Kategorie: Interviews

Marijana Dokoza – Von Krieg und Frieden

Krieg – ein abstraktes Bild in modernen Wohlstandsstaaten. Dass vor nicht allzu langer Zeit ein grausamer Krieg ein europäisches Land beherrschte, ist vielen nicht bewusst. Zur bevorstehenden Veröffentlichung ihrer belletristischen Werke in verschiedenen Sprachen, erzählt Schriftstellerin und Journalistin Marijana Dokoza von schönen und schrecklichen Einflüssen auf ihre Arbeit.

Ein Gastinterview von Daniel Hadrović
übersetzt von Sandra Marelja Muić


Kürzlich hast du die deutschsprachige Literaturlandschaft mit deinem Roman „Die Stimme“, welcher beim Dittrich Verlag erschienen ist, betreten. Besteht für hiesige Fans die Hoffnung auf weitere Übersetzungen, da du bereits mehrere Werke erfolgreich in Kroatien veröffentlicht hast?

Selbstverständlich wird es auch Übersetzungen von meinen anderen Romanen, wie beispielsweise „Grijesi“, „Sünden“, geben. Dieser Roman gründet auf der wahren Geschichte einer Frau, die ihre Vergangenheit hinter sich lässt und ein neues Leben beginnen möchte, jedoch begreift, dass sie sich vor den Sünden der Vergangenheit nicht verstecken kann. Sie wird immer wieder in die Vergangenheit zurückversetzt. Um mit ihrem Leben weitermachen zu können, wird sie einiges aus der Vergangenheit in Ordnung bringen müssen. Neben „Sünden“ ist auch die Übersetzung von „Naranyas Weinen“ ins Englische geplant, wie auch die Übersetzung von „Das Spüren“ ins Italienische.

„Die Stimme“ ist ein teils in ein medizinisches Setting gesetzter Mystery-Roman, welcher der Hauptprotagonistin Kiara auch genügend Raum für ihre Herzensangelegenheiten einräumt. Obwohl die Geschichte flüssig zu lesen ist, bedienst du dich nicht der minimalistischen Narration, der sich viele Autor/innen moderner Unterhaltungsliteratur verschrieben haben. Kannst du benennen, worauf grundsätzlich dein Hauptaugenmerk beim Schreiben liegt?

„Die Stimme“ unterscheidet sich etwas von meinen anderen Romanen, in denen das Erzählen der Ereignisse und die Beschreibung der Figuren sehr betont sind. „Die Stimme“ versetzt den Leser aus der Realität in einen Zustand, in dem er nicht mehr sicher ist, ob es um Halluzinationen geht oder ob die Hauptfiguren das alles wirklich durchmachen. Ansonsten versuche ich den Lesern mit meiner Erzählweise und dem Figurendialog das Gefühl ein Teil der Handlung zu sein zu geben und die Möglichkeit, sich in die Rolle der Figuren zu versetzen.

Würdest du mir zustimmen, dass dein Roman, neben sanften Einflüssen aus dem kroatischen Kulturraum, auch einige klassisch slawische Motive aufweist? Der Rolle von alten weisen oder intriganten Frauen beispielsweise, welche Assoziationen zu Hexen erwecken könnten, begegnet man immer seltener, je weiter man sich von Osteuropa entfernt.

Ja, selbstverständlich kann man in manchen Situationen im Roman Eigenschaften der Frauen finden, die „ein bisschen Hexen“ sind und die in der kroatischen Kultur Wurzeln haben. Jedoch sehe ich bis zu einer gewissen Grenze nichts Verkehrtes darin. In jeder Kultur gibt es „Hexen“ die als Vorlage für viele interessante Geschichten dienen.

Es geschieht alles andere als vordergründig, aber durch die unterschiedlichen Bausteine des Plots wirkt es, als wolltest du die Infiltration unserer technisierten Lebenswelt durch folkloristische Elemente inszenieren. Spiegelt dieses Verfahren vielleicht einen Teil deiner eigenen Mentalität wider, die womöglich deinem Umzug nach Deutschland geschuldet ist? Ist darin eine Metapher für etwaiges Heimweh erkennbar?

Mein Umzug nach Deutschland hat sicherlich auf meine Einstellung Einfluss gehabt, was sich später auch auf mein Schreiben auswirkte. Womit der Mensch aufgewachsen ist und welche Erfahrungen er gesammelt hat, bleibt immer in ihm erhalten. Später baut man dieses mit neuen Erkenntnissen auf. Als ich nach Deutschland kam, lernte ich viel über verschiedene Kulturen und ihre Denkweisen, was mir die Möglichkeit gab, die eigene Kultur mit der fremden zu vergleichen oder das eigene Aufwachsen mit dem von jemanden aus einer anderen Kultur. Deutschland half mir auch auf meine Heimat anders zu schauen. Ich würde sogar sagen, meine Heimat mehr wahrzunehmen, vielleicht auch sie stärker zu spüren. Da, wo man zuhause ist, denkt man nicht viel darüber nach. Natürlich spiegelt sich das alles auch in meinem Schreiben wieder.

Lass uns bei deinem Geburtsort bleiben. Du bist in der Stadt Zadar geboren und aufgewachsen, welche im Zuge des Kroatienkrieges unter Beschuss stand. In deinem vorangegangenen Roman „Grijesi“ (Sünden), der nur auf Kroatisch erschienen ist, hast du das Thema Krieg aufgegriffen, aber nicht an deine eigene Biografie geknüpft, sondern an reale Erlebnisse einer Bekannten von dir, welche ebenfalls aus Zadar stammt. Das steht im starken Kontrast zu einem Mystery-Roman. Ist es dir ein Anliegen, „Grijesi“ auch deutschen Lesern irgendwann vorstellen zu können, oder richtet es sich an eine kroatische Zielgruppe, die konkrete Bezüge zu damaligen Ereignissen knüpfen kann?

Im Roman „Die Sünden“ gibt es keine Kriegsbeschreibungen, sondern einzelne Situationen, in denen sich die Frau, über die ich schreibe, befunden hat. Sie hat im Heimatkrieg ihren Verlobten verloren und sie verrät uns alles, was sie in der Kriegszeit durchgemacht hat. Es stimmt, „Sünden“ ist der pure Gegensatz zu „Die Stimme“. Sie ist die Lebensgeschichte einer Frau, mit der ich mich ein Jahr lang in Mainz getroffen hatte, da sie heute in Deutschland lebt. Sie erzählte mir über ihr Leben und ich übertrug die Geschichte aufs Papier. Ihre Geschichte ist sehr dramatisch, viele sagten mir, sie hätten geweint, als sie das gelesen haben. Sie ist nach Deutschland gekommen, um ihrer Vergangenheit zu entkommen, sie holte sie aber auch in Deutschland ein. Der Roman ist nicht bloß an eine kroatische Zielgruppe gerichtet, sondern an alle Lesergruppen. Der Ehemann der weiblichen Hauptfigur im Roman ist beispielsweise Deutscher. Dies ist vorrangig die Geschichte über eine durch ihre Vergangenheit traumatisierte Frau. Die Vergangenheit holte sie in Deutschland ein, obwohl sie jetzt in einer ganz anderen Gesellschaft lebt als vor dreißig Jahren.

Für deine kroatischen Fans dürfte irritierend sein, dass „Die Stimme“ ausschließlich in Deutsch erschienen ist – ist das richtig? Was sind die Gründe dafür, denn du hast das Manuskript in Kroatisch verfasst?

Ja, ich wurde oft gefragt, warum ich das Buch nicht zuerst in Kroatien veröffentlicht habe, obwohl ich „Die Stimme“ auf Kroatisch geschrieben habe. Ich habe das Manuskript einer angesehenen Buchkritikerin zum Lesen gegeben, sie war von der Handlung begeistert und riet mir, das Buch zuerst auf Deutsch erscheinen zu lassen, da der deutsche Markt viel größer ist als der kroatische und somit auch seine Möglichkeiten – und so fing alles an. Jetzt werde ich oft in Netzwerken gefragt, wann der Roman auf Kroatisch erscheinen wird, was sicherlich in absehbarer Zeit passiert. Zuerst werde ich mich aber auf das englische Sprachgebiet konzentrieren, da man mit einem Buch in englischer Auflage verschiedene Teile der Welt erreichen kann.

Du schreibst nicht nur Belletristik, sondern arbeitest als Journalistin für die größte seriöse kroatische Zeitungen „Večernji list“. Außerdem bist du Chefredakteurin des Wochenmagazins „Fenix“. Hatten dich die Kriegsjahre bei deiner Berufswahl beeinflusst?

Den größten Einfluss hatte mein Vater auf mich, der für das Volksblatt gearbeitet hatte. Das Volksblatt, welches in Zadar herausgegeben wird, ist die älteste aktive Zeitung in Europa. Ich bin mit Zeitungen und Büchern, die er immer wieder nach Hause brachte, aufgewachsen. Darunter befand sich sogar deutsche Literatur. Hedwig Corths-Mahler ist beispielsweise eine deutsche Autorin, deren Bücher ich alle gelesen habe, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Ich war dreizehn, als der Heimatkrieg begann, und lebte im Dorf, welches nur einige Minuten von Škabrnja entfernt war. Škabrnja ist der Ort, in dem man massenweise die Bewohner geschlachtet hatte. Am Tag, als die serbische Armee in Škabrnja eingedrungen ist, befand ich mich im Hof meines Hauses und wusste nicht, wohin ich flüchten sollte. Es entstand eine große Panik und die Menschen flüchteten, schrien, ich werde den Tag nie vergessen. Später befand ich mich als Flüchtling mit einem Mädchen zusammen, die in einem Schulaufsatz beschrieben hatte, wie sie aus Borovo Selo geflohen war und wie sie sich von ihrem Vater, den sie nie wieder gesehen hatte, verabschiedete. Sie lebt heute auch in Deutschland. Wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte, wäre vielleicht auch mein Werdegang ganz anders. Niemand weiß, was ihm das Schicksal bringen wird. Diese Kriegssituationen, in denen ich mich selber gefunden hatte, erleichterten mir die Gefühlsbeschreibungen der Hauptfigur von „Sünden“, so hatte ich selbst mehr Einfühlungsvermögen. Ich wusste jedoch von klein auf, dass ich keinen „normalen Beruf“ will.

Mir las keiner eine Gute-Nacht-Geschichte vor, das tat ich selber. Wenn ich mich zum Schlafen legte, dachte ich mir verschiedene Szenarien und Geschichten aus und schlief so leichter ein. Journalismus und Literatur sind zwei große Lieben von mir, die sich verflechten. Ich bin stolz, heute Chefredakteurin von „Fenix“ zu sein. Wenn wir über aktuelle Ereignisse berichten, die von Krieg handeln, behandeln wir die Informationen wahrhaftig, objektiv und wahrheitsgetreu. Was passiert ist, muss man auch in Erinnerung behalten, damit es nie wieder geschieht. Das bedeutet aber keinesfalls, dass man Kinder bzw. die folgenden Generationen zum Hass gegen andere erziehen soll. Ganz im Gegenteil, man sollte ihnen beibringen, niemanden aufgrund seiner Nationalität, seiner Religion oder seiner politischen Ansicht zu hassen, damit sich nie wieder ein Krieg wiederholt. Mich hat mein Vater gelehrt, dass man immer das Seinige lieben und das Fremde respektieren sollte. Wenn sich alle daran halten würden, gäbe es viel weniger Probleme.

Über deinen beruflichen Werdegang kann man noch mehr erfahren, wenn man recherchiert, aber zu deinem Privatleben findet man sehr wenig. Andere Autorinnen suggerieren mit detaillierten Informationen zu ihrem Privatleben eine Verbindung zu potentiellen Konsumenten. Wie ist deine Haltung dazu?

Ich bin der Meinung, dass Privates privat bleiben soll, deswegen verwendet man auch den Begriff „Privatperson“. Es gibt Menschen, die es lieben, im Privatleben anderer rumzuschnüffeln. In meinen Romanen gibt es auch Teile von mir als Privatperson, aber das können nur diejenigen erkennen, die mich gut kennen. Ich glaube, dass alle Schriftsteller zu einem gewissen Teil in ihre Romane etwas von sich einfließen lassen, aber eigentlich sind introvertierte Menschen für andere viel interessanter als diejenigen, die zu viel von sich preisgeben.

Du bist als Journalistin rund um die Uhr mit allen möglichen Themen aus dem aktuellen Weltgeschehen versorgt. Zeichnet sich schon ab, welche Einflüsse und Ideen in dein nächstes Buchprojekt einfließen könnten?

Als Journalist lernt man Menschen kennen, die eine solche Lebensgeschichte haben, dass man eigentlich gar keine Phantasie zu haben braucht, man braucht ihnen nur zuzuhören. Genau wie ich dem realen Vorbild für „Sünden“ zugehört habe. Ein anderes Mal lernte ich für ein Zeitungsinterview eine Frau kennen, deren Lebensgeschichte eine neue Romanvorlage ausgezeichnet wäre. Sie ist achtmal dem Tod entgangen. Ihr passierten unglaubliche Dinge im Leben und aus diesem Grund sagt sie heute, dass sie glaubt, jederzeit wieder einer Gefahr begegnen zu können. Mit Ihr werde ich mich Ende Dezember treffen und dann werden wir sehen, in welche Richtung diese Zusammenarbeit uns bringen wird.

Auf welchen Online-Plattformen kann man dir folgen und in Erfahrung bringen, wo man dir live begegnen und Lesungen von dir besuchen kann?

Meine Bücher kann man im Buchhandel und auch über Amazon, www.booklooker.de sowie in anderen Online-Büchereien bestellen. Ich bin auch auf Facebook, Instagram und Twitter zu finden.

Der Winter steht vor der Tür. Erzähle zum Abschluss doch bitte, wie und wo du die Feiertage verbringen wirst.

Ich werde drei Wochen mit meiner Familie in Zadar verbringen und dazwischen einen Leseabend in Bosnien und Herzegowina haben. Die Winterfeiertage werde ich sowohl zur Erholung als auch für die Arbeit nutzen.

Vielen Dank, für die Einblicke in deine Arbeiten! Auf ein baldiges Wiedersehen!

Vielen Dank für das angenehme Gespräch.


Daniel Hadrović ist als Autor und Filmemacher aktiv. Seine kleinen Independent-Produktionen tragen surreale und gesellschaftskritische Züge.

Alexander Tuschinksi, Filmregisseur, 31 Jahre, aus Stuttgart

Tuschinski arbeitet derzeit an seinem sechsten abendfüllenden Spielfilm „Fetzenleben“. Doch seine ersten Schritte beim Film ging er bereits mit 17 Jahren. Es entstanden Dokumentationen, Musikvideos, Romane und Musik. So gesagt kann man den Begriff „Filmregisseur“ nur als Oberbegriff verwenden. Er arbeitet international und mit Filmgrößen wie Helmut Berger (Ludwig II.) und Harry Lennix (Matrix Reloaded, Batman v Superman) zusammen. Seine Filme wurden wurde seit Anbeginn seines Schaffens mit vielen Preisen bedacht.

Ein Gast-Interview von Thomas Goersch


Hallo Alexander, du arbeitest derzeit am Spielfilm “Fetzenleben”, der auf deinem gleichnamigen Roman basiert. Der Film ist in großen Teilen frei improvisiert, übernimmt aber auch feste Textpassagen aus deinem Buch. Sozusagen eine Literaturverfilmung, die sich gleichzeitig wieder vom Buch wegbewegt. Diese Verwebung von Vorlage und Improvisation hört sich sehr ausgeklügelt an. Erzähle uns etwas über die Geschichte des Filmes. Wo hast du den Roman verwendet und wie passte dort die Improvisation hinein?

Hallo Thomas, als ich „Fetzenleben“ vor ein paar Jahren schrieb, dachte ich nicht daran, den Roman je zu verfilmen. Es gibt zwar eine äußere Handlung, aber die inneren Monologen und Beobachtungen der Hauptfigur sind meist im Vordergrund. Der Film ist deshalb sehr frei adaptiert und ändert vieles ab. Er behandelt die im Roman nur angedeutete Vorgeschichte des Erzählers mit dessen Ex-Freundin und verwendet teils Motive und Texte aus dem ersten Drittel des Buches. Roman und Film sind für mich daher zwar gleichwertige, aber komplett separate und sehr unterschiedliche Werke.

Anders als der Roman spielt der Film in Paris. Der Dreh dort im Sommer war ein Experiment. Ich wollte mir ganz ohne Drehbuch spontan Szenen ausdenken und sehen, wohin uns das treiben würde. Wir alle wohnten beim Dreh zusammen, es war für die Kreativität sehr fruchtbar. Nachts dachte ich mir neue Sequenzen aus, beim Frühstück besprachen wir sie und filmten sie dann bis spät abends. Wir drehten danach einige Szenen in Deutschland und im Herbst nochmal in Paris. Seit etwa drei Monaten schneide ich fast täglich den Film und komponiere die Filmmusik. Erst beim Schneiden bestimme ich die präzise Gesamtstruktur. Ich möchte die Geschichte nicht chronologisch „abarbeiten“, denn der Film soll ähnlich wie der Roman in assoziativen Gedankenfetzen erzählen. Teils ändere ich Szenenfolgen immer wieder ab, bis ich das Gefühl habe, die Reihenfolge ist perfekt. 

Du besetzt deine Filme immer sehr durchmischt, wenn man das so sagen darf. Da haben wir Film-Weltstars, Theaterleute und dann auch wieder totale Neulinge. In Fetzenleben hast du dich bei Aron Keleta und Theresa Mußmacher entschieden. Einen erfahrenen Theaterschauspieler und eine Schauspielschülerin. Wie entscheidest du dich für Schauspieler und warum gerade diese Wahl in „Fetzenleben“?

Aron sah ich Anfang des Jahres erstmals auf der Bühne und war begeistert von seinem intensiven Spiel und seiner charismatischen Ausstrahlung. Mit Theresa hatte ich bereits gedreht und dachte sofort, dass sie perfekt für die weibliche Hauptrolle wäre. Sie beide haben im Film eine unheimlich gute Chemie.

Allgemein besetze ich Rollen oft nach meinem spontanen Gefühl, wie die Person wohl im Film wirken wird, unabhängig von ihrer Ausbildung. Ich mag es, wenn alle Mitwirkenden kreativ auf einer Wellenlänge sind, am Set mit mir Ideen diskutieren und gerne viel ausprobieren. Viele Darsteller werden zu Freunden bzw. sind schon Freunde, die ich im Film besetze. Ich kenne inzwischen zahlreiche professionelle Schauspieler und auch Laiendarsteller, von denen einige schon seit mehr als zehn Jahren immer wieder bei meinen Filmen mitwirken. Auf Filmfestivals habe ich einige bekannte US-Schauspieler kennengelernt und war mit ihnen oft mehrere Jahre befreundet, bevor wir drehten. Manchmal schreibe ich auch Schauspieler direkt an, wie z. B. Helmut Berger. Ihn bewundere ich seit meiner Jugend und schrieb seinem Management, als ich eine Rolle für ihn hatte. Inzwischen sind auch wir Freunde und er hat in bisher zwei meiner Filme mitgewirkt.

„Fetzenleben“ wurde in großen Teilen in Paris gedreht. Und auch sonst bist du sehr international ausgerichtet. Du drehst Dokumentationen über weltweite Themen und stellst deine Filme auch auf der ganzen Welt auf Festivals vor und auch der Vertrieb deiner Filme im Ausland ist dir wichtig. Wenn ich mir deine Filme anschaue, haben sie auch keine deutsche Handschrift. Du wurdest einmal in der Machart mit „den frühen Filmen von Woody Allen“ verglichen. Gehst du in deiner Art und Weise Filme zu machen diesen Weg bewusst international an?

Ich denke, in jedem Land finden sich Künstler mit den verschiedensten stilistischen „Handschriften“. Aber ich höre diese Meinung zu meinen Filmen öfter. Ich denke, es hängt vielleicht mit meiner Bildsprache und meinem Erzählstil zusammen, die offenbar etwas „ungewohnt“ sind im Vergleich zu vielen Filmen, die z. B. aktuell in Deutschland entstehen. Darauf kalkuliere ich aber nicht, ich gestalte Filme intuitiv danach, was ich für die jeweilige Szene/das jeweilige Projekt als ästhetisch empfinde. Schon als Teenager sah ich beispielsweise gerne Independentfilme der 60er- und 70er-Jahre, vielleicht hat das mein Stilempfinden beeinflusst. Und meine Dokumentarfilme behandeln Themen und Personen, die ich meist einfach der Nachwelt filmisch „bewahren“ möchte.

Es fühlte sich seit meiner Jugend für mich intuitiv „richtig“ an, meine Filme weltweit laufen zu lassen. Es macht mir Spaß, wenn Menschen aus verschiedenen Ländern sie diskutieren. Allgemein mag ich es, Kunstwerke detailliert zu analysieren. Als Teenager war ich fasziniert von Analysen und Artikeln über Filme in oft englischsprachigen Medien. Ich glaube, es war schon immer ein mehr oder weniger unterbewusster Wunsch, dass meine Filme international gesehen und so potentiell irgendwann in den weltweiten Diskurs eingehen können.

Um von international mal direkt auf Deutschland zu kommen. Für dich regnet es schon seit Beginn deines Filmschaffens und bis heute Preise – und du läufst auf vielen Festivals. Diese Anerkennung findet dabei meistens im Ausland statt. Ich frage mal offen und frech: Haben deutsche Filmschaffende bei Festivals eher ein Problem mit deiner internationalen Schaffensart und erwarten vielleicht einen typisch deutschen Ansatz? Wie siehst du den deutschen Film? Hast du hier Berührungspunkte? Wie denkst du über die deutsche Filmwelt?

Meine Filme laufen zwar bisher öfter im Ausland, aber auch in Deutschland sind sie immer wieder auf Filmfestivals zu sehen und sie haben auch hier Preise gewonnen. Meine bisherigen Filme habe ich meist sehr „independent“, unabhängig von der allgemeinen deutschen Filmlandschaft, gedreht. Ich habe mich dabei auch nicht bewusst an aktuellen filmischen Trends hierzulande orientiert. Ich bin kein Freund von Verallgemeinerungen, daher unter Vorbehalt eine nicht-repräsentative Beobachtung: In Deutschland höre ich von Filmschaffenden auf Festivals tendenziell etwas öfter als z .B. in den USA starke Meinungen, wie ein Film „technisch richtig“ zu gestalten sei, gerade auch bei Stilfragen wie Bildsprache oder Drehbuch. Wenn ein Film davon abweicht, wird es schneller als „Fehler“ denn als bewusstes Stilmittel bewertet. In den USA wird der verspielte, oft unkonventionelle Stil meiner experimentelleren Filme auf Festivals fast durchweg von Zuschauern und Fachleuten gelobt, in Deutschland hatte ich nach Vorstellungen manchmal kontroverse Diskussionen mit einigen Leuten darüber. Ob man daraus einen Trend herauslesen kann oder ob das Einzelbeispiele sind, will ich nicht beurteilen, denn es gibt auch aus Deutschland viele sehr positive Stimmen zu meinen Werken und ich mag es, sie überall zu präsentieren.

Du bist einer dieser Filmregisseure, mit denen man nicht nur über das derzeitige Filmprojekt sprechen kann um dies zu promoten, sondern man muss bei dir auch über deine verschiedenen Stilmittel, außergewöhnlichen Projekte, wiederkehrenden Themen und „Konstantin“ sprechen. Hierzu gleich einige Teilfragen: 

Die Stummfilmzeit und Musik der 1920-ziger – in deinen Filmen hören wir immer wieder Musik der Schellack-Plattenzeit und auch bildlich Hommagen an die Stummfilmzeit. Und natürlich dein Kurzfilm „Woyzeck“. Erzähle uns etwas über deine Liebe zu dieser Filmzeit.

Ich liebe die Stummfilmästhetik. Regisseure probierten gerade ab den späten 1910ern teils extrem innovative Montagen und Kameratricks aus. Meine Faszination begann mit drei oder vier Jahren. Wir hatten zu Hause viele VHS-Kassetten mit Charlie-Chaplin-Filmen und anderen Stumm- und frühen Tonfilmen. Als Kind schaute ich sie gerne immer wieder, oft mit meinem Vater zusammen. Gerade in den USA bin ich mit vielen Film- und Musikhistorikern befreundet und diskutiere dort sehr oft Werke jener Epoche. Und wenn ich mit Freunden in Paris bin, führe ich sie immer zur Sammlung der Cinémathèque française zu den ersten Jahrzehnten der Filmgeschichte. 

„Mission: Caligula“ – einer deiner bekanntesten Dokumentarfilme. Aber viel mehr als eine Dokumentation, sondern mit sehr viel Vorgeschichte und, wie man auch sagen kann, Filmgeschichte. Erzähle uns die Hintergründe über das Entstehen.

Seit Jahren beschäftigt mich, wie der Film „Caligula“ gewesen wäre, wenn Tinto Brass ihn nach seinen Absichten fertiggestellt hätte. Ich wollte, dass mehr Menschen darüber erfahren, deshalb der Dokumentarfilm. Ich mag den Schnittstil von Tinto Brass’ experimentellen Filmen der 60er und 70er. Er drehte „Caligula“ 1976 eigentlich als provokante politische Satire. Gegen seinen Willen wurde der Film neu geschnitten, politische und satirische Szenen entfernt oder verändert und pornographische Szenen nachgedreht. Er ließ seinen Namen als Regisseur streichen und keine Fassung ähnelt seiner beabsichtigten. Vor über zehn Jahren begann für mich damit eine heute noch nicht abgeschlossene Odyssee. Im Lauf der Jahre freundete ich mich mit Tinto an, lernte Historiker und Beteiligte auf der ganzen Welt kennen und half dabei, das Archiv mit dem gesamten Rohmaterial und Tintos halbfertigem Rohschnitt von „Caligula“ wiederzuentdecken. „Mission: Caligula“ gibt es kostenlos im Internet. Ich bekomme seit der Veröffentlichung extrem viele positive und ermutigende Zuschriften von Fans, Filmhistorikern und anderen Interessierten. Schlussendlich hoffe ich, irgendwann eine Fassung von „Caligula“ zu veröffentlichen, die Tinto Brass’ Absichten entspricht.

Deine Spielfilme erzählen eigentlich immer recht normale Geschichten über Liebe, Partnersuche und Beziehungen, natürlich in ihren skurrilen Art. Das Ganze wird durch Elemente angereichert, die absurd in der Geschichte anmuten. Da fallen Menschen durch ein Zeitloch und stehen zwischen Panzern im 2. Weltkrieg auf. Oder mitten im Film kommt eine Szene einer amerikanischen Sitcom. Manchmal fragt man sich später: Und was hatte das jetzt mit dem Film zu tun? Wie kommst du auf so etwas?

Ich erzähle in Filmen gern entgegen von Erwartungshaltungen. Unerwartete stilistische Elemente, von denen du sprichst, setze ich intuitiv ein, wenn es sich für mich richtig anfühlt. Sie sind immer mit der Handlung verbunden und es muss zum Stil des Films passen, manches erzähle ich auch eher geradlinig. Die Sitcom, die du erwähnst, fasst z.B. in Timeless albern den Konflikt der Hauptfiguren zusammen und bricht dabei bewusst eine dramatische Szene auf. Die Weltkriegsszene illustriert im gleichen Film dagegen unerwartet, dass Probleme, welche gerade noch als Komödie gezeigt wurden, in der Realität furchtbare Auswirkungen haben können. Solche Elemente reißen Zuschauer manchmal aus der Handlungsillusion und regen, vielleicht vergleichbar mit Brechts epischem Theater, zum Reflektieren an. Viele Zuschauer mögen diesen Stil sehr, und andere lehnen ihn ab. Das gefällt mir, denn es wäre schlimm für mich, wenn die meisten Zuschauer einen Film bloß okay fänden und bald vergessen. Es ist aber kein fester Stil, bei jedem Film entscheide ich intuitiv aufs Neue, wie ich ihn nach meinem Empfinden interessant, unterhaltsam und wirkungsvoll gestalte.

Konstantin – eine Figur, die in deinen Filmen immer wieder auftaucht. Er ist ein undurchschaubarer Charakter und irgendwie ist er wie der kleine Teufel, der auf dem Rücken des Hauptdarstellers sitzt und Tipps gibt. Und irgendwie treibt er den Charakter auch mal in die falsche Richtung. Du spielt diesen Konstantin. Was verkörpert für dich diese Figur?  Was hat Konstantin mit dir gemeinsam? Wirst du auch weitere andere Charaktere in deinen Filmen spielen?

Konstantin bringt einen teils düsteren, teils absurden Humor in meine Filme. Er sagt schlimmste, ungefiltert-böse Dinge in einer unschuldigen, begeisterten Leichtigkeit und funktioniert als humoristischer Kontrast zur jeweiligen Hauptfigur. Er verkörpert in jedem Film etwas anderes. Meist kann man in ihm eine Seite der Hauptfigur sehen, welche diese nicht nach außen kehrt. Was die Figur Konstantin mit mir gemeinsam hat? Ich hoffe, neben Aussehen und Sprechweise nicht allzu viel. (lacht) Trotz manchmal durchdachter Gesellschaftskritik und manch sympathischer Unterstützung für den Protagonisten ist Konstantin nämlich vor allem eine rücksichtslose Figur, die andere nicht ernst nimmt und ein hedonistisches Leben ohne Rücksicht auf Mitmenschen propagiert. Ich bin offen, auch andere Figuren zu spielen, wenn es sich richtig anfühlt. Die letzten Jahre hatte ich aber immer wieder das Gefühl, dass meine Filme ein Element Konstantin brauchten. Ihn zu schreiben und zu spielen macht mir großen Spaß.

Am Ende muss immer eine Frage nach den Plänen stehen. Aber ich will lieber fragen: Bist du jemand, der plant? Hast du eine Ahnung, wo du in fünf Jahren bist? Gibt es Ziele?

Ich habe zwar einige grundsätzliche Ideen für die Zukunft, aber ich glaube, es kommen im Leben immer wieder unerwartet Dinge und Möglichkeiten, gegenüber denen man offen bleiben sollte und die alles verändern können. Deshalb halte ich mich mit genauen Prognosen zurück. Ich persönlich mag es, mir ambitionierte, aber machbare mittelfristige Ziele zu setzen und sie mit aller Energie zu verfolgen, also beispielsweise das jeweils nächste Projekt, sei es ein Film, sei es ein Buch, sei es in einem anderen Gebiet. Wenn man ein solches Ziel dann abschließt und präsentiert, eröffnen sich daraus oft neue, unerwartete Möglichkeiten. Ich vertraue sehr darauf, dass gute Dinge passieren, die man oft nicht vorhersehen kann, wenn man nur Gelegenheiten dafür schafft und aufmerksam bleibt. Was ich dir zu deiner Frage sagen kann – mein Ziel ist es, dass ich in fünf Jahren das tun werde, was mich zu dem Zeitpunkt glücklich machen wird. Was das sein wird, wird man dann sehen. Ich habe jedenfalls viele Interessen und Ideen für Projekte in den verschiedensten Bereichen und freue mich auf die Zukunft.

Mehr über Alexander Tuschinski auf seiner Website oder in der IMDb.


Thomas Goersch verkörperte weit über 200 Rollen in Kino-, Musikvideo- und Independent-Produktionen. Wegen seiner Vielschichtigkeit und seines Interesses an verschiedenen Genres engagierte man ihn wiederholt für ausländische Filmproduktionen, welche nicht selten einen stark künstlerischen oder experimentellen Ton aufweisen. Daneben ist er dem deutschsprachigen Fernsehzuschauer seit vielen Jahren als Moderator beim Verkaufssender 1-2-3.tv bekannt.

Goersch Extrem – Ein Interview

Thomas Goersch verkörperte weit über 200 Rollen in Kino-, Musikvideo- und Independent-Produktionen. Wegen seiner Vielschichtigkeit und seines Interesses an verschiedenen Genres engagierte man ihn wiederholt für ausländische Filmproduktionen, welche nicht selten einen stark künstlerischen oder experimentellen Ton aufweisen. Daneben ist er dem deutschsprachigen Fernsehzuschauer seit vielen Jahren als Moderator beim Verkaufssender 1-2-3.tv bekannt.

Ein Gast-Interview von Daniel Hadrović


Hallo Thomas! Ich konnte seit unserer ersten Kontaktaufnahme beobachten, wie du eine gewisse „I don´t give a fuck!“-Attitude an den Tag legst, wodurch es auf viele langjährige Fragen der Community keine Antworten und kaum Statements zu vielfältigen Gerüchten über dich gab. Ich habe einige Themen zusammengetragen, von denen ich glaube, dass sie Fans und insgeheim auch Hater gleichermaßen interessieren könnten. Da hast du aber gar kein Bock drauf, oder?

Schön, das muss ich mir auf der Zunge zergehen lassen: „I dont give a fuck!“-Attitude. Eine Attitude kenne ich nur aus dem Modelbusiness. Models führen auf dem Laufsteg mit einer vom Designer aufgestülpten Attitude etwas vor. Was nichts mit Ihrer Person zu tun hat. Mit einer Attitüde habe ich persönlich nichts zu tun.

Nun, mich fragen Menschen nicht, wenn sie Fragen haben, und daher komme ich zu keiner Gelegenheit, etwas aufzuklären. Eigentlich bekomme ich immer eher den Vorwurf, zu viel von mir preiszugeben, aber das ist dann meine Gefühlswelt von der eigentlich auch keiner was wissen will. Die langjährigen Fragen der Community (darunter sehe ich eher ein queeres Umfeld) sind mir nicht bewusst. Ich antworte immer auf jede Frage, aber dann fragt anscheinend niemand. Aber „I dont give a fuck“ stimmt bei mir schon. Ich orientiere mich nicht daran, was Menschen von mir erwarten. Bei Rollenangeboten frage ich nicht danach, was die Menschen von mir erwarten. Ich gehe nicht mal davon aus, dass Menschen von mir überhaupt was erwarten. Was Hater interessiert, geht mir am Arsch vorbei. Anscheinend haben sie kein eigenes Leben, da sie sich mit mir beschäftigen.

Als ich dich gefragt habe, ob du nicht Lust auf ein Interview hättest, äußertest du im Laufe unserer Konversation sinngemäß, du wüsstest eigentlich selbst nicht genau, wer „dieser Thomas Goersch“ ist. Beginnen wir unsere Recherche also am besten in deiner Kindheit. Du bist im Jahre 1966 geboren, ein Jahrzehnt, in dem man begann, an der konservativen Fassade der Gesellschaft zu rütteln und sie langsam einzureißen. Deine späte Pubertät hast du somit in den fantasievollen und bunten 80er Jahren verbracht, deren Glanz zeitweise immer wieder in modernen Medien aufflackert und deren Ästhetik sich ständig einen Weg in die Gegenwart bahnt. Welche medialen Einflüsse zählst du zu deinen prägendsten und warum? Welche Sendungen beschäftigen dich vielleicht heute noch?

Die 80er waren ein Highlight an Musik und an Filmen, die sich mit dieser Generation und deren Problemen beschäftigten. John Hughes mit seinen Filmen wie Breakfast Club, Pretty in Pink und Ferris macht blau.

Bei der Musik habe ich heute den Eindruck, dass jeder Song für die Ewigkeit war. Für uns war dies in der Zeit normal. Die Filme der Endsiebziger und Achtziger Jahre waren viel mutiger als heutige. Über Fifty Shades of Grey lache ich mich heute tot und finde sie langweilig. Schaut heute mal 9 ½ Wochen mit Kim Basinger und Mickey Rourke und dann wisst Ihr, was vor dem Bildschirm schwitzen heißt.

Zeichneten sich deine Kreativität und Extraversion früh ab? Hattest du den Drang nach Expression als du klein warst?

Nein, überhaupt nicht. Ich war ein absoluter Spätentwickler und wuchs in keinem guten familiären Umfeld auf. Scheidungskind und mein Vater war ein echt schlechter Charakter. Meine Mutter psychisch gefährdet und nach dem Weggang des Vaters, als ich 13 Jahre alt war, wurde ich trotz zweier älterer Brüder zu so einer Art Familienvorstand. Meine Brüder sind bei erster Gelegenheit aus der Familie raus.

Ich habe mich persönlich in allen Belangen hinten angestellt. Mich gab es als Person irgendwie nicht. Ich ging aber ab dem sechs Lebensjahr jeden Samstag Mittag um 15.00 Uhr ganz allein ins Kino. Hier habe ich viel Filmwissen auch schon in jungen Jahren erhalten.

Du hast bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein eher unauffälliges, bürgerliches Leben geführt, bis du in Kontakt mit der professionellen Filmindustrie kamst. Erzähle uns doch bitte, wie dieser Kontakt zustande kam und welches Gefühl dich hinterher ereilte.

Ich habe eine Bankausbildung und Bankrecht studiert und abgeschlossen. Ich habe lange Zeit nur als Banker gearbeitet und hatte ein Mauerblümchen-Leben. Von der Liebe und dem Sex wollte ich auch nicht wirklich was wissen. Im Alter von 18 bis 34 brach ich jedes Jahr sechs Wochen aus und habe mich auf Extrem-Trips begeben. Ich durchquerte Tibet mit dem Fahrrad, Alaska mit dem Jeep und das auslaufende Amazonas-Gebiet in Ecuador zu Fuß. Ich habe alle 50 Staaten der USA besucht, inklusive Hawaii. Als ich Amerika als Reiseland abgehakt hatte, wollte ich so eine Art „Arbeiten in den USA“ probieren. Da ich immer intensiv träumte und sozusagen nach dem Erwachen ganze Filme recht filmisch im Kopf hatte, entschied ich mich in Los Angeles einen sechswöchigen Drehbuchkurs zu belegen. Das war dann der erste Schritt zum Film in 2000. Da war ich dann auch schon 34 Jahre alt.

Während dein Lebenslauf für uns in Teilen vollkommen im Dunkeln liegt, gehst du mit anderen persönlichen Dingen ganz offen um und scherst dich recht wenig darum, ob sich andere daran stoßen könnten. Dazu gehört auch, dass du dich in Beziehungs- und Liebesfragen zu Männern hingezogen fühlst. Es ist nicht unüblich, dass in „homosexuellen Kreisen“, wenn ich es so formulieren darf, eine Affinität zu Travestie, dem Rollenwechsel also, herrscht. Siehst du in deiner Biografie Schnittstellen oder Wechselwirkungen zwischen dem professionellen Schauspiel und deiner sexuellen Ausrichtung?

Schön formuliert, dass ich mich in „Beziehungs- und Liebesfragen zu Männern hingezogen fühle“. Man könnte auch sagen, dass ich schwul bin. Einen Zwang zur Verkleidung habe ich nicht. Ich habe mal eine Hypo-Elfe gespielt, aber das nicht weil ich einen Verkleidungszwang habe, sondern weil ich den Humor habe, so was zumachen. Ich bin mit einem Travestie-Künstler Fräulein Wommy Wonder gut befreundet und das ist ein wirklich männlicher Mann im Privatleben.

Welche Teile meines Lebens liegen denn im Dunkeln? Vielleicht eine Zeitspanne von ca. einem halben Jahr, vor etwa zwanzig Jahren, als ich mir gerade eingestanden hatte, dass ich schwul bin und ich als Late-Coming-Outer so viel Nachholbedarf hatte, dass ich erst mal mit 30 Männern schlafen musste? So sehr im Dunkeln kann der gar nicht liegen, da waren ja genug dran beteiligt. Seit Halloween 2002 kenne ich meinen jetzigen Mann und wandele auf ultra-normalen Pfaden.

Was gibt dir im Erwachsenenalter das Schauspiel und was erhoffst du dir für die berufliche Zukunft?

Ich bin ein Besessener. Ich liebe und verehre Kreativität. Ich kann nicht ohne sie sein. Was hat das Leben zu bieten außer Kunst? Ich habe erkannt, dass man nichts planen kann in diesem Beruf. Man verkrampft dann und es kommt dabei nichts heraus. Ich schaue nur, dass ich immer wieder ganz unterschiedliche Rollen spiele. Wenn der Horror dominiert, dann mache ich wieder Comedy oder Experimental oder klassisch künstlerische Sachen.

Ich habe dich als passionierten Schauspieler kennengelernt, der bei all seinen Projekten Seriosität an den Tag legt. Deine Leidenschaft für Film und Fernsehen spürt man zu jedem Zeitpunkt. Ob du nun eine Haupt- oder Nebenrolle besetzt, ob Budget und Set groß oder klein sind, oder du aufgrund bestimmter Limitierungen auf eigene Kosten anreisen musst, du erscheinst energiegeladen und motiviert. Warum ist dir deiner Meinung nach der ganz große Durchbruch bisher nicht vergönnt gewesen?

Ich bin kein Mainstream-Mensch. Sagt man das so? Keine Ahnung. Nun, viele sagen, ich sei komplett untalentiert und andere beten den Boden an, auf dem ich spiele. Die Meinungen gehen da himmelweit auseinander.

Ein ausschlaggebender Punkt ist wohl auch das Ausbildungs- und Agenturensystem. Ich habe mit 34 Jahren angefangen. Bei uns in Deutschland gibt es im Schauspiel keine Quereinsteiger. Wer mit 28 Jahren sein Hochschulstudium nicht angefangen hat, bekommt keine Chance mehr zu studieren und die guten Agenturen nehmen Dich nicht mehr. Klar wäre jeder gerne etwas bekannt, aber prominent will man nicht wirklich sein. Gehe doch mal als Til Schweiger über die öffentliche Einkaufsstraße. Ich glaube, dass dies nicht lustig ist. Etwas bekannter gerne. Prominent nein. So gewagte Rollen, die ich gerne spiele kann man auf großen Plakaten auch nicht präsentieren. (Lacht)

Seit sechs Jahren moderierst du erfolgreich im Fernsehen „Goerschs Genießer Buffet“. Bisher hat es deiner Karriere im Mainstream nicht geschadet, dass du auch gerne mal kontroverse Rollen in grenzüberschreitenden Filmen annimmst. Trotzdem verdichten sich seit längerem die Gerüchte, dass deine Arbeit bei 1-2-3.tv bald Geschichte sein könnte. Wieso gibt es trotz größerer Nachfrage nur vage, spärlich gesäte Informationen zu möglichen Hintergründen und deinem weiteren Werdegang als Moderator?

Nun, was ich für eine Filmarbeit mache, ist ja schon immer bekannt und kuschelweich war die ja auch nie. Ich denke, 1-2-3.tv mag auch lieber Charaktere als nette Sprechpuppen, daher bin ich da schon richtig. Fernsehen ist immer ein „hire and fire job“. Im Shopping-TV hängt alles vom Umsatz ab; da gibt es keine sicheren Zeiten.

Es gibt ja verschiedene Standpunkte zu Verkaufsformaten auf der Mattscheibe. Ich pflege stets mit einem Augenzwinkern zu sagen, dass in der heutigen Zeit vor allem die Shoppingsender noch echte Feiertagsthemensendungen bringen. Wir steuern zum Zeitpunkt unseres Interviews langsam auf kühlere Herbsttage zu. Würden dir beispielsweise die Weihnachtsmotto-Sendungen fehlen, wenn „Goerschs Genießer Buffet“ irgendwann wirklich die Pforten schließen müsste?

Mir würden die Einkünfte und das leckere Essen und liebe Kollegen fehlen. Ja, es würde wirklich was fehlen. Es ist immer lustig vor der Kamera, eine eigene Welt. Mit Robin Bade bin ich sehr gut befreundet und es würde wirklich was fehlen.

Aktuell ziehst du wieder die Aufmerksamkeit mit einem Underground-Film der härteren Gangart auf dich, welcher keine moralischen Bedenken aufzuweisen scheint – aber anders als sogenannte Mixtapes (Oft Zusammenschnitte aufgezeichneter, realer Gewalt, Mord und Folter), die sich wachsender Beliebtheit erfreuen, reine Fiktion und Schauspieler beinhaltet. „Sturmgewehr“, so der Titel, fällt in die Sparte des „Fake-Snuff“ (mit dünnem Handlungsstrang) und visualisiert explizit Erniedrigung und Folter einer schwangeren Heilerziehungspflegerin und einer körperlich und geistig behinderten Minderjährigen. Welche Motivation treibt dich an, dich auch an solchen extremen Produktionen zu beteiligen?

Man darf bei Schauspielern nicht vergessen, dass sie Charaktere nur spielen und deren Taten nicht vertreten müssen. Bisher habe ich aus moralischen Gründen nur eine einzige Rolle abgelehnt und da sollte ich auf einen Koran pinkeln. Das hätte dem Inhalt des Films nichts gebracht und eine Glaubensgemeinschaft zu beleidigen ist generell falsch. Aber abseits dessen wollte ich wieder mal was Extremes spielen. „Sturmgewehr“ kam mir gerade recht.

Der Drang möglichst unterschiedliche Rollen, facettenreiche Charaktere und Genres abzudecken ist nachvollziehbar, aber es geraten in jüngster Zeit immer häufiger jugendliche Gewalttäter in die Berichterstattungen, denen Gutachter nach grausamen Morden oder Folter einen verkümmerten Charakter und vollkommen fehlende Empathie und/oder sadistische Züge attestieren. Wie würdest du damit umgehen, wenn der Fall einträte, dass eine reale Schreckenstat nachweislich in konkretem Zusammenhang mit einem deiner Filme mit Extreminhalt stände?

Wer sowas macht, ist gestört. Eine solche Störung kann man durch einen Film nicht bekommen. Bei Pornofilmen glaube ich, dass sich mehr Menschen entladen, als dass sie anfangen, zu vergewaltigen.

Gibt es Momente, in denen dich Zweifel an deinem Eifer zu schauspielern ereilen?

Jeden Tag. Denn es dankt dir ja keiner. Als Independent-Schauspieler verdienst du kein Geld in dem Sinne. Du hast Hater, die dich bei jeder Möglichkeit beleidigen. Du darfst dich selbst noch für Filminhalte entschuldigen. Kein Glamour, sondern härteste Arbeit.

Heutzutage kann man sich im Netz vielfältiger effizienter Diffamierungsmethoden bedienen. Erstaunlicherweise stößt man bei etlichen Besprechungen von Filmen, in denen du vertreten bist, in der Kommentarleiste auf konkret an dich gerichtete verbale Angriffe. Wie schaffst du es nur, so viel negative Energie auf dich zu ziehen?

Oh ja, Hater versammle ich um mich herum. Sie treten immer anonym auf und verwenden ihre ganze Energie auf mich. Die Beiträge schreiben sie nur, um mich zu beleidigen. Ich bin mir sicher, dass sie nicht mal die Filme kennen, über die sie da schreiben. Ich bin jetzt ja kein erfolgreicher Schauspieler, aber ich denke, es sind noch erfolglosere Schauspieler, die da schreiben. Ich habe den Job aufgrund des Alters nicht offiziell erlernen können und die haben wahrscheinlich gelernt und bringen noch weniger auf die Reihe. Sie sollten ihre Energie lieber darauf verwenden Schauspieler zu sein und nicht, mir das Leben schwer zu machen. Ich habe mich am Anfang drüber geärgert. Dann habe ich es als Anerkennung gesehen, inzwischen habe ich sogar Freude dran.

Gleichzeitig wird dir auf Facebook von deinen Fans viel Liebe entgegengebracht. Wie kommt es, dass dieses treue Grüppchen weitaus seltener auf anderen Plattformen aktiv wird?

Das liegt wohl an der menschlichen Natur. Menschen, die einen mögen, die sagen es mir vielleicht mal, aber manchmal nicht mal das. Sie erfreuen sich an dem was ich tue und wollen mich in meinem Leben nicht stören. Menschen lästern viel schneller über jemanden, als dass sie mal sagen: „Hey, der ist cool, den mag ich.“

Musstest du schon einmal einem Kollegen, der sich von seinem Werk mehr erhoffte, Trost spenden?

Von 2002 bis 2012 habe ich mit dem Underground-Regisseur Carl Andersen zusammengearbeitet, in Filmen und auf der Theaterbühne, aber in erster Linie war er ein Freund, der um sein Einkommen kämpfte, aber von vielen Menschen verehrt wurde. Die große Anerkennung, die er verdient hätte, wurde ihm versagt. Er wurde depressiv und trank zu viel. Er war ein so guter Mensch, zerbrach aber an dieser Nichtanerkennung und nahm sich deswegen im August 2012 das Leben. Er hat für mich eine große Lücke hinterlassen.

Man spürt deine Verbundenheit zu Carl Andersen nicht zum ersten Mal. Dass er Suizid begangen haben soll, wurde allerdings in anderen Medien bislang nicht verkündet, soweit mir bekannt ist. Somit birgt deine Äußerung Sprengkraft. Er hat immer noch einen kleinen, treuen Fankreis, der sein Ansehen wahren möchte. Zwar wird heute das Thema „Selbsttötung“ nicht mehr tabuisiert und totgeschwiegen, aber gemeinhin mit „Überforderung“ und „Psychischen Erkrankungen“ in Zusammenhang gebracht. Verletzt du mit Informationen zu seinem nicht ein Stück weit sein Postmortales Persönlichkeitsrecht?

Die Tabuisierung von Selbstmord ist für mich komplett falsch. Man denke an die ganzen Prominenten, die aufgrund irgendwelcher Drogen-Alkohol-Kombinationen gestorben sein sollen und bei denen sich nach einiger Zeit oft herausstellte, dass sie unter starken Depressionen gelitten haben. Selbstmord ist im Sinne der Kirche eine Todsünde und hierher kommt wohl auch die Verteufelung von Selbstmord.

In der Nacht, in der Carl starb, wurde ich von Malga Kubiak angerufen, die gerade in Berlin bei ihm war – und da gab es einen Abschiedsbrief. Punkt. Wer Briefe hinterlässt, der möchte Menschen eine Botschaft geben, und für mich verletzt es seine Persönlichkeit, diese Botschaft zu ignorieren und nicht anzuerkennen. Ich sehe schon, wie mich Leute deswegen anfeinden werden. Carl war von Grund auf ehrlich. Ich will hier niemanden anfeinden, schlecht machen oder irgendwas Böses. Wenn ich gefragt werde, dann antworte ich ehrlich. So, wie es Carl auch gemacht hätte.

Möge er in Frieden ruhen. Wir bewegen uns nun in heiterere Gefilde: Für große Freude und herzhaftes Lachen unter den Zuschauern hast du an der Seite von Claude-Oliver Rudolph in einem politisch inkorrekten Film der anderen Art gesorgt. Die Action-Komödie „Tal der Skorpione“ stillte den Hunger von Freunden leichtfüßiger Narration und längst vergessenem Videothekenfilm-Flair. Wie hast du die Drehtage empfunden?

Das Projekt war wirklich eine herausragende Sache. Der Mut des Regisseurs, einen Film im Stile von “The Expendables” oder wie die Action-Filme der 80er Jahre zu drehen, ist sehr anzuerkennen. Patrick Roy Beckert hat hier sehr gute Arbeit geleistet.

Die Chemie zwischen dir und Claude-Oliver Rudolph scheint zu stimmen. Für euer Zusammenspiel erhieltet ihr von Zuschauern viel positive Resonanz. Könntest du dir vorstellen, bald wieder mit ihm zu drehen?

Ja, das klappte vor der Kamera sehr gut. Wir haben uns vor der Kamera nichts geschenkt. Die Rivalität der Charakter kam wirklich toll rüber. Die Zuschauer haben es geliebt. War die Kamera aber aus, hat Claude-Oliver Rudolph nicht mit mir gesprochen, nicht mal gegrüßt. Ich habe sowas noch nie erlebt. Er hat mit allen Blödsinn gemacht und mich komplett ignoriert. Nun, Pech. Ich bin wohl ein Arschloch.

Das ist schade, denn auf der Mattscheibe habt ihr miteinander harmoniert. Du trittst aber auch noch als Regisseur mit eigenen Filmen auf den Plan. Herr Berger sucht einen Sohn, der aus deiner Feder stammt, ist eine spezielle Komödie, die den Anspruch erhebt, den französischen Stil innezuhaben. Dieser Film befindet sich gerade in der Postproduktion. Kannst du schon einen Veröffentlichungstermin nennen?

Der Film ist immer noch in der Postproduktion. Ich war drei Monate in 2019 krank und konnte weder meine “Goerschs Genießer Buffet”-Show machen noch an Herrn Berger arbeiten. Aber ein erster Trailer für den 1. Teil wird in Kürze veröffentlicht.

Verspürst du Lust auf weitere Komödien, die nicht im „Berger“-Universum verankert sind?

Ja, aber niemand dreht im Independent-Bereich Komödien. Da bin ich mit Herrn Berger ganz einsam. Ich hatte sogar mal eine Idee gepostet und wurde deswegen fast angegriffen.

Wir warten gespannt ab, was du uns in Zukunft noch alles an Filmkost bescherst. Ich denke, mit unserem Interview konnten wir ein Paar Mysterien um deine Person lösen und vielleicht sogar Missverständnisse aus dem Weg räumen. Vielen Dank für das Gespräch. Während wir nun zum Schluss kommen, wissen doch alle, dass es für dich gilt: The Show must go on!


Das Interview von Daniel Hadrović erschien ursprünglich auf „Destination Extreme Cinema“.

Daniel Hadrović ist als Autor und Filmemacher aktiv. Seine kleinen Independent-Produktionen tragen surreale und gesellschaftskritische Züge.

Interspiel mit Laia Alvarez Mestre

Laia Alvarez, Schauspielerin. Geboren in Barcelona. Lebt in Berlin. Passionierte Tangotänzerin. Finalistin von IN ZUKUNFT II als Theaterautorin. Entschloss sich nach längerer Arbeit als Journalistin zu einer Schauspielausbildung, „da sie es ihrem Vater schuldig war“. Zurzeit in der spanischen Fernsehserie Com si fos ahir (TV3) zu sehen. Steht demnächst für den ZDF-Spielfilm Der gute Bulle – Wenn Tote reden (Regie: Lars Becker) vor der Kamera.

Was gibt dir Schauspielerei im Vergleich zu anderen Künsten? 

Ich kann durch sie ein anderer Mensch sein: Ich darf jemanden umbringen, ohne ins Gefängnis zu kommen, ich darf arm sein, ohne zu verhungern, oder unverschämt, ohne dass ich gehasst werde. Wir Schauspieler sind ja sehr neugierig. Wir wollen verstehen, erfahren. Wir lieben Emotionen. Wir suchen Konflikte, pasión … Wir müssen uns selber spüren, um zu wissen, dass wir am Leben sind.

Anders gefragt: Warum bist du Schauspielerin geworden?

Weil ich es leider einmal probiert habe. Schauspiel ist eine harte Droge. Wenn du es einmal probierst, kommst du nie wieder raus … Ich wollte schon immer eine Schauspielausbildung machen, aber mit achtzehn habe ich mich nicht getraut und erst mal einen Umweg eingeschlagen. Während meines Journalistikstudiums habe ich ein Erasmus-Semester an der UDK gemacht. In der Zeit habe ich meinen Freund auf der Bühne spielen sehen. Ich war neidisch. Mein Papa hat vierzig Jahre einen Job gemacht, den er gehasst hat. Er sagte dann zu mir, ich solle das tun, was mich glücklich macht. Ich bin es ihm also schuldig.

Und wo hast du dein Handwerk gelernt?

Genauso wie viele erfolgreiche Schauspieler in Deutschland wollte ich mich eigentlich bei einer staatlichen Schauspielschule bewerben. Aber ich bin Frau, Ausländerin und viel zu alt: keine Chance. Also bin ich bei einer Privatschule gelandet. Es war mir klar, dass es viele Vorurteile gegen Privatschulen gibt – Scheiß drauf. Ich wollte einfach eine gute Schule finden, wo ich an meinen Schwächen und Stärken arbeiten konnte, und habe mich bei einer der wenigen Schulen auf der Welt eingeschrieben, wo man eine Ausbildung nach Michael Tschechow machen kann. Ich möchte, dass die Leute meine Arbeit schätzen, egal, von welcher Schule oder aus welchem Land ich komme.

Wer ist Michael Tschechow und was macht seine Methode so besonders?

Er war Antons Tschechows Neffe und einer der brillantesten Schüler von Stanislawski. Stanislawski sagte einmal: „Wenn ihr meine Methode verstehen wollt, solltet ihr Tschechow studieren.“ Tschechow spielte einmal Hamlet. Stanislawski war so begeistert von seiner Interpretation, dass er ihm sein Beileid aussprach. Er dachte, Tschechows Vater wäre tatsächlich gestorben. Er war aber sehr überrascht, als Tschechow erklärte, dass sein Vater noch am Leben sei … Bei Tschechow ist die Imagination eine der wichtigsten Kräfte im Schauspiel, und diese ist, im Gegensatz zu Stanislawski, unbegrenzt. Aber hey, ich bin eigentlich gar kein Fan von Methoden. Ich habe mit anderen Methoden gearbeitet und bin davon überzeugt, dass man sich aus allem seine eigene Technik zusammenbauen sollte.

Könnte man also von Schauspielern behaupten, dass sie allesamt aus der Tschechowstanislawakei stammen?

Hahahahaha, total. Obwohl in Moment Meisner, Chubbuck u. a. sehr in sind, sind sie am Ende doch alle gleich. Ihre Ansätze variieren halt ein bisschen. Deshalb ist es beim Schauspiel egal, ob man eine Ausbildung in Spanien, Deutschland oder auf La Pampa macht, denn Schauspiel ist eine internationale Sprache. Als ich noch kein Wort Deutsch verstand, habe ich mir trotzdem viele Stücke angeschaut. Ich konnte über die Körpersprache und die Stimmungen erkennen, ob das Stück gut war oder nicht. Wenn es gut war, habe ich es verstanden. Wenn es schlecht war, habe ich mich zu Tode gelangweilt. 

Robert De Niro zum Beispiel ist hauptsächlich eine Rolle, nämlich die des Mafioso, perfekt auf den Leib geschnitten, während einer wie Sean Penn durch Vielseitigkeit überzeugt. Wer (oder was) ist für dich ein guter Schauspieler bzw. ein Vorbild?

Nicht einfach zu sagen. Ein guter Schauspieler ist, wer seine Rolle wahrhaftig spielt und sich verwandeln kann. Es gibt viele, die besonders vielseitig sind, aber nicht wahrhaftig genug spielen, oder andere, die nur einen bestimmten Typ glaubhaft spielen, obwohl sie sonst nichts anderes können. Eine andere Frage ist, ob der Markt es ihnen erlaubt, andere Facetten zu zeigen … Beides zu können ist nicht einfach. Kalki Koechlin hat bei Margarita, with a Straw eine behinderte Frau gespielt. Wenn man sich nur überlegt, was für eine körperliche Arbeit und Recherche dahinter stecken, um so eine Rolle derart überzeugend zu spielen, darf man mit hundertprozentiger Sicherheit behaupten, dass sie eine gute Schauspielerin ist. Schauspiel ist wie Langstreckenlauf: Es geht nicht darum, besser als die anderen zu sein, sondern nie aufzugeben, immer dranzubleiben. Wenn man glaubt, dass man als Schauspieler fertig ist, ist man kein guter Schauspieler. 

Laut Ben Stillers Tropic Thunder hat es ja Sean Penn in dem Drama i am sam mit der Behinderung etwas übertrieben, während Dustin Hoffmann in dem Klassiker Rain Man den Autistenking Peek recht adäquat getroffen zu haben scheint – was denkst du?

Wäre das ein Live-Interview, würde ich wahrscheinlich so was antworten wie: „Also, ich finde, dass Sean Penn bei i am sam … bla bla bla … scheiße ist.“ Ganz ehrlich? Ich hab mir den Film noch gar nicht angeschaut. Soll ich …? Next question, please.

Was machen wir denn jetzt mit Kevin Spacey?

Was soll ich sagen … geiler Schauspieler. Schuldig oder nicht schuldig, sein Name ist für immer verschmutzt. Ob er Glück oder Pech gehabt hat, werde ich nie so richtig erfahren, denn als Spanierin habe ich in die Justiz leider nicht so viel Vertrauen.

Tut mir echt leid zu hören!

In seiner MasterClass weist Spacey einen Schauspielschüler an, seiner Figur eine Verkrüppelung zu schenken. Welche Empfehlung würdest du einem angehenden Schauspielschüler mitgeben?

Zuschauer wollen immer Figuren sehen, die Probleme haben, weil es sonst langweilig ist. Ohne Konflikte gibt es keine Spannung, ohne Spannung ist Theater tot. Mein Tschechow-Trainer sagte immer: „Im Leben sollte man Konflikte meiden, auf der Bühne sollte man sie suchen.“ Das gilt genauso für den Film, klaro.

Worauf würdest du eigentlich eher verzichten – Theater oder Kino?

Für unbegrenzte Zeit: weder auf das eine noch das andere. Es gab in meinem Leben eine extrem anstrengende Zeit, als ich komplett ohne Theater und Film auskommen musste, und ich bin gaga geworden. Wenn ich eine Zeit lang nicht gespielt habe, fange ich an, Quatsch zu machen. Es geht gesundheitlich nicht. 

Besitzt du einen sog. Schauspieler-Daumen, der sich durch eine charakteristische Konkavkrümmung auszeichnet?

Ne … Aber ich kann das Geräusch einer Taube imitieren und in der Luft sitzen. Ist das was? Ansonsten kann ich Tango tanzen.

Kannst du mir ein Beispiel für schlechte Schauspielerei geben? 

Schlechte Schauspielerei siehst du jeden Tag bei den Daily Soaps. Aber weißt du, wie wenig Zeit diese Schauspieler haben, um sich vorzubereiten? Häufig kriegen sie den Text zwei Tage vorher und dürfen nur zwei bis drei Takes spielen, weil die Produktionskosten sonst zu hoch werden. Es gibt keine schlechten Schauspieler, nur wenig Zeit oder unzureichendes Engagement.

Welcher Schauspieler ist deiner Meinung nach überbewertet?

Meine Mama sagt immer, dass ich die beste bin.

Wer ist eigentlich prätentiöser – Schauspieler oder Lyriker?

Der Schaulyrikspieler.

Warum wirken deutsche Filme und Serien so komisch, etwa im Vergleich zu amerikanischen? Deutsche Schauspielerei ist teilweise auch irgendwie seltsam unüberzeugend.

Die Kohle. Eine Low-Budget-Produktion in Amerika liegt zwischen 10 und 15 Millionen Euro. Stell dir mal vor, wie viel eine „normale“ Produktion kostet und wie hoch das Gehalt der Schauspieler ist (Schauspieler verdienen im Schnitt immer noch viel mehr als Schauspielerinnen!). Spielst du in einer amerikanischen Serie, kannst du dir einen Personal Coach leisten, brauchst nichts anderes zu tun, als dich auf deine Rolle vorzubereiten, und musst eventuell nie wieder arbeiten gehen. Die meisten Schauspieler in Europa können nicht davon leben und müssen nebenher anderen Jobs nachgehen. In Spanien zum Beispiel liegt die Arbeitslosigkeit von Schauspielern bei 95 Prozent. Eine Tragödie. 

Ist Shakespeare nicht überbewertet?

Nein. Ich würde mir jetzt nicht unbedingt ein klassisches Shakespeare-Stück anschauen, es sei denn, es interessiert mich etwas Spezielles. Ich habe mich während der Ausbildung schon für die ganzen Klassiker interessiert, und Shakespeare gehört natürlich dazu. Seine Sprache ist schön, aber nicht einfach zu entziffern bzw. zu spielen. Die Gesellschaft, für die er schrieb, hätte ihn allerdings sofort verstanden.  

Ist denn Shakespeare vielleicht unterbewertet? Oder jemand/etwas anderes?

Shakespeare ist „unterverwandelt“. Ich würde gerne mal Romeo und Romeo sehen, 

oder eine schwarze Hamlet-Familie, oder eine selbständige Ophelia, oder oder oder. 

In ihrer Sketch-Comedy Mr. Show machen sich Bob (Odenkirk) & David (Cross) u. a. über Schauspieler lustig, die als dressurbedürftige Dummerles dargestellt werden. Was sagst du dazu?

Schauspieler kommen häufig dumm oder verrückt rüber, das gebe ich zu. Der Klassiker ist, wenn man auf der Straße seinen Text lernt oder in der U-Bahn sich noch ganz schnell aufwärmt und dabei komische Geräusche macht.

Hast du eigentlich viel mit Berliner Hosenbeinumkremplern & Chapeausern zu tun?

Hatte ich früher mal. Man glaubt es nicht, aber 70 Prozent der Arbeit als Film- und Fernsehschauspieler findet am Computer statt. Als ich die obligatorische langweilige Office-Arbeit als Schauspielerin anfing, saß ich ganz oft in diesen Latte-macchiato-Cafés. Irgendwann habe ich gemerkt, dass mein Lohn für so was nicht reicht … Man muss viele Stunden pro Tag am Computer sitzen, nur damit die Leute irgendwann dein Gesicht mit deinem Namen verbinden. Daher kann man es sich nicht leisten, täglich Kaffee und Kuchen zu verzehren, nur um an ein Internet-Passwort zu kommen. Ich arbeite meistens von zu Hause aus oder bei Freundinnen. So unterstützen wir uns gegenseitig, trinken selbstgekochten Kaffee und müssen nicht alle zwei Stunden nach dem aktuellen Passwort fragen. 

Titelbild: Laia Alvarez Mestre (c) Katharina Ira Allenberg

Die Totenmaske des Epidermes

Nach der Lektüre von Raoul Schrotts überaus ambitioniertem Epos Erste Erde, worin Kunst und Wissenschaft, Literatur und Natur ihre gemeinsamen Werte entdecken, drängen sich einem tausende von Fragen auf, darunter auch die folgenden:


Können Götter umgeboren werden?

(1 Spiralarm + 3 Stollenmundlöcher) x lächelnde Haut = ?

Was haben ultramarine Monaden unter der Motorhaube?

Wer gilt als der Begründer der Fernbohrkunst?

Wird prophylaktisches Sterben von den Krankenkassen übernommen?

In welchen Kulturen gilt es als unhöflich, das Synapsenköpfchen mit einem Leichentuch zu bedecken?

Durch welchen traditionellen Trick bringen Bergbewohner die Tatarenmatrix zum Pulsieren?

Was ist (außer „stunden“ natürlich) die Lieblingsvokabel der Dichter?

Was unternahm Kaiser Mark gegen Trugbildabrieb?

Unter welchen Umständen geht Fleischdetonation mit einer Humpelnden Druckwelle einher?

Was macht einen Bluterguss selig?

Welche Kristallkreatur kommt typischerweise als Fehldruck in der Magmakruste zum Vorschein?

Worauf weist ein erhöhter Serotoninspiegel im Lustwandelwurm hin?

Warum haben Astronauten Saurieraugen?

„Luzifers Gleichung“ beschreibt die Beziehung zwischen unterschwelliger Sphärenmusik und überirdischer Signifikanz – wahr oder falsch?

Wie vielen Lichtjahren lässt sich in einem mit Parabolspiegeln ausgekleideten Kneiff-Gyrov-Labyrinth auflauern?

Warum ist Schlamm aus dem Höllenpfuhl gesünder als Schaum aus dem Dorfkino?

Wie kann sich ein haarmenschlicher Fingerabdruck in Gischt einmieten?

Wie lautet der Terminus technicus für die frivolen Mehlreste einer Jahrmillionen alten Fabrik?

Eine Gestalt verlöre ihre Brustwarze, wenn der Pilznippel ________________.

Kommt ein Bleigürtel als Infusorienkluft in Betracht?

Wie funktioniert Eiweißumkehr bei Kameltreibern (Firmware)?

Honigwabe unter der Achsel?

Bei welchen Druckverhältnissen wird Blindenschrift von dreiäugigen Manierismen rezipiert?

Für wen kommt eine Kryptohumus-Nuklearbier-Diät am ehesten in Frage?

Wie kann Dahinkroch sein Präteritum überwinden?

Eine Brustwarze verlöre ihre Gestalt, wenn die Nippelsyntax-basierte Lippenchoreographie ________________.

Wie geht man mit schnarchenden Eukarioten und ihren schmatzenden Torsos um?

Was passiert, wenn man einen Hexameterdocht in lispelnde Luciferase taucht?

Wie reagieren Stummelfüßer auf filzige Photonen?

Macht Lähmung unsterblich, oder ist es eher andersherum?

Worüber verfügt ein Panzerfisch nicht: pralle Schleimhäute, elastische Keratinstirn oder laminiertes Schwanzphantom?

Golfhammer vs. Otolithen – wer wen?

Bei welchen Lebewesen lässt sich ein pigmentierter Schatten beobachten?

Was ängstigt Raum?

Wie tauschen sich die Tentakel einer sumpfigen Hyänenalge untereinander aus?

Aus welchem leider in Vergessenheit geratenen Frühwerk Xenomorphs stammt dieses Fragment:

„Strompulver zerknüllt Plankton im Knochen-Akkord
Omen bersten wie Lunarpixel prozesshafter Analogien
Opalisierte Mikroben mit Hydrokarbonstachel
Verschmelzen in Autopoiesis mit Scheißkorallen
Magnetischer Stoffwechsel ist das Umkehrbild der Irrläufer
Und die ölige Kulmination anekdotischer Kolbengeister
Das Loch im Lithium heißt Phoenix-Nautilus
Sein Feuerball ist Konjunktion und Kugelphosphor
Mikroskopwurzellkernnormierung
Als Nimbus im Nullpunkt
der Einfühlung ins Röhrchen dient er
Fragmentierte Haziendafetzen kreisen um uns
Wie der Hummelsatellit ums Apathit
Und ein Tränensäure-Selfie
[…]“?
Titelbild: © Hanser Berlin

Wie man in den Wald hineinstirbt …

Mit seiner EP Adresse: Friedhof hat Kölns makaberster Grindcoreler …tot aus dem Wald alias Falk Hummel wieder einmal typische Omamucke eingeschopenhauert, die man auf Bandcamp streamen oder zu einem selbstgewählten (möglichst 0,00 Pekunien übersteigenden) Preis käuflich erwerben kann. Im Folgenden ein Gespräch über die Geburt der Platte aus dem Geiste der Tragödie.


Wenn man tot aus dem Wald kommt, dann heißt es ja nicht unbedingt, dass man beim Betreten des Waldes lebig war, oder?

Dies ist sicherlich dem Umstand geschuldet, dass ich mich bereits früh in der Kindheit wie sechzig fühlte und insofern ohnehin senil und halbtot wie der Silberförster durch die Geschehnisse in der nebeligen Welt da draußen taperte. Um auch eine ernsthaftere Antwort zu finden, so könnte man natürlich auch in Betracht ziehen, dass zu meiner Jugend und Schulzeit nur eine kleine Gruppe von Gleichgesinnten existierte, die Subkultur war in der Kleinstadt nur gering ausgeprägt; man musste sich dementsprechend hauptsächlich über Abgrenzung definieren und beobachtete meistens das Treiben der anderen – Spaß, Party, Fußball und was diese merkwürdigen jungen Menschen sonst noch so treiben – nur wie durch eine Milchglasscheibe, ohne daran teilhaben zu können, etwas unfreiwillig entfremdet von den anderen, Nebendarsteller im eigenen Leben.

Was sind einige Kunstwerke, die am meisten Ehrfurcht Sie inspiriert? Auf besser Deutsch gefragt: Wer hat dich die Kunst abscheulicher Dinge gelehrt?

Zum einen möchte ich hier gerne ein Werk anführen, welches ich im schulischen Musikunterricht kennenlernte. Meine zarte, unverdorbene Seele wurde damals mit Arnold Schönberg und Zwölftonmusik konfrontiert. Außerdem klingt das natürlich unglaublich gebildet, Schönberg anzuführen und Adorno zum Frühstück zu trinken. Das macht Laune und bringt Freunde im Feuilleton, die man garantiert nicht haben möchte. Zum anderen muss ich wohl anführen, dass ein begnadet perfektionierter Dilletantismus mit ausgeprägter Unmusikalität und völliger Talentfreiheit nicht ganz schuldfrei sein könnte.

Der Teufel tanzt auf „allen“ vieren, während mindestens 662 seiner grausen Glieder ungenutzt bleiben – effizient geht anders.

Man muss den Tentakeln auch mal Ruhe gönnen, Cthulhu erwacht ja auch nur alle tausend Jahre. Effizient ist das alles ja ohnehin nicht. Hat man Freunde gewonnen und heiße Girls aufgerissen mit der Band? Nein. Hat man auf coolen Studentenpartys gespielt? Nein. Ist man Teil einer Jugendbewegung? Nein. Kann man am Lagerfeuer romantisch unterhalten? Nein. Liegen einem die Massen zu Pferdefüßen? Nein. Man macht es aber trotzdem oder gerade deswegen. …tot aus dem Wald ist ein sehr egoistisches Projekt. Die Musik wird nur gemacht für sich selbst, ganz ohne Anspruch auf Zuspruch. Das wäre dann bei der Musik wohl auch ein völlig selbstverblendeter und unrealistischer Plan. Zu Schul- und Anfang der Studentenzeiten gab es ja auch noch Mitstreiter, ein infernales Trio, während in den letzten Jahrzehnten nur noch meine Wenigkeit übrig blieb und alles alleine machen muss. …tot aus dem Wald ist nämlich tatsächlich eine Ein-Mann-Band (einzige Unterstützung gibt es durch den Satansmops, der mich grunzend dazu anhält, den Verstärker leiser zu drehen und seinen Schlaf gefälligst nicht zu stören!).

Quelle: YouTube
Wenn aus den Augen Absinth fließt, dann will ich gar nicht wissen, welch köstliche Überraschungen andere, möglicherweise noch zu erschielende Öffnungen bereithalten. (Das mit dem Nichtwissenwollen war mehr rhetorisch gemeint.)

So geht es mir natürlich auch (und doch eigentlich den meisten Menschen, oder?), und deswegen beginne ich den Tag regelmäßig mit einer Telefonkonferenz, um mich im Freundeskreis über die Konsistenz des aktuellen Stuhles auszutauschen; heute saftig bis gut durch.

Wie sehr wird das durchschnittliche (= hässliche) Dummerle (= Mensch) vom Willen zum Nichts geleitet?

Der Wille zum Nichts klingt irreführend, da nihilistisch, wobei genau genommen das Streben zum Glück frei von Begierden ein Faktor ist, der bspw. in Achtsamkeit und Gegenwärtigkeit aktuell sehr populär ist und letztlich zurückgreift auf buddhistische Ansätze. Da das aber klingt, als würde man gleich Bäume umarmen in orangenen Pluderhosen und Atemübungen der Marke „Gammelzähne Lächeln Mutter Erde“ machen, lassen wir das lieber. Selbst Nietzsche, der alte Menschenfreund, glänzt dann mit lächerlichen Buchtiteln wie „Von der fröhlichen Wissenschaft“. Ob der Mensch generell dumm ist, lässt sich nicht beantworten. Der – durchaus ja auch in der Philosophie ausgetragene – Streit dieser Paradigmen ist wohl letztlich eine Glaubensfrage, da sich dies mit den Mitteln der Wissenschaft nicht untersuchen lässt (Menschen böse im Verhältnis zu Menschen gut ergibt gleich). In meiner Intoleranz bin ich jedoch tolerant. Wobei, tatsächlich (ha, jetzt kommt wieder das Denken des Sechzigjährigen durch) erlebe ich, dass die Gesellschaft unangenehmer, gewalttätiger und unsicherer wird (war sie früher natürlich auch). Geht man nachts friedlich durch eine Großstadt, muss man leider schon damit rechnen, angeprollt zu werden. Geht man durch eine Menge fröhlicher Hippies, gehen die einem allerdings auch auf den Sack.

Gibt es eine schlimmere Farbe als Schwarz, die General Larvae noch höllischer/wurmiger machen würde?

Ein schleimig-krankes Grau-Grün könnte man hier in Betracht ziehen. Wobei ich es auch wunderbar fand, dass mein satanischer Hundegefährte, Mopsis Mopsularis, der Graf, seines faltigen Zeichens Mops, gestern – da Magenerkrankung und auf Schonkost – neonorangene Fäzen absonderte. Ich merke beschämt, dass ich mich tatsächlich mit derlei Themen beschäftige.

Der Optimist in mir fragt sich zuweilen: Sind wir im Eigentlichen nicht alle aufgequollen und halb verrottet?

Der allgemeine Körpergeruch in überfüllten Straßenbahnabteilen lässt keinen anderen Schluss zu.

Allerspätestens mit der Rezeption von E. Elias Merhiges „Begotten“ stellt die triebhaft-bigotte Natur des Humus verrecktus keine Überraschung dar.

Überraschend ist vielmehr, wie man „Begotten“ (sicherlich eine tolle Atmosphäre und Bildsprache) wirklich 78 Minuten am Stück aushalten kann. Vermutlich nur mit Drogen, aber die sind böse. Ob der Mensch wirklich böse ist, müsste man natürlich ernsthaft differenzierter betrachten. Das Paradigma …tot aus dem Wald geht natürlich nur vom schlimmsten aus. Menschen sind hier generell verkommene Subjekte. Mutters Kopf liegt im Gefrierfach neben dem Eis, das ich so mochte. „Junge, schnapp sie dir! So wie ich Mutter nahm!“ „Oder wie du mich im Kinderzimmer.“ Ja, dieser Sommer war heiß und die Nächte schwül. Damals wünschte ich nur selten, ich sei tot.

Was sind (abgesehen von Leichen) die drei widerlichsten Dinger, die im Sommer zu sprießen beginnen?

Freude, Frohsinn und Frohlocken. Nicht zu vergessen gutaussehende und trainierte Menschen, die sich zur Schau stellen und offensiv dafür sorgen, dass man sich für seinen eigenen aufgequollenen Leib schämen muss. Abstoßend sind zudem Freibäder, Grillen am Rhein, Inliner, Menschen, die die Sonne genießen, laute „Culcha Candela“-Musik im Freien und überhaupt diese gute Laune im Sommer. Der Sommer ist generell zu verachten, eine einzige Plage, und sollte sofort verboten werden.

Hat man inzwischen eigentlich irgendwelche Beweise dafür gefunden, dass wir nicht in der Hölle leben?

Selbstverständlich. Das Lachen eines Kindes, vergnügt und unschuldig, das liebende Seniorenpaar, das sich zärtlich an den Händen hält, der fröhliche Delphin, der tapfer Menschen rettet … Moment, mir kommt gerade etwas Kotze hoch. Wie war noch mal die Frage? Wie mein Stuhlgang war? Danke, regelmäßig.

Wenn die Nacht ungefähr so viele Füße hat wie Augen, dann kann sie sich ja problemlos zum Teufel scheren.

Grundgütiger, dann droht ein ewiger Sonnenschein. Das wäre furchtbar.

Wie bzw. wo gibt’s einem der Herr, wenn man sich nicht zu den „Seinen“ zählen darf.

Ich befürchte, meistens bei den Messdienern oder im Kommunionsunterricht in Form italienischer Fleischpeitschen. Interessanterweise korreliert Religiosität mit allgemeiner Lebenszufriedenheit, wobei natürlich das raumzeitliche Aufeinandertreffen zweier Ereignisse nichts über den Kausalnexus aussagt. Religiosität korreliert auch mit der Lebenszeitprävalenz für psychotische Erkrankungen.

Bonusfrage: Was genau wird eigentlich mit der Einheit tadW gemessen?

Der kleinste messbare Widerstand.

Japanischer Indie, Filmmusik, Spirit Fest, Notwist und die Kunst. Im Gespräch mit Markus Acher

Markus Acher steckt mal wieder in zahlreichen Projekten, weiß nicht einmal mehr, wann er mit Notwist proben soll. Dabei machen sie doch grad ein neues Album. Aber alle Bandmitglieder sind derzeit viel unterwegs. Er selbst sucht den Austausch mit japanischen, britischen und US-amerikanischen Musiker*innen, welcher aktuell in Bands wie Spirit Fest oder Hochzeitskapelle aufgeht.

Die großen Fragen („Heißt es ‚Notwist’ oder ‚The Notwist’?“) wurden von dieser Seite bereits letztes Jahr im Interview geklärt. Am Rande des European Art Cinema Day, für den er in Berlin war, gab es wieder Gelegenheit für ein Gespräch. Höchste Zeit, weiter in die Tiefe zu gehen, über aktuelle Veröffentlichungen und seine künstlerische Arbeitsweise selbst zu sprechen.


Notwist gilt für viele, auch international, als relevanteste deutsche Indie-Band. Hättet ihr das bei der Gründung für möglich gehalten?

Nein, natürlich nicht. Als wir angefangen haben, waren da einfach Weilheim, Frust und Langweile und ein Rauswollen aus der Kleinstadt. Vor der eigentlichen Notwist-Besetzung gab’s schon eine frühere Besetzung, die stark von Underground und Punk beeinflusst: Velvet Underground und Camper Van Beethoven waren die Vorbilder. Das, wozu der Originalpunk geworden war, Deutschpunk zum Beispiel, hat mir nicht gefallen, aber über Frontline Mailorder habe ich die ganzen amerikanischen Hardcore-Bands kennengelernt. Aus diesen Einflüssen hat sich die Notwist-Trio-Besetzung gegründet.

Wir haben versucht, in diese Richtung zu gehen. Von der ersten Besetzung waren zu dem Zeitpunkt nur noch als Schlagzeuger Mackie Messerschmidt und ich dabei. Wir haben noch meinen Bruder als Bassisten gefragt, der kurz davor bei einer anderen Punkband aufgehört hatte. Das war so 1987. 1990 kam die erste Platte. Ich weiß gar nicht mehr, wie wir an das erste Label kamen. Die haben uns irgendwo gesehen. Die Hardcore-Szene war ja damals noch sehr vernetzt und man kam als Vorband für amerikanischen Bands von einem Jugendzentrum zum anderen.

Setzt es euch, wenn ihr an neuer Musik arbeitet, unter Druck, dass die Songs mittlerweile ein so großes Publikum finden?

Schon ein wenig. Aber wir versuchen sowieso immer, einen Außenblick in unsere Arbeit miteinzubeziehen. Die letzte Instanz sollte sein, was man selbst gern hören würde. Aber mit zunehmendem Alter der Band und der Anzahl der Platten, die wir schon gemacht haben, fängt man natürlich an, zurückzublicken und zu schauen, ob man nicht das Gleiche schonmal gemacht hat, nur cooler und besser. Das ist eigentlich immer das größte Problem. Man will ja immer etwas machen, das man selber in der Form noch nicht gemacht hat, oder im besten Fall etwas, was es an sich sonst noch nicht gibt. Wir sind uns zwar bewusst, dass man nie etwas komplett selbst erfindet, sondern sich selbst irgendwo her zusammensucht, aber probieren immer, etwas zu finden, für das es zur bestimmten Zeit in genau dieser Kombination und dem Arrangement einen Grund gibt, es zu machen.

„Bestimmte Platten klingen für mich auch rein intuitiv eher farbig, andere monochrom. Also fange ich oft damit an, diese Aspekte zu hinterfragen und mit ihnen zu arbeiten.“

Markus Acher über sein Arbeit

Ist dieser Ansatz auch Ausgangspunkt dafür, dass ihr euch alle an so vielen weiteren Projekten beteiligt?

Ja. Es ist eine gute Art, sich Inspiration zu holen oder Verantwortung abzuwälzen. Zum Beispiel sind an dem Projekt Spirit Fest, mit den beiden Mitgliedern Saya und Takashi Ueno von Tenniscoats, Mat Fowler von Jam Money und Cico Beck (Joasihno, Aloa Input, You + Your D. Metal Friend, Notwist), Personen beteiligt, die sehr viel einbringen, genauso viel wie ich. In so einem Umfeld kann man einfach loslassen und weiß, dass etwas Cooles dabei herauskommt. Das Debütalbum erscheint im November bei Morr Music.

Und wie entsteht ein Projekt wie Spirit Fest? Habt ihr im Vorfeld Songs ausgetauscht oder ist alles in den zwei gemeinsamen Aufnahmewochen entstanden?

Bei Spirit Fest haben alle ihre eigenen Stücke mitgebracht, die schon komponiert und getextet waren. Aber dazu, wie wir sie arrangieren und aufnehmen würden, gab es vorher keinerlei Kommunikation. Letztendlich wusste ich auch nicht genau, was sie mitbringen und dass sie überhaupt etwas mitbringen. Aber ich bin schon lange großer Fan, habe die Band 2005 entdeckt, als wir mit Lali Puna zum ersten Mal in Japan waren. Damals habe ich mir einen Sampler namens Songs for Nao gekauft, auf dem sie selbst, aber auch viele Bands aus ihrem Umfeld versammelt sind. Dadurch bin ich auf sie aufmerksam geworden und habe angefangen, nach ihrer Musik zu suchen, ihre CDs zu bekommen, weil es mich extrem angesprochen und berührt hat.

Während der Aufnahmen in München, © Spirit Fest

2009 erschien eine gemeinsame Platte von Tenniscoats und The Pastels aus Schottland, von denen ich auch großer Fan bin. Durch diese und andere Kollaborationen der Band – etwa mit der schwedischen Band Tape, diversen japanischen Künstlern oder dem australischen Soundkünstler Lawrence English– ist die Idee zu diesem Projekt etwas näher gerückt. Ich habe, bevor wir nochmal mit Lali Puna in Japan waren, gesehen, dass sie inzwischen bei Afterhours veröffentlicht haben, einem befreundeten Label in Tokio, das auch Notwist-Alben lizensiert hat. Die haben für uns auf meine Bitte ein Treffen mit Tenniscoats organisiert. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und sie haben gleich gefragt, ob wir nicht eine Kollaboration machen wollen. Als wir im letzten Jahr zum ersten Mal das Alien Disko-Festival organisiert haben, waren sie gleich die erste Band, die ich vorgeschlagen habe. Wir haben direkt ausgemacht, dass sie ein paar Tage eher kommen und wir die Gelegenheit nutzen, um Aufnahmen zu probieren.

Wie stießen Mat Fowler und Cico Beck zum Projekt?

Die habe ich eingeladen. Ich habe mich gefragt, was noch dazu passt. Mit Cico mache ich viel in München. Er ist ja inzwischen auch bei Notwist und ist ein sehr guter Musiker, der sich extrem gut in eine bestimmte Art von Musik einfühlen kann. Mit Mat habe ich mich auch gut angefreundet. Ich hatte mir die erste Platte von Jam Money direkt bei ihnen bestellt, weil noch kein Vertrieb sie hatte. Darauf hat er sofort geantwortet und schrieb, dass er auch Musik von uns kennt. Wir haben dann viel per E-Mail geschrieben. Irgendwann habe ich ihn gefragt, ob sie ein Album bei unserem Label Alien Transistor veröffentlichen möchten – was sie dann auch gemacht haben. Er ist ein guter Typ und hat einen total eigenen, kunstvollen Ansatz, Musik zu machen, sieht in jedem Gegenstand einen Klang, den er einbauen kann, und geht sehr spielerisch an die Musik heran. Er stellt immer wieder alles auf den Kopf und experimentiert sehr viel, zum Beispiel mit Spielzeuginstrumenten oder jetzt auf der Platte mit Steinen oder einem Radio. Er war für den generellen Klang der Platte sehr wichtig.

Das Video zu Hitori Matsuri liefert Eindrücke aus dem Studio

Quelle: YouTube

Die Musik, die Tenniscoats auf ihren eigenen Alben macht, lebt durch starke Präsenz, deine Projekte zeichnen sich ja eher durch Subtilität aus. Gerade mit Rayon hast du zuletzt ein sehr subtiles, bedrückendes Album veröffentlicht. Auf dem Album fügt es sich für mich zu einem intimen, aber auch optimistischen Sound zusammen. Hattet ihr im Vorfeld eine Intention, dass ein solches Album dabei herauskommt?

Mein Ansatz war wirklich bloß, dass ich ihre Musik nicht höher schätzen könnte. Wäre Neil Young zu Besuch gekommen, wäre ich wahrscheinlich weniger aufgeregt gewesen. Deswegen wollte ich eine Atmosphäre schaffen, die passt und das Besondere an der Band bestmöglich unterstützt. Und das besteht eben darin, dass sie unglaublich intensive Musik machen, auch wenn sie erstmal vielleicht einfach und nett klingt. Aber sie hat eine unglaubliche Tiefe und Traurigkeit, die einen aber gleichzeitig festhält. Man suhlt sich nicht darin, sondern sie ist vielleicht wirklich, wie du es beschreibst, optimistisch.

Wir sind dann auch nicht in eine normales, anonymes Studio gegangen, sondern zu einem Freund von uns, zu Nico, der mit Cico bei Joasihno spielt. Er hat ein Studio in seiner Wohnung, mit zwei Räumen. Im einen steht nur ein Mischpult, im anderen sein Bett und Mikrofone. Dort haben wir eng aneinander aufgenommen. Das hört man eben auch, es war sehr respektvoll. Alle haben wahnsinnig aufeinander gehört, was für alle eine außergewöhnliche Erfahrung war. Auch wenn es bei jedem Stück zusätzliche Overdubs gibt, ist ein Großteil der Platte und das Grundgerüst aller Songs aber eigentlich immer live gespielt und gesungen.

Ihr geht ja im Dezember gemeinsam auf Tour. Durch die räumlichen Distanzen stelle ich mir die Vorbereitung etwas schwierig vor. Schließt ihr euch vorher nochmal an einem bestimmten Ort ein, um die Konzerte vorzubereiten?

Zweimal haben wir ja schon zusammen live gespielt –in Köln und in München– und ich glaube, jeder weiß noch, was er da gespielt hat, und wir werden alle auch immer wieder Songs komponieren, die wir schnell, vielleicht schon während der Tour, erarbeiten. Einen Tag bevor die Tour in Genf startet, treffen wir uns dort schon und spielen alle Songs in einem Proberaum durch, den wir dafür angemietet haben, um es einmal wieder gespielt zu haben. Aber bei allen, die da mitspielen, gibt es nicht so etwas wie Fehler bzw. wenn jemand einen Fehler macht, ist das nichts Schlimmes oder wird nicht als Fehler betrachtet. Alles ist sehr offen und aus allem, was passiert, kann etwas gemacht werden. Tenniscoats selbst gestalten ihre Konzerte auch immer sehr offen und sie improvisieren gerne, was einen, wenn man es live sieht, in seinen Bann zieht.

Tourdaten:

Quelle: Facebook

Damit treffen in dem Projekt aber auch sehr unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen aufeinander, oder?

Definitiv. Ich lerne bei jedem Projekt sehr viel, was mir auch sehr wichtig ist. Notwist zum Beispiel hat auch Freiräume, aber im Studio ist meistens alles sehr kontrolliert, und mit Tenniscoats ist es eben anders. Sie wissen ganz genau, was sie tun, aber sie haben eben eine grundsätzliche Offenheit, hören gerne zu, reagieren darauf, wenn etwas anders passiert, und nehmen es gerne auf. Bei Konzerten beziehen sie gern ihr Publikum mit ein, lassen es mitsingen. Das klingt zwar ziemlich hippiemäßig, ist es aber gar nicht, sondern anrührend und toll. Man kommt da schnell etwas ins Schwärmen.

Tenniscoats im Konzert:

Quelle: YouTube

Heute (15. Oktober) bist du aber wegen ganz anderer Kollaborationen in Berlin. Das IL KINO in Neukölln gestaltet zum European Art Cinema Day einen Thementag zu deinen bzw. euren Film-Soundtracks. Gezeigt werden neben der Notwist-Doku On / Off The Record, die Filme Was bleibt, Absolute Giganten, Solo Swim, N-Capace und Sturm, allesamt mit Soundtracks von Notwist bzw. von dir allein. Das sind sehr unterschiedliche Filme. Wie entscheidest du oder wie entscheidet ihr als Band, an welcher Filmproduktion ihr euch beteiligen möchtet?

Die Projekte, die wir auswählen, sind die thematisch für uns interessantesten, die uns auch als Idee oder Geschichte ansprechen, und bei denen wir uns etwas dazu vorstellen können. Wichtig ist uns auch, bei dem Regisseur oder der Regisseurin zu merken, dass wir miteinander gut klarkommen und verstehen, was sie erschaffen wollen. Uns ist wichtig, vorher zu erkennen, dass es eben keine schrecklichen, kitschigen Vorabendfilme werden. Mit Jörg Adolph, der unsere Musik auch abseits von Solo Swim schon in mehreren Dokus eingesetzt hat, oder Hans-Christian Schmid, dessen Filme Was bleibt und Sturm wir vertont haben, ist es inzwischen ein vertrautes und einvernehmliches Zusammenarbeiten, bei dem man ungefähr weiß, was der andere macht und kann.

Ist das dann die Arbeitsweise: Man stimmt seine Ideen ab und erarbeitet sie für sich allein?

Das ist ganz verschieden. Beim Dokumentarfilm zum Beispiel gibt es ja nicht so etwas wie ein Drehbuch, sondern man kennt das Thema, bekommt vielleicht schon erste Bilder zu sehen und eine Grundidee, was wichtig ist. Aber sehr viel mehr gibt es nicht. Man bekommt immer wieder neue Bilder zu sehen. Jörg aber verarbeitet die Musik sehr intensiv und lässt sich stark von ihr inspirieren. Dadurch entwickelt sich der Film mit der Musik, die man ihm gibt. Also geben wir ihm immer wieder Musik, er hört es sich an, und bei manchen Sachen sieht er, was im Film wie verarbeiten kann. Dadurch entsteht ein Dialog.

Das heißt bei Dokumentarfilmen ist die Musik viel stärker an der Entwicklung des Narrativs beteiligt als bei Spielfilmen?

Mehr noch: Musik und Bilder kommunizieren auf eine Art, die sogar eher ein Weggehen vom Narrativen ist, die Musik teilweise in den Vordergrund rücken lässt und die Bilder darauf zuschneidet. Bei Hans-Christian Schmids Filmen dagegen gibt es natürlich ein ganz klares Drehbuch, und es vor allem darum, mit der Musik auszudrücken oder zu verstärken, was in der Handlung vorkommt, aber man vielleicht in den Bildern allein noch nicht sieht. Man kann dadurch ein wenig in die Leute hineinsehen, interpretieren und etwas komponieren, was dienlich für die Geschichte, den Film und seine Figuren ist.

Eine aktuelle Kollaboration zwischen Hans-Christian Schmid und Notwist: die ARD-Serie Das Verschwinden

Quelle: YouTube

Was ist für dich als Künstler an diesen Kollaborationen der wichtigere Aspekt: dass sich beides am Ende zu einem sehenswerten Film zusammenfügt oder dass dich Bilder zu neuer Musik inspirieren, die dann auch wieder ohne die Bilder funktionieren? Ihr veröffentlicht ja teilweise auch Soundtracks.

Als wir mit Soundtracks angefangen haben, haben wir noch stärker auf die Musik an sich gehört. Aber je länger man weitermacht, desto mehr sieht man, dass die Musik für sich allein zu leer und langweilig klingt. Aber im Zusammenhang mit den Bildern, gerade wenn es um etwas Erzählerisches geht, kann ein einzelner Ton schon eine unglaubliche Wirkung haben und wahnsinnig viel auslösen. Deswegen würden wir auch nie alles, was wir für einen Film machen, veröffentlichen. Unser Soundtrack-Album Sturm ist so ein Mittelding. Im Nachhinein hätte ich aus heutiger Sicht auch nicht mehr die Platte in dieser Form und dem Umfang veröffentlicht. Aber Messier Objects war das Gegenteil und wir haben wirklich versucht, aus allem, was es von uns an Theater- und Hörspielmusik gibt, etwas zusammenzustellen, was wirklich musikalisch für sich steht und einen ganz neuen Zusammenhang ergibt. Man muss dafür nicht mehr wissen, dass eine bestimmte Stelle nun bei Solo Swim die weite des Meeres illustriert. Bei Messier Objects fügt sich ein wildes Durcheinander auf eine Art zusammen, die es wieder einen Sinn ergibt.

Die meistens Songs des Albums sind auch bewusst nicht beschriftet, um sie zu entkoppeln?

Genau. Es sollte keine Vorgabe geben, wie man es sich anzuhören hat. Es steht einfach für sich und man kann sich seine eigene Idee dazu machen.

Was auch teilweise in Messier Objects aufgeht, ist eure Zusammenarbeit mit Jette Steckel für das Deutsche Theater bei Sartres Das Spiel ist aus. Wenn jedes Projekt und jeder Film, wie du sagst, eine andere Arbeitsweise erfordert, wie funktioniert dann die Vertonung für ein Theaterstück?

Das Stück ist ein Zwischending, weil auch mit Filmsequenzen im Theaterstück gearbeitet wird. Der Anfang des Stücks wird komplett als Kurzfilm präsentiert, der im Endeffekt eine Art Stummfilm ist, bei dem die Handlung klar erzählt wird, aber dazu läuft ein fast 13 Minuten langes Stück von uns. Die Vorgabe war, dass die Musik hierzu einen starken Zug benötigt, aber trotzdem diese Spieldauer benötigt und zu den Bildern funktionieren muss. Wir haben also eine Weile gesucht, bis wir etwas hatten, das dem Film gerecht wird. Denn bei einem einfachen Loop hört man nach acht Wiederholungen weg – was ja auch das Schöne an Minimal ist: Man gelangt durch die Musik woanders hin und die Musik selbst ist eigentlich gar nicht mehr da. Aber bei dem Stück sollte die Musik auch einfach in gewisser Weise permanent stressig sein. Im Theaterstück selbst gab es dann auch Stücke von uns, die gesungen werden oder im Hintergrund laufen.

Mit Jette Steckel zu arbeiten, ist super. Sie ist sehr genau, hat eine genaue Vorstellung und ist gleichzeitig total offen. Sie hinterfragt in ihrer Arbeit auch immer wieder die Situation und Theater an sich, wie bei Das Spiel ist aus, wo ja das Publikum auf der Bühne sitzt und die Schauspieler im Zuschauerraum sind. Das macht großen Spaß und ist sehr ergiebig. Und bei Jette Steckel kann man, was sonst selten der Fall ist, eben auch sagen: „Es wäre vielleicht gut, wenn die Musik hier laut ist“. Und dann ist sie eben auch laut.

Notwist – Das Spiel ist aus 

Quelle: Soundcloud

Das ist beim Film wahrscheinlich anders.

Beim Film funktioniert das nicht. Da sind wir auch gar nicht mehr beteiligt, sondern es gibt eigens Sound-Designer. Bestimmte Frequenzen würden einen Dialog übertonen. Und sobald die Musik auffällt und man nichts mehr versteht, funktioniert es nicht mehr als Soundtrack.

Wie du letztes Jahr im Interview angedeutet hast, ist es für dich auch unabhängig von Film und Theater Teil des künstlerischen Prozesses, unterschiedliche Kunstformen zu transferieren. Wie genau beeinflussen dich visuelle Medien?

Das ist eher etwas Intuitives. Ich kann nicht benennen, was genau es macht. Bei Musik denke ich oft sehr visuell. Oft ist es ja so, dass man in der Stimmung eines guten Films noch eine ganze Weile verbleibt, und alles ist, wie in diesem Film. Oft sehe ich ein Bild, bei dem ich feststelle, dass es auf eine andere, eine visuelle Art sehr gut das ausdrückt, was ich bei einer Platte oder einem Lied suche oder ausdrücken möchte. Bestimmte Platten klingen für mich auch rein intuitiv eher farbig, andere monochrom. Also fange ich oft damit an, diese Aspekte zu hinterfragen und mit ihnen zu arbeiten. Ich befasse mich nie mit Kunsttheorien oder -konzepten, sondern es ist ein unterbewusstes Antriggern oder Ablenken, um auf andere Ideen zu kommen und es sich anders anhören zu können.

Wie würde deine Musik ohne diese Einflüsse klingen – also wenn du nur geschlossen im Studio arbeiten würdest?

Es wäre garantiert anders. Beziehungsweise würde es bei mir gar nicht funktionieren. Ich bin mir sehr bewusst, dass ich alles, was ich mache, im Endeffekt nur zusammenklaue. In Kleinteilen kommt auch jede Melodie von irgendwo her. Auf eine Art sollte man versuchen, das zu finden, was an einem Kunstwerk so berührt, dass es einem im Gedächtnis bleibt, und etwas ausdrückt, was man anders nicht ausdrücken kann. Etwas, das eine Kraft hat, Erfahrungen auszudrücken, die mit Worten sehr schwer bis gar nicht auszudrücken sind. Wenn man diesen Kern mit dem trifft, was man selbst macht, und nicht nur eine Form, zum Beispiel eine Musikrichtung, adaptiert, sondern überlegt, was einen an einem bestimmten Stück eigentlich berührt, kann das nur unbewusst funktionieren. Für mich ist es essenziell, viel zu hören. Aber ich bin eh ein Sammlertyp und in erster Linie Fan von ganz vielem, höre und schaue mir viel an, lese Bücher, sehe viele Filme. Ich bin kein Techniker. Denn sich technisch mit etwas auseinandersetzten ist ja auch so ein Ansatz, der zu etwas Großartigem führen kann. Nur eben nicht meiner.

Ein weiteres Nebenprojekt von Notwist: Hochzeitskapelle

Quelle: SoundCloud

Gibt es denn aktuell Werke, zum Beispiel Filme, die dich besonders inspirieren?

Filme momentan weniger, weil ich es zurzeit so selten ins Kino schaffe. Ich konnte mir bisher noch nicht einmal Blade Runner 2049 anschauen, den ich unbedingt sehen möchte. Ich bin großer Fan des Originalfilms. Es sind zurzeit eher Bücher und Platten – und Fotografen. Vitas Luckus aus Riga zum Beispiel, ein Fotograf, der sich tragisch umgebracht hat, von dem ich mir, als wir in Italien auf Tour waren, zwei Bücher mit seiner Werkschau gekauft habe. Das hat mich zuletzt sehr beeindruckt und ich sehe es mir immer wieder an. Platten gibt es viele. Gerade habe ich Oro Swimming Hour gehört, ein neues Duo aus England, das ein großartiges Album gemacht hat: Gitarre, Gesang, eine bestimmte LoFi-Ästhetik, Orgeln, unglaubliche Stücke.

Und das neue Album von Ryuichi Sakamoto habe ich mir öfter angehört, dem vielleicht berühmtesten japanischen Musiker. Er war früher bei Yellow Magic Orchestra, die, was sie wahrscheinlich nicht so gerne hören, als japanische Kraftwerk gelten. Sie haben in den 80ern viel mit Synthesizern gearbeitet, waren international, auch hier, sehr erfolgreich und haben eine Art sehr tanzbares Proto-Electro entwickelt. Und Sakamoto wurde vor allem durch den Soundtrack zu Merry Christmas, Mr. Lawrence mit David Bowie sehr berühmt. Er macht zwar viel pianolastige, aber eben auch stark experimentelle und avantgardistische Musik.

Besteht die Chance auf eine Zusammenarbeit?

Nein! Auf keinen Fall. Er ist viel zu groß! Wie Brian Eno. Ich muss ja sagen, schon die Zusammenarbeit mit Tenniscoats kam mir sehr egoistisch vor, weil ich einfach ein großer Fan bin. Beim Studioaufenthalt gab es schon Momente, in denen ich mir dachte, „Markus, was machst du denn da? Die haben so tolle Platten mit anderen gemacht. Was kannst du schon einbringen, was sie nicht eh auch schon gemacht haben oder machen können?“

Musiktipp von Markus Acher: Oro Swimming Hour

Quelle: YouTube

Woran arbeitest du aktuell?

An neuen Notwist-Sachen. Wir möchten nächstes Jahr wieder ein Album veröffentlichen. Beim Alien Disko Festival spielen wir im Dezember in München. Wir müssen dort fast spielen, weil viele bisher nicht so bekannte Projekte dort auftreten. Also hoffen wir, dass einige Notwist-Leute kommen, denen wir die anderen Projekte vorstellen. Wir spielen aber nicht ein normales Programm, wie letztes Jahr, sondern greifen viele unserer Filmkompositionen auf.

Werdet ihr dort auch schon neue Songs spielen?

Das weiß ich noch nicht. Leider sind alle vielbeschäftigt. Überhaupt Termine zum Proben zu finden, wird schon abenteuerlich. Die Zusammenstellung des Festivals war schon sehr viel Arbeit.

Aber ich nehme momentan auch Songs mit Odd Nosdam auf. Wir haben bereits fünf Lieder. Er kommt aus dem Umfeld des Anticon-Labels, bei denen Themselves sind, mit denen wir die Band 13&God gemacht haben. Deren Rapper Doze One hatte die Band cLOUDDEAD – eigentlich die Königsband des ganzen Kosmos. Odd Nosdam war in dem Trio der Produzent und hat eine ganz eigene Art zu produzieren. Super Typ. Er ist bei Notwist-Konzerten in Amerika mitgefahren und hat vor unseren Show aufgelegt oder gespielt. Wir sind in den Städten herumgezogen, sind zusammen in Plattenläden gegangen und haben uns Alben empfohlen und zugesteckt. Daraus haben sich Freundschaft und musikalischer Austausch entwickelt. Wir sind auf einem Nenner, nur dass er den Hiphop-Background hat, sowie Noise und Ambient, bei mir eher Indie und Jazz. Aber wir treffen uns in den Schnittmengen in der Mitte und schicken uns Songs hin und her. Irgendwann soll eine Platte dabei herauskommen. Ich weiß nicht wann und hoffe bald.

Es gibt noch ein weiteres Projekt, auch mit einem japanischen Musiker: Hochzeitskapelle. In der Band spielen wir rein akustisch, mit Tuba, Posaune, Banjo, Bratsche und Schlagzeug. Wir spielen in der Formation sehr gerne, weil es so unkompliziert ist und man sich einfach ohne Vorbereitung hinsetzen und rein akustisch losspielen kann: auf dem Markt, an der Isar, auf Geburtstagsfesten, in der Wirtschaft. Unter anderem spielen wir auch die Komposition eines japanischen Musikers, Kama Aina, der ganz tolle Musik macht. Wir mögen das Stück, genau wie viele andere Leute, sehr gern und haben ihm unser Album geschickt. In Japan habe ich ihn dieses Jahr getroffen, als ich Tenniscoats besucht habe. Nächsten Monat kommt er nach Deutschland und wir werden gemeinsam eine Platte mit Stücken aufnehmen, die er extra für Hochzeitskapelle komponiert hat und treten mit ihm auf einem Festival auf.

Dankeschön für das Interview.


Spirit Fests Debütalbum erscheint am 1o. November bei Morr Music und klingt in etwa so farbenfroh wie sein Cover aussieht:

Cover und Titelbild: © Spirit Fest

Indiezukunft: Tobias Roth – Verlag “Das Kulturelle Gedächtnis”

Verlag Das Kulturelle Gedächtnis

Wie sieht die Zukunft der unabhängigen Verlagsbranche aus? Zwischen Digitalisierung, dem ewig zitierten Niedergang des Printgeschäfts und chronischer Finanzierungsnot gibt es immer noch zahlreiche junge Independent-Verlage, die unsere literarische Landschaft mit ihren Programmen aufwerten. Wir möchten diesem besonderen Bereich zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen und suchen gemeinsam mit unseren Interviewpartnern nach Wegen in die Zukunft.

Als Auftakt haben wir mit dem Autor, Lyriker und Übersetzer Tobias Roth gesprochen, der neuerdings auch im neugegründeten Verlag Das Kulturelle Gedächtnis zeitlose Texte mitverlegt.


Tobias, wie ist es zur Gründung des Verlags “Das Kulturelle Gedächtnis” gekommen?

Die Idee entstand durch private Bekanntschaften und klassische Küchentischgespräche nach dem Abendessen. Dort wurde uns sehr schnell klar, dass alle Beteiligten die Leidenschaft für Bücher und besonders für ältere Texte verbindet. Eines unserer meistdiskutierten Themen war, dass viele dieser Texte oft keinen verlegerischen Ort finden, da sie vermeintlich zu entlegen sind, zu schräg, zu heiß, oder eben nicht die Leserschaft des Kanons hinter sich haben, wie das beispielsweise der Fall wäre, wenn man Schilleraphorismen herausbringen würde. Diese Küchentischgespräche erweiterten sich immer mehr und verselbstständigten sich. Bevor wir uns versahen, entwickelten wir erste Skizzen für ein Verlagsprogramm und auf einmal standen wir dann auch schon beim Notar, mit dem Vorhaben einen neuen Verlag als GmbH eintragen zu lassen. Wir sind also vom Grundsatz her ein klassischer Independent-Verlag, der eigenes Kapital einsetzt, aber auch durch stille Unterstützer gefördert wird. Wichtig ist auch, dass wir alle Gewinne, die wir erwirtschaften, im Verlag belassen und uns selbst keine Honorare für unsere Arbeit zahlen. Es geht um Unabhängigkeit und Konituität des Programms. Wenn es also gut läuft, werden nicht wir reich, sondern die durchgängig vielfarbigen Folianten kommen aufs Programm. Gleichzeitig gibt es intern keine typischen Verlagshierarchien, wir machen alle gemeinsam Programm, wir sitzen immer noch am Küchentisch.

Dann stell euer Team doch bitte kurz vor! Wer arbeitet an dem Projekt mit?

Im Endeffekt sind wir zu viert.

Als erstes Peter Graf, bekannt als Verleger bei WALDE+GRAF, der mit seinem geballten verlegerischen Know-How Herzschlag des Ganzen ist und dafür nicht selten seinen eigenen Ruhepuls riskiert.

Dann der Carsten Pfeiffer, ein Vertriebler und wundervoller Bibliomane, der sich vor allem im Fundament der Zahlen auskennt, wo naturgemäß wichtige Mechanik der Maschine Verlag beheimatet ist.

Und der Thomas Böhm, dessen Stimme man aus dem Radio und von allerhand Bühnen kennt. Thomas ist ein absolutes Veranstaltungs- und Moderationstalent, Quatsch: Veranstaltungs- und Moderationsmeister! Er hat lange das Literaturhaus Köln geleitet und beispielsweise den berüchtigten Gastauftritt Islands auf der Frankfurter Buchmesse auf dem Kerbholz.

Ich selbst bin Autor, Philologe, Übersetzer, der von der ganzen verlegerischen Seite noch am wenigsten Ahnung hatte und jetzt natürlich das Glück hat, mitten in der geballten Erfahrung zu sitzen. Ich bekomme einen Crashkurs in Sachen Verlagswesen.

Außerdem sind wir durch die Verbindungen Peters an die grandiosen Gestalter von 2xGoldstein aus Karlsruhe und studio stg aus Berlin gekommen, die für die Optik unseres Verlags und unserer Bücher verantwortlich sind.

VDKG Roth Böhm

Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis in der Kulturbrauerei. V.l.n.r.: Thomas Böhm, Tobias Roth, der Schauspieler Frederic Böhle. Photo: Insa Langhorst.

Wie seid ihr zu dem Namen „Das Kulturelle Gedächtnis“ gekommen?

Die Prägung des Begriffs „kulturelles Gedächtnis“ stammt natürlich nicht von uns, sondern wurde vom Ehepaar Assmann genial aus der Taufe gehoben. Es beschreibt schlichtweg das, was menschliche Kultur schon hervorgebracht hat und was noch zur Verfügung steht. Teile dieses Gedächtnisses sind in den Hintergrund geschoben worden, aber sie sind trotzdem noch vorhanden. Genau an diesem Punkt wollen wir ansetzen, denn wir sind der Meinung, dass viele dieser Bestände gerade in unserer Zeit höchst nützlich sind. Wir wollen also eine Art Goldgräberrolle einnehmen, indem wir uns fragen: „Was gibt es gerade für aktuelle Diskurse und Probleme? Welche Analysen und Lösungsvorschläge gab es dazu schon, die aber nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen?“ Anhand dieser Fragen wählen wir Titel aus, die meist vergriffen, nicht (brauchbar) übersetzt, schwer zugänglich oder durch Fraktur distanziert sind. Diese verlegen wir in moderner Aufmachung, kommentieren sie, schreiben Nachworte, bereiten das Material auf. Wir sind also in diesem Sinne nicht nur Goldgräber, sondern auch Staubwegpuster.

„Astu non vi. – Mit List, nicht mit Kraft.“

Motto des Verlags „Das Kulturelle Gedächtnis“

Wir wollen eine Stimme in den Diskurs einbringen, die allein schon durch ihre historische Distanz einen besonderen, angeschrägten Winkel hat, aber trotzdem in die Diskussion eingespeist werden kann. Natürlich können wir diese historischen Ansätze nicht als servierfertige Lösungen aktueller Probleme ansetzen, aber wir können uns an den Standards und dem Niveau der Reflektion dieser Gedanken orientieren und dadurch unsere eigenen Standpunkte hinterfragen.

Wie siehst du diesen Ansatz mit der gegenwärtigen Art des Diskurses vereinbar?

Ich denke, dass wir uns momentan in einer Art Umbruchphase befinden – vielleicht vergleichbar mit der Zeit um 1500, als der Buchdruck die Art der Meinungsbildung radikal verändert hat. Ähnlich sehe ich den Einfluss des Internets, das ganz neue Informationsströme und dementsprechend auch eine neue Medienkompetenz erfordert. Diese Kanäle können und wollen wir uns natürlich auch zunutze machen. Aber klar, veränderte Fließgeschwindigkeit von Information verändert den ganzen Zeitbezug.

Natürlich könnte man die Einspeisung eines 200 Jahre alten Kommentars in den Diskurs als radikalen Gegenentwurf zur „News-Bubble“, in der man sich beispielsweise im Facebook-Feed befindet, interpretieren. Da wird auch ein zeitlicher Horizont hereingebracht, der – wie es scheint – in unserer heutigen Fortschrittskultur nicht vorgesehen ist. Die Gegenwart und die Projektion auf die Zukunft scheinen heute die entscheidenden gedanklichen Richtungen zu sein, weniger die Besinnung auf eine qualitätvolle Vergangenheit. Diese Verkürzung des Horizonts führt dazu, dass wir einige Imperative unserer Zeit, die aus dieser unbeachteten Vergangenheit stammen, gar nicht mehr in ihrer Genese und Absicht verstehen. Gerade solche Distanzen kann man, denke ich, mit dem Vehikel unseres Verlags gut überbrücken. Denn wir wollen ja nicht auf kontra mit einer gegenwärtigen Denk- oder Informationskultur gehen.

Die Idee „alte Gedanken in neuem Gewand“ zu verlegen spiegelt sich auch in eurem Programm wieder. Kannst du uns einen Titel exemplarisch vorstellen?

Sehr gerne! Die Idee der Diskurs- und Denkanregung wird in unserer Reihe GEGENSCHUSS wohl am besten deutlich. In den Büchern dieser Reihe ist schon im Format eine Mehrstimmigkeit angelegt, denn man kann sie von zwei Seiten lesen. Es sind also zwei Texte zu einem Thema, die sich konfrontativ ergänzen und dadurch eine kompetetive Symbiose bilden.

Der erste Band unseres Formats GEGENSCHUSS stellt den Text „Der Diplomat“ von Jules Cambon den „Die Regel des Duells“ von Franz von Bolgár gegenüber.

Cambon beschreibt sehr feinsinnig, wie durch die Kunst der Diplomatie Konfliktlösungen ohne Anwendung von Gewalt gefunden werden können. Wenn man das Buch dann um 180° dreht, gelangt man zu schnellsten Art der Konfliktlösung – nämlich dem Duell mit tödlichen Waffen, dessen Regeln im Text von Franz von Bolgár ausgeführt sind. Diese Vorgehensweise zielt auf eine unmittelbare Lösung des Konflikts ab, die aber trotzdem noch in einer zivilisierten Art von statten gehen soll. Innerhalb des Buches wird durch die ständige Rotation der Konfliktlösungen eine Reflektion unserer eigenen Konfrontationen angeregt.

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Ihr nutzt also die Art der Aufmachung und des Designs eurer Bücher als diskursives Instrument?

Zunächst sind wir sehr darum bemüht, dass bei dem Design unserer Bücher unmittelbar klar wird, dass es uns nicht darum geht, eine weitere „Klassikerbibliothek“ zu machen. Wir setzen da in Zusammenarbeit mit unseren kreativen Designstudios auf innovative gestalterische Mittel. Unsere Titel sind beispielsweise sehr bunt geprägt und wir scheuen uns auch nicht vor Seiten mit schwarz-weiß-Inversionen oder ähnlichem, auf den Umschlägen steht viel Text. Einige unserer Doppelseiten erinnern vielleicht eher an die Aufmachung einer hippen Literaturzeitschrift, als an Klassiker. Andererseits gibt es viele Elemente klassischer Buchkunst: etwa, dass alle Bände einen farbigen Kopfschnitt haben und es keine Schutzumschläge gibt. Auch die Materialität soll unseren Spagat kommunizieren: „Voilà alte Texte, aber diese Texte sind für heute.“

Das drückt auch unseren Anspruch an die Texte aus, die wir verlegen. Nur „alt“ reicht eben nicht, sondern sie müssen eine gewisse Qualität und eine zeitgenössische Relevanz besitzen. Die Art unseres Designs ist auch eine Einladung an unsere Leser. Wir wollen zeigen, dass diese Texte lesbar und nützlich sind, brauchbar. Und, das soll nicht zu kurz kommen: dass man mit ihnen großen Lesegenuss haben kann, Freude und neue Erfahrungen.

Abschließend noch ein großes Thema, das gerade für Independent-Verlage relevant ist: Ein Buch ist heute mindestens zu gleichen Teilen Konsumprodukt und künstlerische Ausdrucksform. Wie siehst du dieses Spannungsverhältnis?

Ich denke, dass man zwischen diesen beiden Polen, die sich scheinbar gegeneinander abstoßen vermitteln und differenzieren muss. Ganz klar ist einerseits: Vollkommen brotlose Kunst kann nicht funktionieren, denn dann hast du kein Brot zum Essen. Andererseits ist ein Buch kein Produkt, sondern eine Verlängerung des Gedächtnisses, wie Luis Borges schon gesagt hat.

“Das Buch ist eine Verlängerung des Gedächtnisses und der Vorstellung.”

Luis Borges

Wir als Verlag haben uns dann dazu entschieden, vor allem schöne  und wertige Bücher zu machen. Denn wir glauben, dass das materielle Produkt Buch auf ganz besondere Weise Bezauberungspotential hat und für seinen Inhalt wirbt.

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Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis im Roten Salon der Volksbühne. V.l.n.r.: Die Schauspielerin Kathie Angerer, Peter Graf und Thomas Böhm. Photo: Insa Langhorst.

Ihr als junger Independent-Verlag habt euch also bewusst dazu entschieden, euch klassisch in den sich diversifizierenden Buchmärkten zu positionieren? Da gibt es heute ja auch viele Stimmen, die etwa den digitalen Weg predigen.

Natürlich kann man sagen, dass wir durch unsere Ausrichtung auf Klassiker im Printformat heute eine bibliophile Nische des Buchmarktes bedienen. Aber man muss gleichzeitig bedenken, dass das eine verdammt große Nische ist. Kaum ein anderes Produkt hält sich so widerstandsfähig im Markt, wie das gedruckte Buch. Seit Jahrhunderten ist das System des gedruckten Buches eine funktionierende Maschine, die funktioniert und in ihrer Schönheit wertgeschätzt wird. Das gilt sogar für das einzelne Teil: Du schlägst ein Buch von 1517 auf und das Ding als Objekt und Maschine funktioniert einwandfrei, ohne Abstriche. Aus diesem Grunde bin ich sehr zuversichtlich, dass gerade junge Independent-Verlage in der Zukunft noch Zutrauen in dieses Format setzen werden. Ist doch auch verdammt schön, so ein Buch!

Wie steht ihr denn perspektivisch zu einer digitalen Umsetzung eurer Titel?

Wir schließen das nicht kategorisch aus. Allerdings haben wir festgestellt, dass viele unserer Darstellungs- und Gestaltungsformen digital nur schwer umsetzbar wären. Wir wollen uns für die Zukunft aber offenhalten, dass wir zu einzelnen Titeln auch neue Darreichungsformen, etwa als E-Book, wählen. Allerdings sind wir der Überzeugung, dass man immer am einzelnen Titel ansetzen muss, um die Vor- und Nachteile zu beurteilen und dann dementsprechend umzusetzen.

Wir haben uns zunächst dagegen entschieden, neben unseren Printtiteln als Nebenprodukt pauschal auch E-Books auszuspucken. Denn wenn man das so nebeneinander laufen lässt, wächst die Gattung des E-Books als Darreichungsform nicht mit und emanzipiert sich nicht in einer sinnvollen und schönen Weise vom Printbuch. Wir wollen das Buch als Textträger, das eine sinnliche Erfahrung bietet, respektieren.


Tobias RothTobias Roth (*1985) lebt in Berlin und München als Autor, Philologe und Übersetzer aus dem Italienischen, Französischen und Lateinischen. 2013 erschien im Verlagshaus Berlin sein Debut „Aus Waben“, das mit dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis (2013) und dem Bayerischen Kunstförderpreis (2015) ausgezeichnet wurde. 2016 förderte das Bezirksamt Mitte von Berlin einen Text Roths auf den Straßen von Moabit (1600m Schlämmkreide, Koproduktion mit Sophia Pompéry) und produzierte der Homunculus Verlag Erlangen einen anderen als Tischdecke (100% Baumwolle, Koproduktion mit Julius Walther). 2017 erschienen bisher seine Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin), sowie die von Roth herausgegebene Anthologie „Lob der mechanischen Ente“ (SuKuLTuR Verlag, Berlin).


Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Wir empfehlen das Stöbern im Herbstprogramm des Verlags “Das Kulturelle Gedächtnis”

Von Amateur zu Amateur. DIY-Kult-Filmemacher Dirk Oetelshoven und Jens Barlag im Interview

Anarchie war immer eine der Urtriebfedern des Films“ – zumindest aber ist sie es für den No-Budget-DIY-Epos Amateure. Den Film drehte Dirk Oetelshoven, als die fetten Jahre vorbei waren, in Ko-Regie mit Jens Barlag. Warum sie dies taten, wie der Film sich im anarchischen Kino verortet und warum ausgerechnet Robbie Williams mitspielt, erzählen sie im Interview.

Zur Orientierung: Dirk Oetelshoven, geboren 1968 in Remscheid, ist seit Schulzeiten fasziniert von Film und Theater, als Darsteller sowie als Regisseur und Autor. Die ersten Erfahrungen sammelte er mit den Theatergruppen „Hootons wilde Komödianten“ und „Brot & Spiele“. Mit der Letzteren hat er viele preisgekrönte Kurzfilme gedreht. Nach dem Studium an der Kunsthochschule für Medien Köln arbeitet er u. a. auch als Cutter für TV und Kino (z. B. Die fetten Jahre sind vorbeiDie Summer meiner einzelnen Teile). Dirk ist verheiratet mit der Videokünstlerin Magdalena von Rudy und lebt zusammen mit ihr und ihren beiden Söhnen in Wuppertal. Jens Barlag, geboren 1967 in Nordhorn, Germany, wiederum studierte an der Kunsthochschule für Medien Köln von 1995 bis 2000. Um ihren 2009 veröffentlichten gemeinsamen Film Amateure dreht es sich im Folgenden.


Euer Film Amateure ist „so geil, du lachst Kotze“. Was ist sonst noch so alles zum Kotzen/Lachen/Klotzen/Koten/usw.?

Dirk

Worte mit K sind komisch; „Kruzifix“, „Karambolage“ ist komisch. „Kakerlake“ ist sogar sehr komisch. „Amateure“ ist nicht komisch. Also das Wort, mein ich …

Jens

Ich finde „kotzen“ und „koten“ nicht witzig und „Kotze lachen“ erst recht nicht, sondern eher ekelig. Allerdings ist „Amateure“ auch nicht witzig, den Film meine ich.

Als Alternativtitel kämen in Frage: „Schaben“, „Suppenhelden mit Schlumpfhoden“ oder „Tragödem – Desolat-Aggregationen“ – wie wichtig ist das Depressive in der Kunst?

Dirk

Um es mit Mel Brooks zu sagen: Tragödie ist, ICH haue mir mit dem Hammer aus Versehen auf den Daumen. Das tut weh, ich bin schlecht gelaunt etc. Komödie ist, DU wirst vom Bus überfahren und stirbst!

Jens

Ich mag traurige Lieder, traurige Filme und traurige Menschen.

Welche Bedeutung haben das sog. Fremdschämen und verwandte Geschmackskniffe?

Dirk und Jens

Besser Fremdschämen als fremdenfeindlich!

Nur Dirk

Aber ernsthaft: Ich glaube, wenn Trump, Putin, Erdogan, Wilders, Petry, LePen, Farage, Johnson, Imperator Palpatine für den Bruchteil einer Sekunde spüren könnten, was sie in anderen Menschen für Gefühle auslösen, sie würden sich vor Scham in Meerschaum auflösen. Nicht in diesen schönen weißen Meerschaum, sondern diesen öligen, gelben, nach Fäulnis und Fisch stinkenden Meerschaum.

Jens

Ich glaube nicht, dass die Damen und Herren wasserlöslich sind, aber schön wäre es. Fremdschämen ist immer scheiße und fremdenfeindlich ist noch mehr scheiße.

Einer der Superhelden im Film heißt TRAFO, seine Sidekick-Freundin LUX; ein anderer nennt sich AKKU. Ergeben die drei in Kombination irgendeine relevante Gerätschaft, von der ich wissen sollte?

Dirk

Das ist doch klar: Natürlich die WDR-2-Schütteltaschenlampe!

Jens

Als der Film gedreht wurde, war das iPhone noch nicht erfunden, wir waren immer unserer Zeit ein Stück voraus.

Was steckt hinter dem Plakat von Robbie Williams in Jürgens Wohnung (außer Tapete natürlich)?

Dirk

Dahinter steckt der vergebliche Versuch unserer Praktikantin, auch Ausstatterin sein zu wollen.

Jens

Ich dachte immer, dass die Praktikantin zu faul war, das Bild abzuhängen.

Ich habe polnische „Vogelmilch“ probiert und war enttäuscht – deutsche Süßigkeiten sind doch gar nicht so übel?

Dirk

Vergiss es. Nur der Mangel macht’s. Aus ihrem Bonbon-Stanniolpapier basteln die Polen wahre Kunstwerke! Kleine bunte Kirchen oder Paläste. Wow!

Jens

Sorry, da bin ich raus.

Was ist vom Bedingungslosen Grundeinkommen zu halten, das immerhin für 1000 Gramm Brot und 12 Spiele reichen müsste?

Dirk

Nur her damit, und dabei gehts mir gar nicht ums Geld, sondern: Wie sähe eine Welt aus, in der jeder nur noch das macht, was ihm Spaß macht? The Walking Dead oder Star Trek: The Next Generation?

Jens

Anarchie war immer eine der Urtriebfedern des Films, auch wenn ich das erst Jahre später begriffen habe.

Wodurch sollte der übliche Büroalltag am ehesten ersetzt werden, um alle akuten gesellschaftlichen Probleme endlich in den Griff zu bekommen: Nazighuule, Macrogol oder Antihistaminika-Horrortrips?

Dirk

Definitiv Nazighuule. Endlich mal ein Wort, das man nicht googeln kann!

Ansonsten vertrau’ ich auf die Entwicklung der KI, die uns alle Arbeit abnehmen wird. Ich hör jetzt schon mal auf zu arbeiten, damit es schneller geht. Doch auch die KI wird irgendwann die Schnauze voll haben, also sollte die KI vielleicht nicht zu I sein.

Jens

Und wir singen im Atomschutzbunker: „Hurra, diese Welt geht unter!“ Auf den Trümmern das Paradies.

Wie schneidet Helges Jazzclub im Vergleich zu seinen anderen Filmen ab?

Jens

Muss zugeben, dass das der einzige Schneider ist, den ich noch nicht zu Ende gesehen hab. Was sagt das über mich?

Dirk

Im Wendekreis der Eidechse dagegen ist ein kleines Meisterwerk meiner Ansicht nach. Hugos Ansicht nach auch! (Mein Sohn, 10.)

Jens

Mit Helge Schneider konnte ich nie was anfangen, Terror 2000 finde ich weitaus besser.

Was ist zum zeitgenössischen deutschen Film zu sagen?

Dirk

Hallo, zeitgenössischer deutscher Film, aber ich kann heute leider wieder nicht, sorry …

Jens

Jetzt mal eine ernste Antwort: Da gibt es eine Menge Dreck, aber ein, zwei Perlen sind dabei.

Welche Geheimtipps des (nicht ausschließlich deutschen) Indie-Kinos wären nennenswert?

Dirk

Super von James Gunn natürlich, auch wenn er alles geklaut hat von uns, aber man muss auch gönnen können.

Jens

Da schließe ich mich an.


Den gesamten Film Amateure gibt’s hier:

Quelle: YouTube

Zwischen Experiment, Soundtrack und Avantgarde. Ein Gespräch mit Midori „MimiCof“ Hirano

Wer ist Midori Hirano? Bereits seit ihren ersten Veröffentlichungen spannt die Musik der Japanerin einen Bogen zwischen Klassik und Ambient, und wirft insbesondere auch eine aufmerksame künstlerische Perspektive auf deutsche Erscheinungen der Musikgeschichte. Ihre Musik stellt nachdrücklich fest, dass diese sich nicht nur, wie allgemein angenommen, über Stilbrüche verstehen lassen, sondern auch als rückgekoppelte, geschlossene Kunst funktionieren.

Unter ihrem Pseudonym MimiCof entlädt sie die Spannung immer stärker in etwas Eigenes, führt uns tiefer ins Abstrakte und baut die Sphären, die sie vor langer Zeit betreten hat, zu synästhetischen Gebilden, mal Maschinen-, mal Welträumen aus. Das führte sie schon auf die Berlinale. Ihr neues Album „Moon Synch“ nun ist nicht zuletzt auch von ihrer Auseinandersetzung mit einem analogen Buchla-Synthesizer geprägt. Assoziationen zu Science-Fiction-Kino-Soundtracks oder Industrial Music bleiben schon deswegen nicht aus.

Doch es liegt in der Natur des Avantgarde, im Vorgefundenen bloß Vereinnahmungspotenziale zur Überwindung zu verstehen. Und so erlegt der schwere Industrial-Sound ihrem Projekt eine neue künstlerische Mitte auf, die „Moon Synch“ zu einem seltenen Fund macht – dem Ausgangspunkt eines aufschlussreichen Gesprächs.


Herzlichen Glückwunsch zu deinem neuen MimiCof-Album – wie lang hast du daran gearbeitet?

Dankeschön. Mit ein paar Pausen habe ich insgesamt vielleicht vier bis fünf Monate daran gearbeitet. Ich hatte zwei Residencies in Stockholm, einmal für zwei Wochen und einmal für eine Woche. Es gibt dort das DMS Studio, das einen großen Buchla-Synthesizer hat. Ich habe vorher nie mit einem analogen Synthesizer gearbeitet und war total interessiert, weil ich bisher nur digital am Computer gearbeitet habe.

Du bist extra für diesen Synthesizer nach Stockholm gekommen?

Genau, ich habe mich dafür auf diese Residency beworben und bin dann zum Glück angenommen worden.

Quelle: SoundCloud

Und während dieser Zeit in Stockholm sind sämtliche Songs des Albums entstanden?

Ich habe zunächst komplett ohne Ziel begonnen, mich mit dem Synthesizer auseinanderzusetzen, habe improvisiert und experimentiert, weil ich nicht wusste, wie er funktioniert. Das wurde mir im Studio aber gezeigt und ich habe es gelernt. Nach dem ersten Aufenthalt habe die Dateien mit nach Hause gebracht und sie ausgewertet, noch mehr Layer hinzufügt und sie digital bearbeitet.

Wie war es denn für dich, ein neues Instrument kennenzulernen?

Das war super. Ich habe ja klassische Musik studiert und früher viele Jahre lang Klavier gespielt. Aber das ist ein schon länger her, ich habe eine lange Pause vom Klavierspielen gemacht und meine Musik komplett am Computer komponiert. Mir wurde aber immer stärker bewusst, dass ich den Kontakt zu einem Instrument vermisse. Ich wollte jedoch nicht einfach zum Klavier zurück, sondern etwas anderes probieren.

Und gibt es Buchla-Synthesizer so selten, dass du dafür extra nach Stockholm musst?

Ja, tatsächlich. Die sind schon teuer und es gibt nicht so viele. Und es ist ein sehr altes Modell, aus den 60ern oder 70ern.

Der Buchla-Synthesizer im Stockholmer Elektronmusikstudion:

Quelle: Instagram

Im Gegensatz zu deinen vorherigen Alben gibt der Synthesizer deinem Sound ja auch eine durchaus neue Richtung, er klingt zeitloser und schwerer. Wie würdest du den Sound im Unterschied zu deinem 2012er MimiCof-Album „KotoLyra“ beschreiben?

Die beiden Alben sind komplett unterschiedlich. Bei „KotoLyra“ habe ich eher nur mit dem Computer komponiert und nur für wenige Stellen einen Synthesizer benutzt. Aber auf „Moon Synch“ geht es viel stärker in eine experimentellere Richtung. Es findet viel mehr zwischen analog und digital statt.

Würdest du auch sagen, dass es vom Sound her geschlossener klingt?

Ja, schon. Und es klingt viel physikalischer. Für mich hat es eine viel physikalischere Bedeutung.

Darauf sind ja auch die Songtitel wie „Spins“, „Rising“ und „Burning Lights“ angelegt, oder? Ist dies das Konzept des Albums geworden?

Am Anfang hatte ich kein Konzept, aber irgendwann habe ich das Ziel gefunden, dass der Sound etwas kosmischer wird. Im letzten Jahr habe ich ein anderes Album unter meinem wirklichen Namen Midori Hirano veröffentlicht, das „Minor Planet“ heißt. Und schon bei dem Albumnamen habe ich die Idee bekommen, ein zweites Album zu machen, das inhaltlich mit „Minor Planet“ verbunden ist. Aber das war eigentlich etwas zufällig.

Ambient-Musik ist ja oft sehr abstrakte, offene Musik, weshalb man beim Hören schnell die Tendenz hat, sich assoziativ durch Songtitel leiten zu lassen. Und Titel und Sound fügen sich auf „Moon Synch“ ja nun wirklich gut. Aber angenommen, jemand würde aber etwas ganz anderes, also nichts Kosmisches darin hören: Würde dich das stören oder findest du es schön, mit deiner Kunst Projektionsfläche zu bieten?

Ich freue mich, wenn jemand den Songs eine andere Bedeutung gibt. Jeder Mensch hat eigene Ideen zu jedem Stück.

Und ist es für dich wichtig, dich von Album zu Album in neue Richtungen zu entwickeln?

Es muss nicht immer anders sein. Es kommt nur darauf an, was ich gerade machen möchte. Das entscheide ich jedes Mal aufs Neue. Mein erstes Album habe ich schon vor zehn Jahren veröffentlicht. Und ich mache bei neuen Projekten gerne Sachen anders. Ich brauche manchmal die Veränderung.

als Midori Hirano:

Quelle: YouTube

War das der Grund für dich, anzufangen, auch das Pseudonym MimiCof zu benutzen?

Genau. Am Anfang habe ich immer nur als Midori Hirano Musik veröffentlicht. Dann kam ich nach Berlin, wo ich kein Klavier mehr hatte. Ich habe hier zunächst nur mit dem Computer und Geräten gearbeitet. In dieser limitierten Umgebung kam ich auf die Idee, etwas anderes zu machen, war stärker an elektronischer Musik interessiert und habe mir überlegt, mit einem neuen Projekt anzufangen. Deswegen habe ich als MimiCof angefangen. Heute sind für mich beide Projekte wichtig.

Und warum hast du dich damals für Berlin entschieden? Hatte das eine künstlerische Motivation?

Ich war, auch weil ich Klassik studiert habe, schon lange an deutscher Musik interessiert. Und noch mehr hat mich die Musikszene in Berlin interessiert.

… die elektronische?

Ja, schon. Außerdem war ich damals 29 Jahre alt und wollte etwas anderes in meinem Leben probieren.

Das hat ja künstlerisch auch sehr gut geklappt. Und obwohl du klassisches Klavier studiert hast, war die Musik, die du veröffentlicht hast, noch nie rein klassisch instrumentiert.

Ja, es war immer eine Mischung aus akustischer und elektronischer Musik. Auch mit Field-Recordings [aufgenommenen Alltagsgeräuschen] habe ich experimentiert, was ich auch immer noch gerne mache. Auf „Moon Synch“ nicht, aber auf „Minor Planet“ habe ich noch Field Recordings verwendet.

Aber auch Moon Synch ist ja ein wenig psychedelisch – mit maschinellen Klängen. Vom Höreindruck her könnten es auch echte Field Recordings sein, die du benutzt.

Ich habe auch tatsächlich darüber nachgedacht, Aufnahmen zu benutzen, aber der Klang des Buchlas hat mir so gut gefallen, dass ich nur damit gearbeitet habe.

Und du machst auch Film-Soundtracks.

Ja, manchmal schon. Nicht oft.

Einer der Filme lief sogar bei der Berlinale.

Ja genau, Vita Lakamaya, ein Animationsfilm.

Vita Lakamaya von Akihito Izuhara (Berlinale-Trailer):

Quelle: Vimeo

Wie entscheidest du, an welchen Projekten du mitwirken möchtest?

Ich beteilige mich nur, wenn jemand auf mich zukommt und fragt, ob er meine Musik verwenden kann. Der Regisseur von Akihito Izuhara kannte zum Beispiel meine Musik schon, weil wir uns schon kennengelernt haben. Er kam dann darauf, die Musik für den Film zu verwenden. So funktioniert es eigentlich immer: dass der Regisseur auf mich zukommt.

Würdest du sagen, dass deine Beteiligung an Filmsoundtracks deine Arbeit als Musikerin generell beeinflusst? Also dass auch deine Alben evtl. von visueller Kunst beeinflusst sind?

Ja, manchmal schon. Manchmal bin ich von bestimmten Bildern inspiriert, mit denen ich gearbeitet habe. Es gibt manchmal schon einen Zusammenhang. Ich sehe bestimmte Bilder, während ich komponiere. Ich mache das zwar abstrakt, schaue mir keine konkreten Bilder an, aber trotzdem fließen manche visuellen Ideen ein.

Apropos szenische Kunst – ein Song sticht aus dem abstrakten Konzept von „Moon Synch“ hervor: „Leaving the Country“ beginnt mit einem bedrückend klingenden, mechanischen Sound, welcher sich aber immer mehr auflöst. Ist dies das Gefühlsleben, das man hat, wenn man seine Heimat verlässt? Hast du daran gedacht bei dem Titel?

Vielleicht, ja, ein bisschen schon. Es muss nicht so traurig sein. Es geht ein bisschen um das Gefühl, vergänglich zu sein. Jeder Mensch stirbt irgendwann. Oder etwas geht kaputt. Das Gefühl, dass etwas endet. Alle gehen irgendwann weg. Dieses Gefühl hatte ich, als ich es komponiert hab, das wollte ich abbilden.

Und diese Art von Bedrückung klingt auf deinem Album ja auch an anderen Stellen immer wieder durch. Wie ist es, über mehrere Monate an einem so einnehmenden, impulsiven Projekt zu arbeiten? Belastet es dich auch?

Ja, es ist manchmal sehr anstrengend und man braucht viel Energie, um ein bestimmtes Stück zu machen. Vielleicht ist es eine Belastung. Aber man kommt damit zurecht. Ich habe nicht immer daran gedacht.

Quelle: YouTube

Und was auch sehr beeindruckend ist, ist dass du immer geschlossen und allein arbeitest. Du spielst alle Instrumente selbst, oder?

Beim allerersten Album haben Gastmusiker die Streichinstrumente aufgenommen. Aber ansonsten mache ich alles alleine, Klavier und Computer.

Erfordert es viel Disziplin, sich Tag für Tag damit zu beschäftigen?

Es ist wirklich schwer, denn es gibt zu viel Ablenkung. Aber ich versuche trotzdem immer etwas zu machen – zu spielen, etwas zu entwickeln. Aber das geht nicht jeden Tag.

Du stehst, während wir uns unterhalten, gerade direkt vor einer Japan-Tour, in der du dein neues Album präsentierst. Wie ist es, als Künstlerin in die Heimat zurückzukehren?

Ich kehre ungefähr einmal pro Jahr nach Japan zurück. Es ist eine Mischung aus Besuch und Tour. Meine Familie und viele Freunde sind noch dort.

Und ist es anders, vor denen zu spielen als hier in Europa?

Für mich ist es hier einfacher. Hier kann ich offener sein und freier auftreten – und arbeiten. In Japan gibt es auch viele Künstler*innen, die Musik in diese Richtung spielen. Aber ich bin auch hier, weil es dort viel schwieriger, viel stressiger ist, zu leben.

Du denkst also nicht darüber nach, zurückzukehren?

Momentan nicht. Vielleicht in zehn Jahren. Ich weiß es noch nicht.

Und zum Abschluss: Spielst du auch in Deutschland noch Release-Shows für das Album?

Das steht noch nicht fest. Ich plane meine Konzerte eigentlich immer noch unabhängig von Albumveröffentlichungen. Es kommt für mich eher darauf an, Anfragen zu bekommen, die ich spannend finde. Aber am 2. Juni spiele ich in Chemnitz und am 1. Juli in Bielefeld, zusammen mit Driftmaschine.


Eine Release-Show in Berlin ist inzwischen für den 23. Juni angekündigt. MimiCofs Album „Moon Synch“ erschien indes am 5. Mai bei Alien Transistor.

Titelbild: © Sylvia Steinhäuser