zu beißen.

Die – ganz im Gegensatz zu einem Femtolaserpuls – am ehesten mit Hintergrundstrahlung gleichzusetzende FM-Einheit köchelt also auch nur mit Abwasser, weshalb es statt Siedepunkten bloß wärmliche Schachtelsätze à l’ich schreibe PROEME, schreibe digital gibt. Nebenbei jandlt sich Ready-Mademoiselle durch diverse Ernstigkeitsstufen, von Depressivität über melancholerische Sinti-Mentalität bis hin zum Schwulenpärchen Ruhm & Rühm (née Tieck & Tick), wobei einem enigmatische Maiskolben mit Klomatten v. Vögelchen (inkl. Bubenfrisur) leider kaum begegnen. Stattdessen hat Dr. skrrl. Augenhitze-mit-„Hot Eis“-Gleichsetzer offenbar von Otto gemopst und sollte dringend die Tierzeitung mit vorinstallierter Wurstware – von Tieren fürs Tieren! – abonnieren.

Fazit: Obgleich hier mitunter munter verhext, eingelernt und geteufelt wird, grassiert tendenziell unendliches, b. h. einer stark apoplektischen 8 ähnliches Grindwalium, welches am Schluss als eine Überdosis fnufffnuff fossilisiert – ‘fnuff said.

Friederike Mayröckers da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete erschien am 20.07.2020 bei Bibliothek Suhrkamp. und hat 12.000 Wörter. Weitere Infos unter: novelle.wtf/mayrock-n-roll/.

[1]   Alle Zitate kursiv.

Tobias – Vom Schriftsteller zum Priester

Jakob Nolte schreibt mit „Kurzes Buch über Tobias“ einen ungewöhnlichen Roman über einen studierten Schriftsteller namens Tobias und dessen unerwartete Bekehrung zum christlichen Glauben. Außerdem erleben wir, wie Tobias mit einem anderen Mann namens Tobias zusammenlebt, der ein Kind von ihm möchte. Was an diesem vielschichtigen Text schwer zu verstehen ist, erläutert die Rezension.


Der neue Roman von Jakob Nolte ist sein dritter Roman nach „ALFF“ (Matthes & Seitz, 2015) und „Schreckliche Gewalten“ (Matthes & Seitz 2017) sowie einigen Theaterstücken. Außerdem betreibt Nolte seit 2017 zusammen mit dem Schriftsteller Leif Randt und dem Grafikdesigner Manuel Brügel die Online-Plattform Tegel Media.

„Kurzes Buch über Tobias“ behandelt in 48 Kapiteln die Geschichte des Schriftstellers Tobias Becker, der als junger Mann ein Studium in Kreativem Schreiben in Hildesheim abgeschlossen hat. Im Laufe des Buches findet der Protagonist zu seiner Berufung als Pfarrer und wirkt religiöse Wunder, indem er beispielsweise seine unzufriedene Freundin Alina in ein Kaninchen verwandelt oder als einziger Mensch ein Flugzeugunglück überlebt. Die Schriftstellerei gibt er trotz des vorhergehenden Studiums auf, obwohl er mit seinem ersten Roman „100 Jahre 43“ recht erfolgreich war. Er schreibt fortan nur noch für sich selbst. Zuletzt wird Tobias nach seiner Exkommunikation aus der evangelischen Kirche, die auf eine außer Kontrolle geratene Predigt zurückgeht, zum viel beachteten Online-Prediger auf YouTube mit zahlreichen Followern, was letztlich allerdings seinen sozialen Abstieg einleitet.

Neben dieser Haupterzählung über die titelgebende Figur des Tobias Becker gibt es noch einige weitere Erzählstränge: Da sind zum Beispiel die Erinnerungen an die WG-Mitbewohner in Hildesheim. Oder an seine Ex-Freundinnen, die sich anscheinend ziemlich rasch abwechselten, so rasch, dass man sich ihre Namen kaum merken kann. Hängen bleibt eigentlich nur Alina, seine Berliner Freundin, mit der er nach seinem Umzug nach Berlin bis zu ihrer Verwandlung in einen Hasen regelmäßig Tischtennis spielte, um sich fit zu halten.

Schließlich wäre da noch der neueste Geliebte des Protagonisten, der ebenfalls Tobias heißt, ein Mann. Doch auch diese Beziehung steht auf wackeligen Beinen, da es zwischen den beiden Verliebten in den unmöglichsten Situationen zu Streit über die Frage kommt, ob sie eine Familie mit einem Kind gründen sollen oder nicht. Tobias Beckers Freund ist dafür, Tobias selbst ist dagegen. Überhaupt haben Kinder in diesem Buch eine etwas obskure Rolle, da in einem schwer zu durchschauenden Nebenschauplatz der Erzählung kleine Kinder auf Bäume in einem dichten Wald außerhalb von Berlin klettern und darauf warten, von Personen in einen Helikopter vom Baumwipfel gerettet zu werden. Was dieser mehrmals wiederkehrende Nonsens soll, bleibt wohl ein Geheimnis des Autors und des Textes…

Bei der Vorbereitung auf ein Lektüreseminar zu Thomas Pynchons postmodernem Roman „Die Versteigerung von No. 49“ in Wien, zu welchem der Protagonist Tobias eingeladen wurde, hält er Folgendes fest: „Nun passierte bei der Lektüre etwas für Tobias völlig Unerwartetes. Er hasste den Text. Er hasste ihn sehr. Er hasste das Setting, die Sprache, die Szenen, die Themen und die Erzählhaltung des Autors. (…) Nun war es aber so, dass Tobias dieses Büchlein hasste, obwohl er theoretisch etwas damit hätte anfangen können müssen. Er hasste es aus vollem Herzen.“ Ich habe mich bei der Lektüre dieser überaus unterhaltsamen Stelle gefragt, ob dies eventuell eine metatextuelle Reflexion, d. h. eine Vorwegnahme einer möglichen Reaktion auf den vorliegenden Romantext ist.

Auch „Kurzes Buch über Tobias“ wird Leserinnen und Lesern, die postmoderne Tendenzen in der Literatur ablehnen, allerlei Anlass zu Hass und Ablehnung bieten. Denn das Buch vereint moderne und schwer verständliche Gedichte über den Zustand des Protagonisten Tobias zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens mit Aufzählungen von Trauminhalten der Hauptfigur sowie einer nach vorn und zurück springenden traditionellen personalen Erzählung, in der Biographie-, Heiligen- und Fantasy-Elemente auftauchen.

Der Roman springt wild zwischen Studien-, Liebes-, Urlaubs-Erzählung und religiöser Erweckung hin und her, was zunächst zu einiger Verwirrung führt. Die Frage, die man sich beim Lesen immer wieder stellt: Wozu das alles und wohin soll das Potpourri an mehr oder weniger verworrenen Themen und Erzählsträngen führen? Ich muss zugeben, dass ich mich mit dem Buch schwergetan habe – und erst gegen Ende ein wenig damit warm wurde, als die achronologisch erzählte Geschichte sich zu einem erkennbaren Ganzen gefügt hat.

Etwas merkwürdig an „Kurzes Buch über Tobias“ ist, dass manche Details in aller Ausführlichkeit berichtet werden. Muss man in einem Roman wirklich beschreiben, dass eine Gurke beim Kochen schräg abgeschnitten wird? Oder welche Markennamen ein Sebamed-Duschgel, eine Bifi-Wurst oder eine 0,2-Fanta-Dose haben? Mich hat diese Schein-Genauigkeit mehr genervt als amüsiert. Und falls damit irgendeine Kritik an der Langeweile und Sinnlosigkeit der kapitalistischen Existenz intendiert war, dann ist diese eher missglückt und auf Kosten der äußeren Form des Romans erzielt worden.

Auch die Tatsache, dass die Protagonisten offensichtlich ständig im Urlaub und auf Reisen sind, hat mich etwas irritiert: Wie kann sich ein Student in Kreativem Schreiben, später Schriftsteller, dessen Gehalt in diesem Roman mit einer erstaunlichen Freimütigkeit abgedruckt wird, es leisten, permanent ins europäische Ausland zu reisen, zumal mit dem Flugzeug? Natürlich kann man von Reisen mehr erzählen als von einem gewöhnlichen Alltag in Hildesheim oder Berlin, aber die Anzahl der Reisen überschreitet hier ein nachvollziehbares Maß.

Es gibt auch einige schöne Ideen in dem Roman: Z. B. bereist Tobias in seiner Freizeit Denkmale an ehemalige Führer sozialistischer Staaten. Auch die Szene in dem arabischen Imbissladen ist gelungen, in der christliche Religion und muslimische Religion aufeinandertreffen. Die Literaturszene wird vermutlich auf eine recht treffende Weise dargestellt, ist der Autor Jakob Nolte doch selbst ein Teil eben dieser und hat Szenisches Schreiben in Berlin studiert. Vom Studium in Hildesheim über die Korrespondenz mit der Literaturagentin bis hin zum Ende der Schriftstellerkarriere bekommen die Leserinnen und Leser einen Einblick in den Literaturbetrieb.

Am Schluss des Buches steht eine interessante Zufalls-Begegnung mit einer CDU-Bundestagsabgeordneten, die den inzwischen sozial abgestiegenen und obdachlosen Tobias Becker im Tischtennisclub aufliest und zu sich nach Hause einlädt, wobei schnell klar wird, dass zwischen Tobias und seinem Gegenüber wenig Sympathie besteht. Es scheint, als hätte Jakob Nolte ein Händchen für außergewöhnliche Begegnungen, Situationen und Orte, während er sich im Alltäglichen eher im Klein-Klein, Nebenschauplätzen und Fantasien verliert.

Es ist nicht ganz einfach, eine Deutung für „Kurzes Buch über Tobias“ zu finden. Ist es ein Buch über die totale Individualisierung der Lebensentwürfe? Über die kulturelle Zersplitterung der Gesellschaft und die daraus resultierende Wiederaufwertung der Religionen? Über das partielle Ende des Lebensentwurfes Heirat-Haus-Familie/Kinder in einer gewissen urbanen Schicht? Schließlich lässt sich Alina lieber in einen Hasen verwandeln, als weiter ihren familiären Pflichten nachzugehen, die sie mehr und mehr zermürben. Statt Alltag erleben wir in „Kurzes Buch über Tobias“ Ferien im Ausland, religiöse Erweckung, Wunder und Liebesbeziehungen von kurzer Dauer. Also ein Buch über Eskapismus ins Nicht-Weltliche, Nicht-Alltägliche, Transzendente?

Wahrscheinlich ist genau diese Vielschichtigkeit das Problem des Romans. Denn am liebsten möchte man am Ende noch eine Erklärung, ein Nachwort oder ein Fazit lesen, in dem die Fäden zusammengeführt werden. So aber bleibt ein fahler Nachgeschmack, als hätte man die zahlreichen Zutaten, die hier vermischt wurden – von Lyrik über Aufzählungen bis hin zu Prosa –, verschlungen, ohne sie richtig verdauen, d. h. verstehen zu können. Was man dem Buch anlasten kann, ist, zu viel zu wollen, ohne die zahlreichen Ansätze, Themen, Motive zu vereinen und auf einen sinnhaften, vernünftig deutbaren Nenner zu bringen. Sprachlich ist der Roman allerdings sehr gut geschrieben, sodass es zwar manchmal mühsam ist, sich durch den Text zu arbeiten, aber letztlich doch eine literarisch anspruchsvolle Geschichte wird.

Bei dem oben bereits genannten Literaturseminar in Wien wird der Hauptfigur Tobias auf seine vernichtenden Kritik an Pynchon hin vorgeworfen: „Für dich sind Bücher keine Wiesen mehr, man merkt es.“ Er wolle, so stellen die von Pynchon begeisterten anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer fest, wohl einen modernen Klassiker schreiben, aber man könne nur neue Bücher schreiben. Diese Passage ist zweifelsohne poetologisch zu verstehen: Jakob Noltes Roman ist eine solche „Wiese“ geworden, eine Roman-Spielwiese für all diejenigen, die sich darauf einlassen wollen.


„Kurzes Buch über Tobias“ von Jakob Nolte erschien im Februar im Suhrkamp Verlag und hat 231 Seiten.

Titelbild: © Suhrkamp Verlag

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Eurotrash – Kracht über Kracht

Sicher ist Christian Krachts neuer Roman Eurotrash nicht die Fortsetzung geworden, die man für Faserland hätte erwarten können. Das war aber irgendwie auch zu erwarten.


Was hat Eurotrash mit Faserland zu tun?

Eigenwillig, wie all seine Bücher es sind, setzt Christian Kracht nach 25 Jahren seinen Debütroman Faserland fort. Wie geht es seinem Hauptcharakter ein Vierteljahrhundert später? Wie kommt er mit den Veränderungen zurecht, die die Welt und auch die im Roman so umfassen portraitierte BRD zwischen den 90ern und 20ern durchzogen haben? Ist er heute überhaupt lebensfähig?

Auf all diese Fragen hat das Buch insgesamt gar keine Antworten. Denn Eurotrash ist eigentlich nur ein Buch über Faserland, seine Bedeutung und seinen Autor. Ein überraschend spätes „Hinter den Kulissen“ oder „Was mich bewog, dieses Buch zu schreiben“ oder genauer „Welche äußeren Umstände es mir unmöglich machten, das Buch nicht zu schreiben“. Er macht die Handlung anhand seiner Familiengeschichte nachvollziehbar, in der die Entnazifizierung nicht bei allen Beteiligten so ganz erfolgreich war, sowie anhand seiner persönlichen Biografie, die zwischen Schweizer Landjugend und Ferien in Axel Springers Sommerhaus auf Sylt wirklich die Handlungsorte von Faserland umkreist. Vor allem im ersten Teil von Eurotrash erzählt Christian Kracht aus seiner eigenen Lebensgeschichte und konzentriert sich auch auf die Unterschiede des in Faserland erzählten. Er hatte ja nie explizit behauptet, das Buch sei autobiografisch, die Lesart aber durchaus offengelassen. Eine bewusste Täuschung? Vermutlich:

„Ich hatte mich damals mit fünfundzwanzig entschlossen, einen Roman in Ichform zu schrieben, erinnerte ich mich, bei dem ich mir selbst und dem Leser vorgaukeln würde, ich käme aus gutem Hause, wäre wohlstandsverwahrlost und hätte etwas von einem autistischen Snob.“

Christian Kracht – Eurotrash

Wie Kracht zum Popstar wurde

Dass er das Buch in einer Einzimmerwohnung in Hamburg-Ottensen schrieb, vom Vermögen des Vaters selbst als Scheidungskind offenbar weniger profitierte und sich von Pizza-Baguettes, Toast und Dosenravioli ernährte, ließ er damals einfach weg. Die Info liefert er nun nach. Genauso die Info, dass sein Leben sich nach Veröffentlichung des Romans schlagartig ändern sollte. Er hatte seine Rolle, seine Berufung nicht nur gefunden, sondern eigenständig erfunden. Auch wenn den meisten schon bei der Lektüre von Faserland klar gewesen sein muss, dass hier ein Autor mit seinem Publikum spielt, liest sich sein Buch noch heute als Meilenstein deutschsprachiger Popkultur.

In Augen vieler Kritiker٭innen beendete er 2001 diese literarische Epoche dann selbstbestimmt für sich und alle anderen mit seinem zweiten Roman 1979. Zwei ebenfalls wohlstandsverwahrloste Hauptcharaktere, denen man glaubt, dass sie es sich gern in einem Poproman gemütlich gemacht hätten, lässt er die Grenzen ihrer Komfortzone erleben und erst in die Iranische Revolution, dann ein chinesisches Arbeitslager hineinstolpern („Ich war ein guter Gefangener. […] Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“). Zwei dünne Romane, die den Diskurs bis heute beschäftigen und Kracht zu einem einflussreichen Autor gemacht haben. Ein Einfluss, den er immer wieder aufs Neue schamlos ausnutzt, um zu provozieren.

Rassist oder doch Absurdist?

Sein Markenzeichen, beim Schreiben selbst immer einen Schritt zu weit zu gehen, brachte ihm zwar kein Arbeitslager ein, dafür aber den Vorwurf, rassistisch zu sein. Ein Vorwurf, für den Formulierungen seines Romans Imperium eine berechtigte Grundlage bilden und immer wieder Rezensent٭innen dazu zwingen, einen kurzen Absatz darüber einzubauen. Bitte sehr.

Dabei ist Kracht, wenn man sein Gesamtwerk betrachtet, wahrscheinlich am ehesten ein Absurdist, was auch seine Selbstdarstellung in Eurotrash unterstreicht. Nach Abschluss der biographischen Einordnung entwickelt Eurotrash sich zu einem überdrehten, aber lesenswerten Roadtrip, in dem Kracht seine Mutter auf eine letzte gemeinsame Reise ausführt. Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, besuchen Orte der gemeinsamen Vergangenheit und Bucket List der Mutter, diskutieren David Bowies Nachlass und verteilen wahllos Geld, das die Familie durch Waffen-Investionen eingenommen hat – ein absurdes Spektakel, in dem er etwas verspätet doch noch der wohlstandsverwahrloste Snob wird, der er gern immer gewesen wäre. Wobei er bei dem Versuch auch schnell wieder ins Fiktionale abrutscht.

Finger in Wunden

Sein Vater, Christian Kracht Senior, der erfolgreiche Verlagsmanager, kommt in beiden Teilen des Romans nicht sonderlich gut weg. In Erinnerungsfetzen wird er als egozentrischer Machtmensch charakterisiert, der über die Freundschaft zu Axel Springer Karriere gemacht hat, sogar Vorstandsvorsitzender von dessen Konzern wurde. Durch ihn und sein Umfeld lässt sich aber gut erzählen, wie in der jungen Bundesrepublik ehemalige Nationalsozialist٭innen Medienhäuser und Werbeagenturen gründeten. Dabei fallen auch Namen bekannter Verlagshäuser („Axel Springer“ gehört übrigens nicht dazu), die zu Zufluchtstellen wurden, und bekannter Wirtschaftswundermarken, die von denselben Personen entwickelt wurden, die vorher in Goebbels’ Propaganda-Apparat tätig gewesen waren.

Einmal mehr legt Kracht hier seine Finger in die Wunde seines deutschsprachigen Publikums, das ganz im Gegensatz zu ihm eben doch gerne verdrängt. Indem er vorführt, mit welch einer verschrobenen Familiengeschichte er sich auseinandersetzt, macht er in Eurotrash allerdings auch deutlich, dass all dies auch seine eigenen Wunden sind. Der sadistische Zyniker, den man aus all seinen Büchern herausliest, quält nicht nur seine Kritiker٭innen und Leser٭innen, sondern auch sich selbst. Dieses Geständnis markiert vielleicht die Schlüsselrolle, die Eurotrash unter seinen Büchern einnimmt und ist der Grund, warum man es unbedingt lesen sollte.

Rezensionen, Einordnungen und Kritiken zum Roman kommen schon wenige Tage nach Erscheinen von vielen Seiten. Besonders hervor sticht eine Kritik Sibylle Bergs. Vielleicht ist sie gar nicht ihm gewidmet. Wenn doch aber sehr geschickt inszeniert. Auf dem Klappentext zu Sophie Passmanns gerade erschienenem Buch Komplett Gänsehaut schreibt sie:

„Prima Buch, das ganz ohne Jugend auf dem Land, Großvater bei der Waffen-SS oder den Geruch von Pflaumenkuchen auskommt und hier und heute nicht langweilt.“

Sibylle Berg über Sophie Passmanns Komplett Gänsehaut

Eurotrash und der Zeitgeist

Auch wenn sie hier vielleicht gar nicht konkret oder zumindest nicht nur Kracht meinen sollte, sagt sie damit dennoch mehr über sein Buch aus als über den frisch gekürten Bestseller Passmanns. Ob Eurotrash nun wirklich langweilt, sei mal dahingestellt. Ein objektiver Kritikpunkt, dem Kracht sich hier aber durchaus stellen muss, ist, dass sein neuer Roman hier und heute keinen Zeitgeist trifft und eigentlich egal ist, ob er dieses Jahr oder vor fünf oder in zehn Jahren erscheint. Den größten Wert hat er wahrscheinlich für die Kracht-Forschung. Für alle anderen hat er zumindest einen Unterhaltungswert.

Und eine kleine Debatte war ihm auch schon durch seinen Namen auf dem Cover von vornherein sicher. Letztendlich geht es in Krachts Roman aber um nicht viel mehr als um ihn selbst. Was durchaus in Ordnung ist, da es ja nunmal so etwas wie eine Autobiografie ist. Nur eben erstaunlich von einem Autor, der den Zeitgeist eigentlich so selbstverständlich zu treffen vermag und seinen Kritiker٭innen bisher immer einen Schritt voraus war, jetzt aber viele Schritte zurückgeht. Unter vielen mutigen Romanen, mit denen er sich angreifbar gemacht hat, ist Eurotrash damit sein vielleicht mutigster und er verdient es unbedingt gelesen zu werden. Sobald ihr mit Sophie Passmann durch seid.

Ergänzung: Sibylle Berg versicherte uns bei Instagram inzwischen, Eurotrash nicht gelesen zu haben.

 


Eurotrash erschien am 4.3. bei Kiepenheuer und Witsch und hat 224 Seiten.

Titelbild: © Gregor van Dülmen

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.