Kategorie: Kunst

Adobe-Quiz mit Katrin(terview) Salentin(view)

Katrin Salentin, die man auf www.katrinsalentin.de (und hoffentlich bald auf masterclass.com unter „Teaches the Art of Analogue and Digital Collage“) findet, meistert mit Bravur ein paar knifflige Fragen zu Photoshop – and then some …


1. Was wäre ein coolerer Name für „Photoshop“?

krēˈādər, CreatorTool, Composer, Frauder, Ersatzteillager, Bildschatz. Für mich ist es mein Vokabelheft, das ich schon mit zahlreichen Vokabeln gespeist habe. Mit jedem Strg+N bilde ich neue Sätze, versuche die (nur) mir bekannte Grammatik zu umschiffen.

2. Was ist von einem Kinderbuch zu halten, das „Leichenfund“ im Titel hat?

Hierbei kann es sich nur um einen Sehfehler handeln. Weil das Buch von anderen Dingbüchern verdeckt wird, ist der Titel nicht in Gänze zu erkennen. Möglichkeiten der vollständigen Titel sind: „[G]leichenfund“, „[B]leichenfund“, „Leichenfund[länder]”. „[G]leichenfund“ ist ein ermüdendes Mathematikbuch für die Unterstufe. Lee/hrstunden über das Lösen von Gleichungen. Für ein Vollbad in guter Vorbildung. Bei „[B]leichenfund“ handelt es sich um einen Geschichtenband, der über das Verschwinden der Sonne narrativiert. Der sich ausbreitende Schatten nimmt das Lachen und die Farbe aus den Gesichtern. Die Entdeckung einer neuen Hunderasse wird in „Leichenfund[länder]” verhandelt. Eine Abenteuerreise, begleitet mit viel Fotomaterial – und Entdeckervideos, abrufbar per QR-Codes.

Und insgeheim macht sich doch der Gedanke breit, keinem Sehfehler zu erliegen. Sondern einer Verweigerung des Erkennens. Grau, rosa, dunkelgrün. Graublau. Viel Unsicherheit, Leichtigkeit. Und ein Rasensprenger. Bilder steigen in mir auf, die ich gerne zu diesem Buch collagieren möchte. Es ist kein Kinderbuch. Es ist die Erinnerung aus der Erwachsenenwelt an eine Kindheit.

3. Welche Photoshop-Funktionen sollte es geben, welche dürfte es geben, welche wird es nie geben?

Niemals sollte es DIE Entertaste geben, die das Bild, das Foto, die Illustration mit einem Klick fertigstellt. Zwar würde das viele Grübelstunden ersparen, viel Digitalpapier, viele Nein-Ordner, die im Papierkorb landen. Aber eben genau das würde fehlen, das un/gute Kribbeln, das Tüfteln, das Lösen(wollen), die Zweifel (die grauen Haare nicht). All das, was das Bildwerden ausmacht. Inmitten von Loslassen, Akzeptieren, Finden, Erkennen.

Es darf die Taste geben, die fertiggestellte Bilder mittels einer Tastenbetätigung oder Tastenkombination automatisch für Dokumentationszwecke auf die Künstlerwebsite stellt und in Social-Media verbreitet – selbstverständlich mit passendem Textstatement und H#shtags.

4. Welche Dinge sollten häufiger aus Wänden kommen?

Nägel, Schrauben, Dübel – dann hängen sich die Bilder von alleine auf. In dem Moment, wenn die Wasserwaage an der Wand liegt und der Bleistift die Markierung setzt, ploppt der Nagel aus der Wand. Jede Wand gibt ihren spezifischen Nagel heraus. Drahtstifte, verzinkt oder aus Eisen, Stahlstifte, rostfreie Messingnägel, Schraubnägel, Ankernägel und Senkkopfschrauben. Ist ein Dübel zwingend nötig, ist auch er dabei. Welch eine Erleichterung.

5. Was sind die 3 wichtigsten Durchbrüche, die Adobe in den letzten zwölf Jahren geglückt sind?

„Lassen Sie den Computer nicht zu viel arbeiten.“ Ein Satz meines Professors vor über 12 Jahren. Lag mir lange Zeit wie eine Vorschrift auf dem Magen. Zwar war es sicherlich nur als ein RatVorschlag gemeint (das Gegenteil von gut ist gut gemeint), hat sich aber eingebrannt und hängt seitdem wie eine unsichtbare Regel an meinem Kopf. So habe ich stets versucht, viele Programmfunktionen zu umgehen. Meine Arbeit gleicht der meditativen Modifikation von Pixelgewebe. Will sagen: ich kenne mich mit Adobe nur unzureichend aus und kann nicht auf die Beantwortung der Frage eingehen. Eine Unterscheidung zwischen: a) „neue Funktion“ und b) „das gibt es schon seit etlichen Jahren“ kann ich nicht vornehmen.

6. Wie punktet man in ekelerregenden Teammeatings?

Tanzend den Raum verlassen.

7. Wenn die menschliche Existenz eine *.psd-Datei wäre, wie viele Ebenen hätte sie?

Bin mir nicht sicher, ob das die richtige Frage ist. Die Frage stellt sich nicht nach der Anzahl der Ebenen. Vielmehr müsste die Frage lauten: Wie sieht die Systematik einer *.psd-Datei aus, die das Überleben einer solchen Datei sichert? Die Ebenen wären wohl bestens organisiert. Jede Ebene, jede Gruppe so in Reih und Glied, dass das Zusammenspiel aufeinander angewiesener Datensätze/Organe reibungslos funktioniert. Eine Schönheit an guter Inszenierung. Und dennoch würde ich durch diese scheinbare innere Ordnung kein Durchkommen finden. Mein eigener Ordnungswille, den ich gerne den Dateien aufzwänge, würde an dieser scheitern. Ver(w)irrt wäre ich, die Datei würde mich ständig austricksen. Ebenen abstrahieren, kopieren, verzerren ___ nicht möglich. Überspeichern, löschen, hinzufügen, ausdrucken … begleitet von Error und Fehlermeldungen.

8. Ist „Mensch“ überhaupt ernst gemeint?

Ist es ernst gemeint, dass wir für jede Seite, die wir im Internet aufrufen, entscheiden müssen, welches Keksrezept wir akzeptieren? HRN] Man*n und Frau sollte sich selbst jedenfalls nicht immer allzu ernst nehmen.

Beitragsbild: © Katrin Salentin

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Freiheitsstatue im Lockdown

„vanderkurth“ – unter diesem Künstlernamen ist das Multitalent Tomas Kurth seit Jahrzehnten in seiner Heimatstadt Stuttgart aktiv. „Bildender Künstler“ ist zu eng gefasst, und selbst „Maler, Bildhauer, Musiker, Fotograf, Bühnenbildner“ beschreibt nur einige seiner vielen Tätigkeiten. Nach hunderten von Gemälden, tausenden von Zeichnungen und einer Unmenge an Radierungen hat vanderkurth sich seit zwei Jahren auf Statuen spezialisiert. Während des Lockdowns 2020 / 2021 schuf er seine „Freiheitsstatue“ und enthüllte sie letzten Sommer. Alexander Tuschinski, Regisseur und Filmemacher, porträtiert den Künstler in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Statue of Liberty“, der sich in den letzten Zügen der Postproduktion befindet.

von Alexander Tuschinski


Tom, bei unserem ersten Treffen beeindruckte mich sofort, dass du seit Jahrzehnten ununterbrochen Kunst erschaffst. Manches verkaufst du, anderes bleibt bei dir. Selbst neben einem „Brotjob“ findest du immer Zeit für eigene Arbeiten. Viele Künstler fangen zwar mit einem ähnlichen Elan an, aber nur wenige halten ihn so lange durch. Woher stammt die Energie für dein kreatives Schaffen?

Gott sei Dank ist das, was ich tue, zurzeit nicht strafbar. Wäre ich ein Triebtäter mit kriminellem Hintergrund, würde die Justiz einen forensischen Psychiater auf mich ansetzen, um die Gründe für mein Treiben zu ergründen. Als Künstler genieße ich einen Freiraum; der Volksmund nennt ihn „Narrenfreiheit“. Das deutsche Grundgesetz hat für Leute wie mich in Artikel 5, Absatz 3 das Kunstrecht festgeschrieben.

Das erklärt, so hoffe ich, dass ich meinen künstlerischen Trieb – und um nichts anderes handelt es sich hier – hemmungslos und ohne Rücksicht auf die eigene Vernunft auslebe, Opfer und Verzicht inklusive. Das Maß der Energie ist genetisch und biologisch bedingt,  dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

Zwischen Kunst und Ukulele – vanderkurth:

Wann wurde dir klar, dass du deine freie Kunst zum Lebensinhalt machen willst? Hattest du auch überlegt, andere Berufe zu ergreifen?

Uuuh je! Klarheit kenne ich nur vom Hörensagen. Ich bin ein vom Leben getriebener. Ich balanciere auf einem schmalen Seil, den Abgrund kann ich mir nicht leisten. Der „Lebensinhalt“ ist das Leben selbst; komme, was da wolle!

Auch der Nebel ist real existent; da muss man durch, will man die Sonne sehen. Klar habe ich mir andere Berufe überlegt. Ich wollte Vorstandsvorsitzender von Mercedes Benz werden – hat leider nicht geklappt.

Viele deiner Werke sind sehr humorvoll, oft gesellschaftskritisch, und praktisch nie in der aktuellen Tagespolitik verhaftet. Wie beschreibst du deinen Stil?

Ja, Humor ist mein zweiter Vorname, der dritte: Wasser. Die real existierende Wirklichkeit, so, wie sie sich mir in den Weg stellt, ist für mich nur mit Humor zu ertragen. Und mit Kritik. Wer einmal gedanklich aus dem, was wir „Bewusstsein“ nennen, auch nur für kurze Zeit ausgestiegen ist, für den gibt es kein Zurück. Die Tagespolitik macht mich fassungslos, da sollen andere ran, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

Natürlich hätte ich gerne, dass man*in einstens sagt: „ah, der VANDERKURTH, war das nicht der, der den Stilismus erfunden hat?“ Doch dazu bin ich nicht eitel genug. Ich male Bilder, erschaffe Plastiken, singe Lieder, schreibe Texte und mache blöde Sachen. Mehr nicht.

Seit Juni ist deine „Statue of Liberty“ enthüllt. Wie fühlst du dich damit, und wie kamst du auf die Idee zu diesem neuen Werk?

Seit drei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Statuenserie „Denkmäler“, die gewöhnliche Menschen auf ein Podest stellt. Als 2020 die Lockdowns begannen, fielen plötzlich viele Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungen und Aufträge weg. Zur gleichen Zeit trennten sich auch noch meine langjährige Frau/ Freundin und ich auf dem Weg zum Traualtar.

Da freundete ich mich erstmal wieder mit mir selbst an und stellte mich auf einen Sockel. Dort stand ich dann eine Weile wie ein Trottel. Das war befreiend.

Aber zurück zu deiner Frage: Das deutsche Wort „Einfall“ beschreibt ganz gut den Vorgang. Ideen kommen meist aus heiterem Himmel und fallen von dort oben direkt in das Gehirn des Künstlers da unten. Und sie sind äußerst flüchtig. Wohl dem, der einen Skizzenblock oder ähnliches zur Hand hat! Und ich hatte ihn griffbereit, als die Freiheitsstatue herunterfiel, deshalb blieb dieser Einfall der Nachwelt erhalten. Möge sie an der Hafeneinfahrt von Stuttgart, gleich ihrer New Yorker Namensvetterin vor hundert Jahren, die ankommenden Migranten ermahnen, dass hier eine große Aufgabe auf sie wartet. Freiheit kann auch anstrengend sein, ist sie doch gleichzeitig mit Verantwortung verbunden. Aber jetzt werde ich schon wieder zu ernst.

Unser Film „Statue of Liberty“ entstand oft ganz spontan. Ich drehte meist auf dem Smartphone und hatte nach jedem Drehtag neue Ideen, wie er weitergehen könnte. Meist setzte ich einfach nur Zeit und Drehort fest. Am Set fielen uns beiden oft komplett neue Dinge ein und wir setzten sie direkt um. Beim Schneiden schuf ich dann daraus Tag für Tag den Film. Wie empfandest du den Dreh?

Mir liegt spontanes Arbeiten sehr. Ich habe schon bei vielen verschiedenen Filmproduktionen mitgewirkt, meist als Setbauer. Dein Dreh war aber anders als alle, bei denen ich bisher war. Es fühlte sich an, als ob wir jeden Tag zusammen ein Gesamtkunstwerk schaffen. Die Kreativität hat „gesprüht“, alles schien möglich, es gab keinerlei äußere Vorgaben. Nicht einmal die Laufzeit war von Anfang an klar. Zuerst schien es ein Kurzfilm zu werden, doch dann wurde er abendfüllend. Du kamst oft auch einfach spontan vorbei. Wir hatten an manchen Tagen gar nicht vor, zu drehen, und dann entstanden trotzdem neue Szenen, meistens die besten!

Am Set hatte das Gefühl, mich entfalten zu können, du nahmst mich künstlerisch auf Augenhöhe ernst. Ich merkte immer wieder, dass du an jedem Tag schnell eine genaue Vorstellung hattest, was du jeweils drehen wolltest – aber du mochtest es dabei trotzdem, immer wieder spontan ganz neue Ideen zu integrieren. Und ich war immer wieder beeindruckt, wie du im Schnitt dann aus unseren lustigen Tagen ein kohärentes Werk geschaffen hast. Oft hatte ich Deine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, das möchte ich als Kompliment verstanden wissen. Der Film ist eins meiner Highlights der letzten Jahre.

vanderkurth mit Alexander Tuschinski beim Dreh (v.r.n.l.):

Deine „Denkmäler“ haben einen eher comichaft-stilisierten Look, den du auch bei der Freiheitsstatue beibehalten hast. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, klar! Da ich endlich berühmt werden will, müssen ich und meine Statuen in einem Look daher kommen, den alle verstehen und lieben. Man kann es auch den größten gemeinsamen Nenner nennen, um einmal mehr zu kalauern. (>siehe Humor weiter oben)

Vor den Denkmälern gab es immer wieder bestimmte Phasen in deinem Schaffen. Wie weit planst du diese im Voraus?

Ich plane nix, ich bin ein von den Phasen Getriebener.

Ouzo, das griechische „Nationalgetränk“, inspirierte deine „Ouzographien“: Hunderte humorvolle Zeichnungen von Ouzogläsern, die über Jahre oft spontan in einer Kneipe entstanden. Darin verdichten sich extrem viele kreative und lustige Ideen auf kleinstem Raum. Ich finde, sie sind eins deiner Hauptwerke. Erzähl bitte darüber.

Ja, auf die bin ich auch sehr stolz, auch wenn die Entstehung für die Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Du hast ihnen in deinem Film den Raum gegeben, den sie verdienen, obwohl ich anfangs nicht so begeistert davon war. Aber als ich von Deinem Hintergrund als Historiker erfuhr, habe ich mich demütig gebeugt und die Dose der Pandora geöffnet. Sie sind nur Zeugnis meiner Zeichentechnik, durchdekliniert an einem einzigen Sujet.

Du arbeitest oft gegenständlich, „figürlich“. Abstrakte Werke finden sich selten in deinem Schaffen. Wie kommt das?

Als ich in den 80ern an der Kunstakademie in Stuttgart studierte, war in der Kunstwelt figürliches Arbeiten verpönt. Die Malerei wurde für tot erklärt. Bildhauern, die figürlich arbeiteten, haftete der Ruch des „Dekorativen“ an. Meine Kollegen, die abstrakt arbeiteten, taten das nur, um hurtig fertig zu werden und schneller wieder in die Kneipe zu kommen. Das war nicht mein Ding, obwohl ich nichts gegen Kneipen habe. (> siehe OUZOGRAFIE)

Du spielst viele Instrumente, gerade hauptsächlich die Ukulele. Schon 1975 hattest du mit „Flick Flack Huckepack“ ein Album produziert. Wie waren deine musikalischen Anfänge? Hattest du als Jugendlicher Musikunterricht?

Ja, aber mein Musiklehrer konnte mich nicht besonders leiden. Meistens musste ich vor der Türe im Gang stehen. Das „Picknick im Neandertal“, so heißt das Opus, war meine Rache. Schön, dass die Musik vierzig Jahre später nun in deinem Film als Soundtrack zu Ehren kommt.

In „Statue of Liberty“ hast du oft sehr lustige Sprüche und Darbietungen improvisiert. Bei Testvorführung haben dich einige Zuschauer mit Bob Ross verglichen, wenn du geduldig in einigen Szenen die Statue mit Putz bestreichst und dabei erzählst. Hast du dich je als Schauspieler versucht?

Nicht wirklich, aber meine Gesangslehrerin hat mir einige Kniffe beigebracht. Eines Tages wollte Sie, dass ich mir eine Figur ausdenke. So kam es, dass ich den „singenden Tankwart“ gebe; so trete ich auch in deinem Film auf. Das Publikum will unterhalten werden und das ist auch OK. Auf Bob Ross bin ich neidisch, der hat mir das Merkantile voraus.

In den 70ern hattest du im Schwarzwald eine Art kreative, alternative Wohngemeinschaft in einem historischen, ehemaligen Gasthof gegründet. Wie lief das ab?

Uh, ja. Die jugendliche Elite zog es damals aufs Land. Wir wollten die Welt retten. Wir waren die Keimzelle der GRÜNEN. Wir bauten unser eigenes Gemüse an und backten unser eigenes Brot aus biologisch-dynamischem Mehl. Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf und sagten: „Die Bauern sind weg, jetzt kommen die Experten!“

Ich bin Einzelkind und meine Jugend war aus verschiedenen Gründen eher problematisch. Da war es sehr wohltuend, eine eigene Wahlfamilie mit Gleichgesinnten zu haben.

Mit meinen Künstlerbiographien möchte ich Menschen inspirieren, selbst ihre Kreativität auszuleben. Was möchtest du Lesern und Zuschauern mitgeben, die gern kreative Projekte erschaffen möchten, aber noch Hemmungen haben?

Es ist beglückend, etwas Sinnvolles getan zu haben, ist ein Werk gelungen. Man sollte sich allerdings keine Illusionen machen. Meist ist es Arbeit, und man muss auch mit dem Scheitern klarkommen. Ich werde oft gefragt: „Ja, kann man*in denn davon leben?“

Da ist hilfreich, man hat einen gutverdienenden Partner oder einen pfiffigen Manager, der einen nicht über den Tisch zieht. Oder man*in ist Bob Ross und ist ein Genie der Selbstvermarktung. Ein Superstar zu werden ist den wenigsten vergönnt. Gelingt es dennoch – umso besser!

Aber nur zu, Mut hat noch keinem geschadet. Hemmung dagegen schon.

Ein Vorschmack auf Alexander Tuschinskis „Statue of Liberty“:

Quelle: YouTube

Mehr über Regisseur und Filmemacher Alexander Tuschinski im Interview von Schauspieler Thomas Goersch.

 

Bilder: © Alexander Tuschinski

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Lass es nicht endgültig sein

Wann sind Gebäude eigentlich fertig, wann ist ihr Bau also abgeschlossen. Und wann sind sie endgültig „fertig“, also Ruinen? Der Bildband „Ruin and Redemption“ geht dieser Frage nach und zeigt: Wenn Gebäude aus Ruinen wieder auferstehen, bekommen sie manchmal die beste zweite Chance, die es für sie geben kann.


Klar, es gibt glattgeleckte Architekturbildbände, bei denen am besten weiße Baumwollhandschuhe beiliegen, um die Unantastbarkeit des Gezeigten noch zu unterstreichen. Dazu kommt das Arsenal an Magazinen, die die Schöner-Wohnen-Optiken auf die Spitze treiben. Und dann gibt es Bildbände wie „Ruin and Redemption in Architecture“ (Phaidon Press, 2019), die zwar sämtliche Register gelungener Buchgestaltung ziehen, aber doch Sehgewohnheiten charmant brechen. Denn hier geht es nicht um Überinszenierung oder visuelle Heiligsprechung – sondern erst einmal um Vergänglichkeit und Ruinöses.

Dan Barasch hat den Band kuratiert. Er war Führungskraft bei Google, Unicef oder auch der Stadtverwaltung New Yorks. Sein Projekt, aus einem stillgelegten Güterwagon-Terminal in New York einen unterirdischen Park zu gestalten, hat den Blick auf Transformationen und die Umnutzung von Gebäuden weltweit gelegt. Das Buch zieht einmal quer um den Globus und versammelt Beispiele von Architektur, die praktisch fertig war mit dem Leben: abgehalftert, ausgemustert, verlassen. Ruinen eben. Doch stimmt es eben keinen salbungsvollen Abgesang an das Alte in Form einer Überhöhung an, sondern feiert tatsächlich erst einmal die Vergänglichkeit. Der erste der vier Abschnitte heißt demnach schlicht „Lost“. Gebäude, die einfach verloren sind – und nur noch in Erinnerungen und Fotografien weiterexistieren.

Das Larkin-Verwaltungsgebäude in Buffalo, New York/USA. Nachdem die Firma sich gezwungen sah, den Komplex zu verkaufen, wurde das Gebäude verkauft und musste 1950 einem Parkhaus weichen. (Foto: Collection of The Buffalo History Museum)

Wie Grabsteine

„Completed 1962. Demolished 2013“ – die Zeitangaben wirken sehr nüchtern. Vollendet – zerstört. Wie Inschriften auf Grabsteinen kommen einen die nüchternen Angaben vor. Ein seltsames Gefühl befällt einen – vielleicht tatsächlich so etwas wie Trauer –, wenn die ersten Bilder des Bandes Gebäude zeigen, die es nicht mehr gibt. Abgerissen oder komplett verfallen.

Manchmal dokumentieren die Fotos sogar  Abrissarbeiten oder den Sekundenmoment einer Sprengung. Zu entdecken sind riesige Wohnkomplexe wie etwa Pruitt-Igoe in St. Louis (USA) – 2870 Apartments umfasste der Stadtteil, der schon nach 16 Jahren wieder zurückgebaut wurde.

Der Streifzug geht weiter: Das Olympiastadion von Athen, filigran von Santiago Calatrava entworfen – es steht leer und gerade einmal ein paar Büsche wuchern in dem verwilderten Gebäude. Dazu kommen die Skisprungschanzen von Sarajewo oder ein Panorama-Restaurant in Lissabon – die Bilder zeigen: Wenn Orte in Vergessenheit geraten, dann verschwinden sie nicht. Sondern bleiben und führen ihr Leben irgendwie in Einsamkeit weiter.

Als 1963 die Turbinen des Glenwood Elektrizitätswerk alterschwach wurden, gab man das Gelände auf und ließ die Gebäude verfallen. In den Jahrzehnten danach entwickelte sich der Ort zu einem Treffpunkt, der von Gewalt, Graffiti und Gang-Aktivitäten geprägt war. (Foto: Courtesy of Lela Goren Group)

Dort, wo das Leben fehlt, denkt man es sich dazu

Eine Industrieanlage, die ohne Qualm aus Schornsteinen auskommt und zwischen deren Schlöten Bäume wachsen. Ein Sportstadion, das längst keine Zuschauer mehr kennt, Werbetafeln oder Fanbanner erst recht nicht. Es fehlen Fenster, Mauerteile, Fahrzeuge, Menschen … und genau das macht den Reiz der Bilder aus, vielleicht auch an sich den Reiz von Ruinen: Sie zeigen Leerstellen. Man denkt sich das Leben dazu, füllt Leerstellen selbst aus und hört ins sich einen Soundtrack mit dem Sirren von Sirenen, dem Tuten von Schiffshörnern oder dem geschäftigen Klingeln und Klicken einer Büroetage.

So paradox es klingt: Ruinen erinnern an das Leben. Symbolhaft tauchen sie auf Gemälden der Romantik auf und feiern einen Weltschmerz und die Sehnsucht an vermeintlich bessere, frühere Zeiten. Sie geben aber auch ein klares Statement: Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist. Also wende dich dem Leben zu.

Die Siloanlage im holländischen Deventer wurde im Jahr 1990 stillgelegt. 25 Jahre später ist dort wieder neues Leben eingezogen. (Fotos: Wenink \ Holtkamp Architecten)

Mehr als zweite Chancen

Der eigentliche Kern des Bandes ist Architektur, die ihre Erlösung – Redemption – feiern kann: Auferstanden aus Ruinen. Sieht man die Vorher-Nachher-Bilder der Zementfabrik im spanischen Sant Just Desvern, dann traut man seinen Augen kaum: Die Silos der Industrieanlage zeigten sich von 1921 bis 1968 eher austauschbar – heute könnten sie als Kulisse für den James-Bond-Schurken dienen: Surreal wirken begrünte Dächer, Bücherregale und Fenstermaßwerke geben dem Gebäude fast schon einen Klostercharakter.

Weltkriegs-Bunker bekommen einen Glaskubus als Hülle und damit ein neues kulturelles Leben. Brachliegende Hafenanlagen werden zu Bürogebäuden und Kreativzentren wachgeküsst. Das begeistert – und zeigt, dass wir Architektur und Nutzungsformen nicht zu eindimensional denken sollten.

Allerdings ist es auch so: Umnutzungen sorgen nicht immer automatisch für Jubel und Begeisterung. So ist etwa die ehemalige Dominikanerkirche im Herzen Maastrichts heute eine Buchhandlung mit maximalem Instagram-Potenzial: 1294 als Klosterkirche erbaut, birgt der gotische Raum nun ein riesiges schwarzes Bücherregal, das die Verkaufsfläche von ursprünglich 745 Quadratmeter auf 1200 Quadratmeter erweitert. Es gibt die üblichen Verkaufsinseln, zwei seitliche Emporen, auf denen Schallplatten und Fachliteratur verkauft werden und ein kleines Café im Altarraum der Kirche. Eine Kirche als umtriebige Verkaufsstätte? Das bringt zwangsläufig Blasphemie-Vorwürfe und zeigt: Umwidmungen sorgen auch für Emotionen und Kritik.

Die Dominikarkirche in Maastricht – Ort mit wechselvoller Geschichte: 1294 errichtet, 1577 teilweise zerstört, Militärlager in den Napoleonischen Kriegen, später Archiv, Warenhaus und Druckerei. Heute ist der Ort eine Buchhandlung und zieht Buchbegeisterte und Instagram-Junkies an. (Foto: Roos Aldershoff / Merkx+Girod / Merk X architects and designers)

Die Suche nach dem Vergessenem

Wenn ich mit Büchern zu tun habe, frage ich mich immer: Was lösen sie in mir aus? Was machen sie mit mir? In diesem Fall ist es so, dass das Buch eine Art Radarschirm anschaltet: Wo stehen auch Ruinen in meiner Umgebung? Welche Baulücken gibt es noch, die eigentlich gar keine sind, sondern einfach nur vergessene Orte. Wo liegen Gebäude an den Orten, mit denen ich zu tun habe, einen Dornröschenschlaf?

„Ruin and Redemption in Architecture“ ist nicht nur ein Buch über transformierte Gebäude und Orte – es transformiert auch den Leser. Die Bilder und Projekte machen Lust, Dinge neu zu denken. Wer sich mit Ruinen beschäftigt, dem öffnen sich die Augen für die Lücken um einen selbst.

Dan Barasch ist ein sehenswertes Band gelungen. Eben weil er nicht in die konservativ-pathetische Falle tappt und jede Veränderung gleich als Gefahr sieht, sondern Veränderung als Chance begreift. Das gilt auch für die Zukunft: Neue Gebäude sind die Ruinen von morgen. Und sie können immer wieder auferstehen. Etwas Besseres kann man ihnen nicht wünschen.

 

 

Einspruch gegen den ersten Eindruck

Äpfel, Federn, Gläser, Äste, ein Backstein, Krüge, Lineale, hier ein Löwenzahn, dort ein Messer – arrangiert zu Gefügen und Kompositionen. Die Werke von Mirko Schallenberg scheinen auf den ersten Blick ganz vertraut: Stillleben eben. Doch wer einen zweiten Blick wagt, den erfüllt Verunsicherung. Und die ist rätselhaft schön!

 

Ein Gastbeitrag von Stefan Weigand


„Ich möchte, dass man seinen Augen trauen kann, dass man auf seine Sinne, sogar auf das eigene Unterbewusstsein vertrauen kann.“ Wenn ein Maler so etwas sagt, dann ist das eine Einladung, seine Werke erst einmal ganz unvoreingenommen zu betrachten – und nicht gleich nach Bedeutungsebenen oder Zitaten zu fahnden.

Schallenbergs Bilder versammeln Fundstücke. Alltagsdinge. Also Gegenstände, die man selbst im Haushalt hat, oder sich zumindest in Reichweite befinden. Gläser, Holzplatten, Krüge, Äpfel, Birkenäste. Fast schon entrückt erscheinen die Gegenstände im Deutungshorizont unserer modernen Welt der digitalen Artefakte. Detailreich gemalt und mit einem Farbauftrag, der nicht nur Kolorit erzeugt, sondern auch die Oberfläche der Leinwand mal rau oder gar erhaben modelliert. Gegenständlicher kann Kunst kaum sein.

Unscheinbares, Alltägliches, Mystisches, Übersehenes: Die Werke von Mirko Schallenberg entstehen erst einmal damit, dass er Dinge sammelt und in Beziehung bringt.

Wie eine Art Kurator sammelt der Künstler Dinge und bewahrt sie in einem Magazin in seinem Atelier, das sich weitläufig in einer Berliner Industrieetage erstreckt. Das Gebäude diente früher als Werkstätte zur Aufpolsterung von Möbelstücken. Wo industrielle Fertigung pulsierte, werden nun Kombinationen aus einfachen Dingen zu Bildern. Stück für Stück arrangiert Schallenberg die Objekte, probiert Konstellationen, verwirft und entscheidet.

Wie die Räume entstehen

Die Objekte, die Dinge sind da. Was Schallenberg dann erschafft, sind zunächst einmal Räume. Ein Karton, eine Holzkiste, zwei Spiegel, eine getünchte Wand. Kulissen? Nicht ganz, denn die Räume selbst treten in Aktion zu den Dingen. Da lehnt eine Farbpalette an einer Wand oder fängt den Schatten ein, den ein Nachtfalter wirft. Dann kommt der nächste Schaffensmoment: Schallenberg stapelt eben nicht einfach die Objekte – sondern bringt sie in Beziehung zueinander. Auf Tonkrügen balancieren Holzplatten, die wiederum Standort für Gläser oder weitere Krüge werden, ein Ast liegt an einem Buch an oder eine Schnur senkt einen Apfel in die Bildhälfte.

Mirko Schallenberg, Hüllenlos, 2017, Öl auf Leinwand, 165 x 185 cm

Nicht zuletzt durch das Obst, das mit im Spiel ist, drängt sich dem Betrachter eine Genrezuordnung auf: Stillleben. Also Gemälde, die Eindeutigkeit ausstrahlen und ein Garant für Verlässlichkeit und Stabilität sind. Die Objekte ruhen förmlich – und zeugen doch von Vergänglichkeit. Jede noch so schöne Blüte wird welken, jeder Apfel fault mit der Zeit. So absurd es klingt: Dort, wo etwas still ist, wird seine Vergänglichkeit umso deutlicher.

Ausbruch aus dem Genre

Unverdächtig. Leise. Vielleicht sind es diese Zuschreibungen, weshalb das in den letzten Jahrzehnten das Stillleben fast schon von der Kunst der Gegenwart vergessen wurde. Karlauernd könnte man sagen: Um das Stillleben ist es still geworden. Aber so leicht machen es einen die Stillleben von Mirko Schallenberg wiederum nicht. Sie halten sich schlichtweg nicht an genregerechte Vereinbarungen, erfüllen die voreilige Stillleben-Erwartung einfach nicht. Denn beim genauen Hinsehen geben sie Risse preis, neigen zu Instabilität. Da ist ein Tonkrug, der kurz vor dem Springen ist. Die Erdbeere liegt nicht mehr auf dem Holzbrett, sondern ist schon halb im Fallen. Der Kerzendocht spendet noch etwas Rauch, aber ist schon fast kalt.

Mirko Schallenberg, Kaskade, 2016, Öl auf Leinwand, 170 x 175 cm

Was auf dem ersten Blick so ruhend und fest gefügt wirkt, ist ganz anders zu sehen. Die Werke zeigen gar keine festen Situationen, die dem Zahn der Zeit preisgegeben sind. Sie zeigen nichts als Augenblicke und Situationen, die kaum vergänglicher zu denken sind: Von einem Moment auf dem nächsten könnten sie anders sein. Ein Holzscheit kippt und bringt ein Glas ins Fallen. Das Gefüge? Komplett über den Haufen geworfen. Von einem Moment zum anderen. Es ist ein Spiel mit Stabilität und Unstabilität, mit dem Ungewissen und dem Vertrauten.

Keine falschen Versprechen

Doch mit dieser Verunsicherung ist es nicht genug. Denn Schallenberg verschärft sein Spiel mit der Zeit und dem Moment noch weiter. Äste tragen Knospen, saftiges Grün, trockenes Laub und kahle Zweige zugleich – nur wenige Zentimeter entfernt finden auf der Leinwand sämtliche Jahreszeiten statt. Entstehen, Werden, Vergehen: gleichzeitig. Doch so absurd es klingt: Eine solche synchrone Diachronie verunsichert nicht, sondern sorgt für Demut: Es gibt nunmal einen Lauf der Dinge, der nicht aufzuhalten ist. Alles Leben wird einmal sterben.

Für mich macht den Reiz der Kunst von Mirko Schallenberg aus, dass sie hochrealistisch ist. Nicht nur künstlerisch mit ihrer Gegenständlichkeit und meisterhaften Ausführung; sondern auch konzeptionell: Weil sie das Vanitas-Motiv, also die Erinnerung an die Vergänglichkeit des Seins, auf die Spitze treibt – und damit Stillleben in Reinform sind. Augenblicke mischen sich mit Lebenskreisen. Schallenbergs Stillleben brauchen keine doppelten Böden oder komplizierten Verrenkungen. Sie legen sich auf Klarheit fest: Nicht nur das Leben ist vergänglich. Jeder Augenblick ist es.

Weitere Werke von Mirko Schallenberg sind auf der Website des Künstlers zu sehen: http://www.mirko-schallenberg.de

Bilder: Bernhardt Link

Über Stefan Weigand

Auf die einsame Insel würde Stefan Weigand seine Familie, ein schönes Buch und seinen Plattenspieler mitnehmen. Nach dem Theologie- und Philosophie- Studium in Würzburg und Indien war er zunächst Sachbuchlektor in einem großen deutschen Verlag. Seit mehreren Jahren führt er eine Agentur für Buch- und Webgestaltung und wird als Konzeptionsberater bei Buchprojekten gebucht. An ruhigen Abenden widmet er sich seinem Faible für Kunst, Jazz und Indie-Musik.

„Ich muss sie erfinden, die moderne Kunst!“ – Picasso und die Bohème am Montmartre

Tod, Sex, Opium und ein Esel im Flur. Als junger Künstler führte Pablo Picasso ein bewegtes Leben. Julie Birmant und Clément Oubrerie widmen sich in ihrer Graphic Novel „Pablo“ dessen Pariser Anfangsjahren. Kontrastreich und aus feministischer Perspektive.


Sein gewaltiges Gesamtwerk hat deutliche Spuren in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Nicht zu Unrecht gilt Pablo Picasso als Symbol der Klassischen Moderne. Zu Beginn seiner internationalen Karriere war das kaum zu erwarten. „Sicher, Picasso ist ein Genie, aber auch wenn ich so viel Opium rauche wie er, ich verstehe seine Malerei einfach nicht.“ Diese Bemerkung, die die Autor٭innen dem jungen deutschen Maler Karl-Heinz Wiegels im Jahr 1908 zuschreiben, lässt Picassos steinigen Weg zu Anerkennung und Ruhm erahnen.

Wiegels, der sich im Umfeld Picassos bewegte und heute nahezu vergessen ist, nahm sich nach erheblichem Drogenkonsum noch im selben Jahr das Leben. Dieses Schicksal blieb dem jungen Spanier, vermutlich auch durch diese Tragödie bedingt, glücklicherweise erspart. Seine Vorliebe für geisteserweiternde Mittel schränkte er in der Folge ein. Begreifbar war seine Kunst dennoch vielen Menschen zunächst nicht.

Konglomerat der Superstars

Im Jahr 1900 kam Pablo Picasso – talentiert, aber relativ erfolglos – anlässlich der Weltausstellung in die Stadt, die ihm das Tor zur Weltkarriere öffnete und ihm zugleich viel Schmerz zufügte. Mit ihm nach Paris kam sein enger Freund Carlos Casagemas, der sich nicht viel später aus Impotenz und Liebeskummer eine Kugel in den Kopf schoss. Ein großer Schock für den damals 19-Jährigen, den Picasso in seinen Gemälden verarbeitete und der die Blaue Periode initiierte.

In ärmlichen Verhältnissen lebend und sich in Liebesaffären stürzend machte er die Bekanntschaft zahlreicher Vertreter der damaligen Pariser Bohème, die sich aus Schriftstellern, Malern, Galeristen und Mäzenen zusammensetzte. Persönlichkeiten wie Max Jacob und Guillaume Apollinaire wurden zu seinen Bewunderern und Freunden und der Verleger Ambroise Vollard setzte sich mit seinen Kontakten für Picasso ein. Sehr bald wurden Gertrude und Leo Stein auf ihn aufmerksam und sorgten letztendlich für ein rapides Ansteigen seines Bekanntheitsgrades. Auf diese Weise näherte er sich der etablierten Avantgarde, zu der auch die Fauvisten André Derain und Henri Matisse gehören und zu der er anfangs ein ambivalentes Verhältnis aus Bewunderung und Verachtung hegte.

Bis zu seinem Durchbruch, der ihm schließlich 1907 mit dem damals skandalträchtigen Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ gelang und mit dem Kubismus (gemeinsam mit Georges Braque) nicht weniger als eine neue Stilepoche begründete, waren Picassos Lebensverhältnisse stets spärlich und von Selbstzweifeln geprägt. Das verfallene Haus Bateau-Lavoir auf dem Montmartre, in dem Picasso etwa fünf Jahre lebte und arbeitete, wurde später – auch durch das Bankett für Henri Rousseau – zum Inbegriff der Pariser Kunstszene.

Bunte Gestalten

Dieser fundamental prägenden Lebensphase Picassos wenden sich die Comicautor٭innen Birmant und Oubrerie mit ihren Zeichnungen und Texten zu. Handwerklich greifen sie dabei auf die klassischen Werkzeuge der Graphic Novel zurück. Ein im Ansatz naiver Zeichenstil verbindet sich mit variantenreicher Farbgebung und Motivwahl, die sich an die jeweilige Schaffensphase Picassos anpassen. Die Protagonist٭innen und Nebendarsteller٭innen präsentieren sich zu einem erheblichen Teil als äußerst eigenwillige, aber auch humorvolle Gestalten, deren Charakterzüge überzeichnet und somit herausgestellt werden.

Bizarre Szenen, wie der im Hausflur stehende (übrigens historische) Esel des Kabarettbetreibers Frédéric Gérard, fügen sich nahtlos ein. Das sich wiederholende Rufen von Parolen à la „Nieder mit den Fauvisten! Es lebe der Kubismus!“ kommt zwar pathetisch daher, da sie erst aus der Retrospektive und kaum zeitgenössisch Sinn ergeben. Andererseits gesellen sie sich zu den selbstbewussten Formulierungen der damaligen Avantgarde. Die Darstellung von Überhöhungen und Lächerlichkeiten sind nun einmal ein legitimes und weithin verbreitetes Mittel dieser literarischen Gattung.

Muse der Emanzipation

Die eigentliche Leistung von „Pablo“ liegt jedoch in der erzählerischen Perspektive. Die Jahre 1900 bis 1908 in Pablo Picassos Leben werden nicht etwa aus dessen Sicht beschrieben, sondern aus dem Blickwinkel Fernande Oliviers, gemeinhin als Muse des Künstlers bezeichnet und über mehrere Jahre mit diesem liiert. Ihr Leben bildet den Rahmen der Erzählung und legt somit Zeugnis von Emanzipation und Selbstbehauptung ab.

Olivier, zunächst zwangsverheiratet und unter den Misshandlungen ihres Ehemanns leidend, floh nach Paris, um ein lebenswerteres Umfeld zu suchen. Dieses fand sie, trotz der widrigen und teils prekären Umstände, im Umfeld der künstlerischen Avantgarde. Jene wiederum entlarvt sich ungeachtet ihres vermeintlich weltoffenen und progressiven Charakters als chauvinistisches Terrain, in dem Frauen zwar oberflächlich mehr Respekt entgegengebracht wird, in den Augen ihrer männlichen Zeitgenossen meist aber nicht über eine dekorative und luststillende Funktion hinauskommen. Olivier gelingt es gelegentlich, aus diesen Strukturen auszubrechen und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, auch wenn es sie am Ende zum selbstbezogenen Picasso zurücktreibt.

Durch diese narrative Methode öffnen Birmant und Oubrerie einen dezent feministischen Blick auf die Szene. Wenn bedacht wird, dass das Bild der Kunstgeschichte bis in das 21. Jahrhundert hinein allen voran von männlichen Akteuren bestimmt wird und Vertreterinnen der Bildenden Künste im allerbesten Fall nebenläufig Beachtung finden, ist dies erwähnenswert. Nicht zuletzt dieser Ansatz macht die Lektüre von „Pablo“ zu einer unterhaltsamen, aber eben auch instruktiven Erfahrung.

Die Gesamtausgabe „Pablo“ ist jetzt bei Reprodukt erschienen und hat 352 Seiten.

Titelbild: © Moritz Bouws

Wider der klassischen Ausstellungspraxis. Anni Albers im K20

In Düsseldorf läuft seit ein paar Tagen eine Ausstellung zum Werk Anni Albers‘. Die Ausstellung gibt einen umfassenden Eindruck in das Gesamtwerk der Bauhaus-Ikone. Sie offenbart aber auch einige Probleme, mit denen die Künstlerin ihr gesamtes Schaffen lang zu kämpfen hatte.

von Fabian Korner

Anni Albers (1899-1994) kann sicherlich als die ambitionierteste Bauhauslehrerin bezeichnet werden. In der Malerklasse nicht zugelassen, in die Textilklasse verbannt, wollte sie sich zunächst nicht so recht auf das Material (Stoff) einlassen, später sollte es ihr Schaffen bestimmen. Die Ausstellung im K20 zeigt mehr als 200 Werke, Originale sowie Archivaufnahmen, die Leihgaben von verschiedensten Museen und Archivorten sind. In Anni Albers verbinden sich zwei Elemente, die eine klare Kanonkritik darstellen: Zunächst ist sie eine Frau – und mit Frauen in der Kunst tut man(n) sich gerne einmal schwer.

Des Weiteren hat sie mit Textilien, mit Stoffen gearbeitet; einem Material, das bis heute keinen festen Platz in den Kunstakademien hat. Zu sehr ist Stoff – sei es in Form von Klamotten, Bettwäsche oder Teppichen – ­Teil unseres Alltags. Was Teil unseres Alltags ist, wird seltener als Kunstgegenstand wahrgenommen, da Gebrauch künstlerische Qualitäten schmälert. Genau diesem klassischen Verständnis wird sich, so scheint es nach der Ausstellungsbetrachtung, hier widersetzt. Dies geschieht nicht nur durch das Material, sondern auch durch den Umgang mit Formen und Farben. In ihrem frühen Werken ist Geometrie sehr präsent, spätere Überlegungen führen zu mehr Dynamik. Weder die Geometrie, noch die Dynamik in Form und der Art und Weise des Spinnens, können als Selbstzweck verstanden werden. Albers bricht die geometrischen Formen auf konstruktivistische Weise und versucht ein Moment von Bedeutung zu erschaffen.

Der gefühlte Widerstand

Spätestens an dieser Stelle angekommen, fragt man sich, ob das Ausstellungskonzept das Werk überhaupt adäquat wiedergibt oder ob hier Zugriffsarten verstellt werden. Wer schon in Ausstellungen konstruktivistischer Künstler oder Werke (Malewitsch, Kandinsky, Klee) war, der mag sich an das Gefühl erinnern, dass „irgendwas nicht so ganz passt“. Woher kommt dieser Eindruck?

Ausstellung „Anni Albers“ im K20, hier fotografiert von Achim Kukulies, © Kunstsammlung NRW.

Die Ausstellung im Düsseldorfer K20 ist einem klassischen Ausstellungskonzept nachempfunden. Es werden uns die Werke Anni Albers auf geniale Weise pompös vorgestellt – bzw. im ganz buchstäblichen Sinne: vor die Nase gestellt. Kleine Veränderungen, wie das Ablösen vom rein Bildnerischen, dahin, dass ein Gegenstand liegt, um sein räumliches Element zu illustrieren, sind nur kosmetische Gesten und verstellen den eigentlichen Widerspruch. An dieser Stelle sei, bei all der Kritik, gesagt, dass die Ausstellung wirklich gut komponiert ist. Es wurde uns eine Künstlerin präsentiert, die gerne hinter all den Männern versinkt und dazu ein Material, welches selten so begutachtet wird. Im Versuch, dies wie eine Ausstellung eines Otto Dicks, Rennbrand oder Kandinsky aussehen zu lassen, wird versucht, Hegemonie aufzubauen. Es ist eine Form, in der Hegemonie des Kunstbetriebes Frau und Textilien ebenfalls Raum zu geben. Der Versuch muss aber kläglich scheitern. Nicht weil – wie schon betont – das Anliegen oder die Ausstellungskomposition schlecht wäre, sondern weil das Werk nach einem anderen Zugriff verlangt.

Konstruktivismus als Ausgangspunkt

Der Grundgedanke einer konstruktivistischen Kunst ist nicht im Altbewerten neue Foki zu erschaffen, sondern das bisher gedachte grundsätzlich hinter sich zu lassen. Es ist kein Einbruch in Bisheriges, sondern ein Aufbruch mit Neuem. Der Begriff des „neuen“ führt bei Malewitsch zur „gegenstandlosen Kunst“, die nicht zu verwechseln ist mit „abstrakter Kunst“ und letztlich zum schwarzem Quadrat, welches nur wirkt, wenn man versteht welchen Bedeutungshorizont es versucht zu eröffnen. El Lissitzkys Plakat „Roter Keil“ – ein Propagandaplakat der Roten Armee – zeigt auf offensichtlicher Weise wie die, von Malevich geforderte Gegenstandslosigkeit, eben keine Abstraktion, sondern eine vollkommene Neubelebung von Symbolen bedeutet: Ihre alte Bedeutung gilt nicht, ihnen wird neue verliehen.

Auch El Lissitzkys „Roter Keil“ findet Platz in Ausstellungen, hier in Berlin:

© postmondän bei Instagram

Allein dass der Konstruktivismus einen neuen Zugriff benötigt als er durch klassische Ausstellungen gegeben werden kann, ist schon ein erstes Indiz für die Problematik der Aufbereitung ihres Werkes im K20.

Wenn schon ihr eigenes Denken anders funktioniert?

Albers selber war als Lehrerin im Black Mountain College (North Carolina) überaus beliebt und bekannt. Ihre pädagogischen Methoden legen dabei zu gleich ein Zeugnis davon ab, wie sehr ihre Kunst auch außerhalb klassischer Verständnisse zu verstehen ist – ihr eigenes Herangehen möchte ich hier also als Argument anführen. So war es nicht unüblich, dass sie ihre Studierende an einen Strand setzte und diese sollten, lediglich aus den Materialien, welche sie umgaben, nun Gegenstände errichten. Diese Gegenstände waren nicht nur funktional (sie schützten vor Sonne), sondern können durchaus als sehr ästhetisch verstanden werden; ihre Form und Aussehen war häufig sehr unüblich. Weiterhin hat sie Schmuck geschaffen, aus Gegenständen, die sie „einfach zur Hand“ hatte: Haarnadeln, Siebe, Kronkorken. Hier deutet sich das ursprüngliche Element eines konstruktivistischen Denkens an: Baue die Welt neu, mit den Dingen, die du hast.

Anni Albers Anfang der 1930er Jahre, fotografiert von Josef Albers, © The Josef and Anni Albers Foundation / Kunstsammlung NRW.

Bauhaus neu denken

An dieser Stelle verschmelzen Bauhaus und Konstruktivismus zu einer Einheit und enthüllen einen Geist, der nur als modern beschrieben werden kann: Ablösung von bekannten Traditionen und Erschaffen neuer Bedeutungs- und Funktionselementen, durch die Fähigkeiten jedes einzelnen und erlernbar für jeden einzelnen.

Möchte man Anni Albers also ausstellen, sodass ein Zugriff erlangt werden kann, der ihrem Ausdruck gerecht wird, darf nicht in den Formen standardisierter Ausstellungsformate gedacht werden. Eine Kunst wie die von Anni Albers, hat doppeltes Ausbruchspotential: Sie schafft eine neue Sphäre der Hegemonie, in dem sie sich, schon durch ihre Ausdrucksweise, klassischer Ausstellungspraxis entzieht, ebenso durchbricht sie tradiertes Kunstdenken. Ganz im Sinne des Bauhauses, so führt Anni Albers uns vor, ist unsere Welt, jetzt genau, die uns umgibt, Objekt unseres eigenen, künstlerischen Ausdrucks und wir können sie gestalten, neu erfinden und stets umbilden.

Die Ausstellung „Anni Albers“ läuft vom 09.06. bis 09.09.18 im Düsseldorfer K20.


Fabian Korner studiert seit 2014 Philosophie und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Im Rahmen seines Studiums beschäftigt er sich mit den politischen Momenten von Kunst und Kultur. Dabei geht es ihm stets darum, Ausstellungen, Theater, Literatur oder alternative Formate nach ihrer Aktualität zu befragen. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Auseinandersetzung mit Kultur, die stets die Frage stellt: „Und was soll ich jetzt damit machen?“

Beitragsbild: © Achim Kukulies / Kunstsammlung NRW

Der Kitsch der Exzentrik

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Manchmal scheint es schon auszureichen, um für einen Film eine Auszeichnung in Cannes zu bekommen, wenn man einen künstlichen (dafür weniger künstlerischen) Roadmovie produziert, um sich selbst zu feiern, anstatt zu informieren und zu unterhalten. Denn genau mit dieser Strategie haben der junge französische Streetart-Künstler und Fotograf JR und die 90 Jahre alte Regisseurin Agnés Varda zusammen einen Film gedreht, der auch noch für einen Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert war. Augenblicke: Gesichter einer Reise heißt der einschläfernde Film, der jetzt in die deutschen Kinos kommt und der die beiden Figuren und ihre Werke durch ganz Frankreich begleitet.


In Augenblicke macht sich das ungleiche Duo auf die Reise, um filmisch zu begleiten, wie JR die Gesichter von verschiedenen Franzosen fotografiert und dann im überlebensgroßen Format an Fassaden klebt. Dazu geben die beiden Künstler den Abgebildeten die Möglichkeit, etwas über sich, ihre Arbeit und ihr regionales Umfeld zu erzählen. Abgerundet werden die einzelnen Etappen entweder von unzähligen Selfies irgendwelcher Touristen, arrangierten Partys oder dem angeblichen Reflektieren der beiden Künstler. Insgesamt tut es einem Land wie Frankreich, das kulturell sehr stark von Paris dominiert wird, natürlich gut, wenn einmal auch kleine Dörfer und selten betrachtete Perspektiven und Menschen zum Zuge kommen. Denn von der letzten Bewohnerin einer früheren Minenstadt, über ausgestorbene Dörfer, einsame Bauernhöfe, verarmte Hippierentner, Frauen in Männerberufen, bis zu Fabrikarbeitern, bildet der Roadmovie alles ab. Über dem Film schwebt dabei stets das traurige Schicksal Vardas, die langsam erblindet und mit dem jungen, exzentrischen JR konfrontiert wird.

Die Fotografierten werden zu Objekten

Was zunächst wie ein recht abwechslungsreiches Portrait der Franzosen wirkt, ist doch nur eine einzige Banalität, sowohl in inhaltlicher als auch künstlerisch-stilistischer Hinsicht. Es macht zwar durchaus Sinn, will man in so großem Stil Leute portraitieren, wie JR es tut, auch deren Geschichten einmal filmisch aufzuzeichnen, aber um dies auf einer tieferen Ebene zu tun, fehlt die Zeit in dem nicht ganz anderthalb Stunden langen Stück. Jeder Protagonist bekommt lediglich die Möglichkeit, einige Sätze zu seinem Leben und seiner Arbeit zu sagen, ohne dass dabei etwas besonders Erwähnenswertes, Lernenswertes, Interessantes, Neues oder Unerwartetes offenbart wird. Primär werden hier Stereotype reproduziert, von Figuren, die in irgendeiner Weise, freiwillig oder unfreiwillig am Rand der Gesellschaft stehen. Wie genau diese Menschen sich damit auseinandersetzen, wird bestenfalls gestreift, was durch die gelegentliche Absurdität des Schnittes und den unkommentierten Widersprüchen in den Reden der Akteure nicht einer gewissen Komik entbehrt. Es scheint, als ob für die Filmemacher die Portraitierten bis zum Schluss nur Objekte ihrer Kunst bleiben, Objekte, denen sie keine Plastizität, kein Leben einhauchen wollen oder können. Denn viel wichtiger scheint den Filmemachern zu sein, wie sehr die Fotografien gefeiert werden, denn dies wird stets ausführlich dargestellt. Und wem diese Tour der Oberflächlichkeit und Selbstgerechtigkeit noch nicht reicht, der bekommt noch tautologische Kommentare bei pseudotiefsinnigen, aber allzu affektiert und arrangiert wirkenden Dialogen der beiden Künstler serviert, wobei sie dann immer sitzend dezent von hinten gefilmt werden, um ihren nachdenklichen Blick in die Ferne zu unterstreichen. Der Höhepunkt dieser Lächerlichkeit ist, dass die Regielegende Jean-Luc Goddard, früherer Freund von Varda, sich nicht mit ihr im Film treffen will, worüber sie sich echauffiert und stark verletzt zeigt. Wow, inhaltsloser und überheblicher geht es kaum – dabei wollen die beiden doch unbedingt in ihrer Kunst aufgehen.

Doch auch die künstlerischen Elemente von Augenblicke vermögen die Plattheit des Filmes nicht auszugleichen. JRs Fotographien in schwarz-weiß sind nicht gerade die hochkulturelle Kunst, bestenfalls eine riesige Fassadendekoration. Die Lebensbejahung der Bilder, besonders wenn dabei Menschen gezeigt werden, die sich sogar ihre Hoffnung noch einreden müssen, ist dabei doch nur Kitsch – also ein Kitt, der alles Kritische, der all die Risse, die durch die gezeigte Gesellschaft gehen, überdeckt. Raum für Kritik und Sorgen würde der Film nämlich genug geben, aber die Form des Werkes zerstört auch diese Chance. Denn viel wichtiger ist dabei, dass JR seine exzentrischen Spleens kultiviert, etwa immer seine Sonnenbrille aufbehält (man fragt sich, wen genau das eigentlich interessieren muss), oder die Pseudotragik der Erblindung von Varda, die doch durch Bildkunst lebte. Auch der Stil des affektierten Formats zeigt, dass es bei der Tour fast nur um die beiden Künstler geht und nicht um die festgehaltenen Augenblicke und die abgebildeten Personen.

Eine vermeintliche Avantgarde beschäftigt sich in der französischen Filmkunst wieder einmal mit sich selbst, unter dem Vorwand, etwas Fein- und Tiefsinniges zu produzieren, wenn sie Film und Fotografie mischt – so als ob dies noch eine innovative Idee wäre. Und dann glauben die Selbstgerechten auch noch, das Publikum müsste sie feiern, wie es die Jury in Cannes 2017 tat.


Beitragsbild: Street-Art-Künstler JR und Regisseurin Agnès Varda vor einem Fotokunstobjekt im Dokumentarfilm Augenblicke: Gesichter einer Reise

Neueröffnung der Kunsthalle Mannheim – Kunstmuseum der Zukunft?

Am Freitag den 01.06.2018 feiert die Kunsthalle Mannheim ihr Grand Opening. Nach der Fertigstellung des imposanten Neubaus wird die Kunsthalle mit neuem Konzept als “Stadt in der Stadt” präsentiert und will Impulse für das Kunstmuseum der Zukunft setzen. Neben einer Neuinszensierung der bisherigen Ausstellungen werden Werke des Fotokünstlers Jeff Wall in einer Sonderausstellung präsentiert. Wir waren zu einem Preview-Event eingeladen und durften dort schon einige Eindrücke für euch bildlich festhalten.


Nach fast drei Jahren Bauzeit präsentiert sich der architektonisch eindrucksvolle Neubau der Kunsthalle Mannheim, entworfen von Gerkan, Marg und Partner, am schönen Friedrichsplatz in Mannheim – sonst eher von Jugenstilgebäuden gesäumt.

Zusammen mit dem neuen Prachtgebäude stellt sich die Kunsthalle Mannheim auch konzeptionell neu auf: Die Kunsthalle soll als Kunstmuseum der Zukunft ein offener Raum in der Stadt sein, den Kuratoren, Künstler und Publikum gemeinsam gestalten. Ganz nach dem Mannheimer Stadtkonzept, welches vor allem durch die Stadtquadrate bestimmt ist, sammeln sich im Inneren des Baus sieben “Ausstellungshäuser” um ein lichtdurchflutetes Atrium. So zerfließen die Grenzen zwischen Stadt und Museum, zwischen Bürger und Museumsbesucher.

In den offenen Ausstellungen sind einerseits Neuinterpretationen von Schlüsselwerken der Sammlung – so etwa von Edouard Manet und Auguste Rodin – gezeigt. Aber auch internationale Künstler der Gegenwart wie etwa William Kentridge, Alicja Kwade und Anselm Kiefer präsentieren ihre Installationen und Bilder in den 13 Ausstellungsflächen.


Als Sonderausstellung sind außerdem unter dem Titel “JEFF WALL. APPEARANCE” Werke eines Pioniers der Fotokunst zu bewundern. Jeff Wall erkundet in seinen großformatigen Fotos den Platz der Fotografie innerhalb der Künste und spielt mit Bild-in-Bild-Beziehungen. Dabei sind viele seiner Bilder in riesigen Dia-Leuchtkästchen installiert.


Der Neubau der Kunsthalle Mannheim ist aber nicht nur Ausstellungsfläche, sondern beinhaltet alle wesentlichen Museumsfunktionen – neben den offen zugänglichen Kuben sind das z.B. auch die Depot- und Technikräume, die Restaurationsflächen sowie das Museumsrestaurant LUXX.

Als Kunstmuseum der Zukunft setzt die Kunsthalle Mannheim auch dezidiert auf eine moderne Digitalstrategie. Neben einer eigens gestalteten App kann man die Sammlung der Kunsthalle auf interaktiven Touchmonitoren erkunden.

Alle Informationen zum Grand Opening der Kunsthalle Mannheim und den gezeigten Ausstellungen findet ihr unter kuma.art. Schaut vorbei – es lohnt sich!


Bildnachweise:

Titelbild: Der Neubau der Kunsthalle Mannheim Foto: Kunsthalle Mannheim/ Constantin Meyer

Alle sonstigen Bilder: Kunsthalle Mannheim und die respektiven Künstler/ Fotos Martin Kulik

„Vive la France“ – Sempés Studie einer vielgestaltigen Nation

Auf der Frankfurter Buchmesse ist Frankreich der diesjährige Ehrengast. Grandement l‘heure, sich mit dem Nachbarn auseinanderzusetzen. Gelegenheit dazu bietet der umtriebige Sempé, der im Diogenes Verlag seinen Blick auf Land und Mitbürger offenbart.


Er kann problemlos zu den bedeutendsten Karikaturisten unserer Zeit gezählt werden. Jean-Jacques Sempé, 1932 in Bordeaux geboren, begann früh damit, die Kunst des Zeichnens für sich zu entdecken. Bereits in jungen Jahren fanden sich seine Werke in flächendeckenden Printmedien Frankreichs wieder. Später wurde er auch dem Ausland bekannt, insbesondere durch seine Titelblätter in The New Yorker. In seinen zahlreichen Koproduktionen traf er auf einflussreiche Figuren der illustrativen und literarischen Szene, wie unter anderem Asterix-Schöpfer René Goscinny, Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano oder Patrick Süskind.

Anlässlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse beschloss der Diogenes Verlag nun, einen Bildband herauszugeben, der mit ausgewählten Zeichnungen von 1970 bis heute gewissermaßen Sempés Portrait des eigenen Heimatlandes zusammenstellt und dem Œuvre des Künstlers im gleichen Zuge eine Hommage widmet. Dabei ist es dem Zürcher Verleger gelungen, eine ebenso träumerische wie launige Komposition zu schaffen.

Humoristisches Licht- und Schattenspiel…

Beim Betrachten reihen sich farbenfrohe Aquarelle an monochrome Bleistiftzeichungen. Einem erheblichen Teil ist jedoch die charakteristische Weite der zahlreichen Panoramazeichnungen natürlicher und sozialer Landschaften gemein. In diesem Zusammenhang wendet der Karikaturist seinen Blick gleichermaßen auf die urbane Struktur Paris‘ und die geographische Vielfalt des ruralen Frankreichs. Mitten in diesen Bildnissen finden sich einzelne, sich äußernde Gestalten wieder. Diese übernehmen zwar immer wieder eine Schlüsselrolle für das jeweilige Zeichenwerk, wirken darin meist aber doch verloren. Auf diese Weise schafft Sempé ein faszinierendes Zusammenspiel zwischen individueller Wertigkeit und paralleler Bedeutungslosigkeit.

Portraitiert werden verschiedene Lebenswelten. Dabei erfreuen sich das Bürgertum, die Arbeiterschaft oder Landbevölkerung alltäglicher Lebensfreuden ebenso wie sie sich über vermeintliche Belanglosigkeiten echauffieren. Während die Bilder gelegentlich eine triste und hoffnungslose Atmosphäre vermitteln, wohnt dem Schaffen Sempés stets eine unübersehbare Komik inne. Dies und die Tatsache, dass der Künstler die Betrachterrolle ausfüllt, indem er sich als stiller Beobachter vom Menschen und dessen Verhältnis zu Umwelt auszeichnet, gehören zweifellos zur großen Stärke Sempés.

…mit Leerstellen

Jean-Jacques Sempés Anspruch scheint es zu sein, den Blick teils als kritisches, teils als urteilsfreies Stillleben sozialer Interaktionen auf die französische Nation zu werfen. Dies vollführt er durchweg auf eine liebenswürdige und charmante Art und Weise, möglicherweise um somit einerseits niemanden seiner Landsleute zu verprellen und andererseits aus nachvollziehbaren Gründen seine universelle Reichweite nicht einzubüßen. Was dabei offensichtlich mit Bezug auf die hier besprochene Sammlung auf der Strecke bleibt, ist aber die soziokulturelle Vielfalt Frankreichs, die sich nicht zuletzt in der jüngeren Vergangenheit als nationale Herausforderung herausgestellt hat. Angesichts dieser Tatsache ist es nur verwunderlich, dass bei der Lektüre von „Vive la France“ wenig bis gar nichts vom nicht zu verschweigenden und prägenden kolonialen Erbe zu erkennen ist. In dieser Hinsicht wird dieser Kunstband auch seinem jubilierenden Titel gerecht.


Vive le France hat 128 Seiten und erschien im Diogenes Verlag.

Tattoos in der Kunst

Tattoos in der Kunst

Tattoos sind heute längst im Mainstream angekommen. Fast ein Drittel der 25 bis 34-jährigen hat sich schon mindestens ein Bild auf die Haut stechen lassen. Trotz der erhöhten Präsenz von Tattoos in der Populärkultur gibt es bisher nur wenige kunsthistorische Analysen dieser Ausdrucksart. Tattoo-Forscher Ole Wittmann legt nun in seinem Buch Tattoos in der Kunst den Fokus darauf, Tätowierungen als eigenständige Kunstwerke zu untersuchen.


Tattoos als Gegenstand der Wissenschaft

Wieso lassen sich Menschen tätowieren? Rituelle Symbolik, Körperkult, individueller Ausdruck oder gar Antikultur? Genau diese Art der Fragen bestimmten bisher die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Tattoos. Es ging vor allem um anthropologische, soziologische, psychologische und medizinische Perspektiven auf das Phänomen “Tattoo” in seinen entsprechenden Geltungsbereichen. Doch die Tätowierung als Kunstwerk wurde aus einer kunsthistorischen Perspektive bisher eher stiefmütterlich behandelt. Genau diesen Missstand will Ole Wittmann mit seiner ursprünglich als Dissertation an der Universität Hamburg eingereichten Arbeit beheben: Die Tätowierung soll als eigenständiges Kunstwerk untersucht werden, das besondere künstlerische Kontexte einschließt.

Wittmann untersucht in Tattoos in der Kunst zunächst die werkspezifischen Eigenschaften der Tätowierung auf dem Bildträger Haut, bevor er Komposition, Platzierung und Ikonograpfie von Tattoos in ihrer Geschichte seit dem 19. Jahrhundert näher beleuchtet. Ikonologie, Motiv und Trägermaterial stehen dabei in einer besonderen Beziehung, die Wittmann am Beispiel von Damien Hirsts Werk butterfly, divided, das sich des berühmten Schmetterlingssymbols annimmt, exemplifiziert.

Die Haut als Bildträger

Eine Besonderheit der Tätowierung als Kunstwerk sind die materialspezifischen Eigenheiten des Bildträgers – bei einem Tattoo werden Farbpigmente von dem Künstler direkt in die Haut eingebracht. Der Vorgang des Tätowierens ist dabei vergleichbar mit einer künstlerischen Performance:

“Gewissermaßen wird ein Aktions-Kunstwerk durch eine Tätowierung materialisiert, das Einbringen von Farbe in die Haut macht das Tattoo zum Bild und den Körper zum Bildträger. Zwar unterliegt die Lebensdauer einer solchen Arbeit ebenfalls der Endlichkeit, doch bewirkt der Tätowiervorgang eine dauerhafte Präsenz des originären Werkes.”

Eine Tätowierung ist dauerhaft, doch im Gegensatz zu konventiellen Materialen aus der bildenden Kunst, wie etwa Marmor oder Leinwand, verändert sie sich viel stärker. Tattoos sind einem Alterungsprozess unterworfen, der Einfluss auf Komposition und Handwerk hat. So bleichen etwa die heute sehr populären “Aquarelltattoos” sehr viel schneller aus als traditionelle Tattoos, da ihnen die schwarzen Outlines fehlen. Ole Wittmann sieht den Tätowierer dabei einerseits in der Pflicht die Qualität des Tattoos auch hinsichtlich des Alterungsprozesses zu bedenken. Andererseits erkennt er unkonventionelle und experimentelle Tattoos als notwendigen künstlerischen Ausdruck, um den Willen zur Veränderung und Weiterentwicklung innerhalb dieser Kunstrichtung zu erhalten.

Komposition und Ikonologie der japanischen und europäischen Tätowierung

Der Körper als Bildträger beeinflusst nicht nur die Vergänglichkeit des Kunstwerkes, sondern er nimmt auch immensen Einfluss auf Komposition und Platzierung der Tätowierung.

Ein gutes Tattoo passt sich der natürlichen Physis des Körpers an. Sehr deutlich wird dies an den englischen Bezeichnungen für Tätowierungen. Ein Tattoo, das den ganzen Arm bedeckt wird etwa als “full sleeve” (voller Ärmel) betitelt, ein komplett tätowierter Körper sogar als “full body suit”. Gerade in der japanischen Tradition werden oft große Teile des Körpers mit “bebilderten Hauthemden” überzogen, in der einzelne Motive zu einer großen Darstellung verschlungen werden. In Europa hingegen wurden oft Einzelmotive ohne besondere Berücksichtung der Formen des menschlichen Körpers aufgetragen. Wittmann zeigt, dass sich europäische Tattoos in ihrer Tradition dennoch der Physis des Menschen als humoristische oder illusionistische Leinwand bedienen. Hierbei werden bestimmte Körperteile als Teil des Bildes eingesetzt – etwa eine Brustwarze als Nase einer Katze. Diese, von Wittmann als “metomorphische Tattoos” bezeichneten, Hautbilder instrumentalisieren die Physis des Menschen und machen ihn so noch stärker zu einem wesentlichen Bestandteil des Kunstwerkes.

Das Anpassen von Tattoos an die Physis des Menschen geschieht oft unter besonderer Berücksichtungen von Symmetrie (man denke etwa an “Flügel-Tattoos”). Motive, die symmetrisch ausgerichtet sind, erfreuen sich deshalb verständlicherweise einer großen Popularität. Eines der meisttätowierten Bilder ist etwa der Schmetterling, der bis heute ein klassisches Motiv geblieben ist.

Die Schmetterlingsdarstellung und Damien Hirst

Ole Wittmanns eingehende Untersuchung der ikonologischen Eigenheiten von Tattoos und der besonderen Motivgeschichte des Schmetterlings bereiten die Hauptanalyse seines Buches vor: Damien Hirsts Werk butterfly, divided, bei dem Hirst den Tätowierer Mo Coppoletta einen Schmetterling um die Vulva einer Frau stechen ließ. In diesem Kunstwerk laufen einige bisherige Ergebnisse Wittmanns zur Tätowierung zusammen: in einer metamorphischen Tätowierung wird der Körper als Teil des Motivs instrumentalisiert. Durch die explizite Platzierung auf der Scham der Frau bietet das Werk nicht nur kunsthistorische Referenzen (etwa: Die Geburt der Venus), sondern entfaltet auch eine Öffentlichkeitswirksamkeit in der Kunstwelt, die bisher für die Tätowierung so nicht bestanden hat. Wittmann zeigt allerdings eindrücklich, dass Hirst hiermit keine wirkliche künstlerische Innovation hervorbringt, sondern sich vielmehr nur Elementen bedient, die sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Tätowierkultur schon eine lange Tradition hatten.

“Die Überführung dieses lowbrow-Mediums in die high art hatte etwa vierzig Jahre vorher stattgefunden, die Motividee ist wenigstens über ein halbes Jahrhundert alt. Das Vorgehen, low in high zu transferieren und durch die Kontextverschiebung in die Sphären des Kunstsystems eine Novität zu schaffen, kann hier somit nicht greifen.”

Hirst Butterfly Divided Garage Magazine

Titelbild des Garage Magazines mit einer zensierten Fotografie von butterfly, divided

Tattoos in der Kunst ist eine der ersten tiefergehenden kunstwissenschaftlichen Untersuchungen, die das Tattoo als Kunstwerk ernstnimmt. Wittmann berücksichtigt nicht nur die Eigenheiten des Materials und der Praxis, sondern gibt auch umfangreichen Einblick in Kompositions- und Motivgeschichte der Tattootradition in Japan und Europa. Ein Buch, das nicht nur Kunstwissenschaftler oder Tattoobegeisterte überzeugen wird.


Wittmann Tattoos in der Kunst Cover

Ole Wittmann: Tattoos in der Kunst

Materialität – Motive – Rezeption

49,00 €

ISBN 978-3-496-01569-7

Erschienen März 2017 im Reimer Verlag