Kategorie: Interviews

Aus Mikroperspektive. Miku Sophie Kühmel im Interview

Da ist sie nun. Die Pandemieliteratur. Sie erreicht uns mit Triskele, dem zweiten Roman von Miku Sophie Kühmel und vielleicht ersten Berlinroman, bei dem in der Stadt wirklich gar nichts geht. Er erzählt über drei trauernde Schwestern, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnten, die nichts als Zerstreuung suchen und in der aufgezwungenen Isolation zueinander finden.

Nach dem hochgelobten Debütroman Kintsugi, der vor allem durch eine mikro- und multiperspektivische Erzählweise auffiel, entwickelt Miku Sophie Kühmel ihren Stil in Triskele lässig weiter und flechtet eine fast unsichtbar kleine Geschichte unbeirrt ins Weltgeschehen ein. Am Erscheinungstag des Buchs nahm sie sich Zeit, auf den Bänken vorm ocelot bookstore in Berlin Mitte einige Fragen zu ihrer Arbeits- und Erzählweise, dem Entstehungsprozess des Romans, über Perfektionismus und die Ängste am Erscheinungstag zu beantworten.


“Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann.”

Miku Sophie Kühmel

 

Glückwunsch zum Erscheinen deines zweiten Romans. Wie spricht man eigentlich den Titel aus?

Es scheint sich als Tradition einzuschleichen, dass meine Romantitel komische Wörter sind, die man erstmal googeln muss. Bei diesem Buch war es anfangs triskéle, also französisch ausgesprochen. Der Verlag sagte mir dann aber, wir können gern dieses komische Wort nehmen, aber dann bitte auf deutsch. Ich habe nachgegeben, finde es jetzt auch ganz schön. Triskele (mit Betonung auf der zweiten Silbe), hat eine noch stärkere Gravitas. Ich hab aber auch schon alles gehört: Triskell, Trikse. Das kenn ich von Kintsugi nicht anders und darauf stell ich mich schon ein.

Dabei ist Triskele ja ein altes, bekanntes Zeichen. Ich hab jetzt immer, wenn Leute verwirrt geguckt haben, zu ihnen gesagt: Du weißt nicht, dass es so heißt, aber du hast es schon gesehen.

Kannst du in zwei Sätzen sagen, worum es in Triskele geht?

Ja. In Triskele geht es um drei Schwestern, die ganz weit auseinander sind – jeweils 16 Jahre, und deren Mutter sich umbringt. Die drei haben zwar dieselbe Frau als Mutter gehabt, aber nicht die gleiche. Und darum, das zu verstehen, geht es.

Wie bist du auf dieses Setting gekommen?

Ich weiß witzigerweise noch ganz genau, dass ich auf der Frankfurter Buchmesse 2019, als ich grad mit Kintsugi unterwegs war, zwischendurch mit meiner Lektorin zum Rauchen auf dem Hof stand. Und ich hab gesagt, ich hab an etwas gedacht mit drei Schwestern, die vom Alter her ganz weit auseinander sind. Und sie sagte sofort: Ja ja, das, genau das.

Danach hab ich mich lang mit einem anderen Projekt beschäftigt, an dem ich aber carcrash-mäßig gescheitert bin. Ich hatte gemerkt, dass es überhaupt nicht so aufgeht, wie ich es mir vorgestellt habe und danach mit meiner Agentin telefoniert. Ich hab ihr alles geschildert und gesagt, ich hab noch diese andere Idee und hab ihr das von den drei Schwestern erzählt. Und auch meine Agentin hat gesagt, ja, ja, das! Ich saß grad in einem dreimonatigen Stipendium, in der Hälfte der Zeit, und meine ganzen Ideen für das erste Projekt waren mehr oder weniger hinfällig. Ich hatte aber eben noch eineinhalb Monate und dachte, dann lass ich jetzt mal frei laufen, was kommt.

War dieser Moment genau in der Zeit, in der die Handlung spielt, also 2020?

Ja, es war schon Corona, im Sommer 2020 habe ich damit angefangen.

Aber die Idee zum Setting ist damit schon älter als die Pandemie, die ja auch sehr eng eingeflochten ist?

Genau, die Situation hat sich dann beim Schreiben eingeflochten – unweigerlich. Das Jahr war gesetzt, auch weil für die Handlung wichtig ist, dass Mone sich im Schaltjahr umbringt. Für mich war es aber auch in der Zeit nicht denkbar, an etwas zu arbeiten, in dem Corona einfach ausgeblendet wird. Du musst dir vorstellen, dass es 2020 im Sommer war. Ich war zwar auf dem Land, wo man nicht ganz so viel davon gemerkt hat, aber ich wusste natürlich, zuhause ist alles verriegelt. Und irgendwie war es dann sogar für die Figurenkonstellation spannend, dass das so eingeflossen ist. Für viele Menschen hat ja in der Zeit so eine Wendung nach innen stattgefunden, eine Konzentration auf die Familie oder chosen family. Was sind die engsten Leute, die zwei anderen Haushalte, die ich jetzt sehen kann? Und ich finde schön, dass es jetzt ein Berlinroman geworden ist, der überhaupt kein Berlinroman ist. Denn das Berlin in Triskele ist eben ein Dornröschenschlaf-Berlin, wie wir das alle gar nicht aus der Literatur kennen.

Das stimmt, aber es bildet Berlin in der Zeit ja eben auch sehr gut ab.

Ja, und mir gefiel daran, dass es die Situation sehr auf die drei Schwestern konzentriert hat. Übrigens waren es anfangs auch mal vier Schwestern, aber es war relativ schnell klar, dass es drei sein müssen.

War die vierte auch 16 Jahre älter?

Mit den Abständen hab ich etwas herumgespielt und ich hab das jetzt nicht vorher groß ausgerechnet. Es hat sich irgendwann herauskristallisiert, dass oft die Konstellation lautet: drei, aber eigentlich vier. In meinem Kopf ist das Verhältnis zwischen den beiden Zahlen immer drei Semikolon vier (3;4). Denn es sind eigentlich ja vier Frauen, aber die eine ist nicht mehr da. Es ist eigentlich ein Jahr, aber wir erleben nur drei Quartale, also neun Monate.

Mone passt ja auch vom Alter her in die Reihe. Sie ist 17 Jahre älter als ihre erste Tochter.

Genau, und dadurch sind es eben doch vier Töchter, nur dass eine davon eben auch die Mutter ist.

Dein Debütroman Kintsugi war sehr erfolgreich, hat Preise gewonnen, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde übersetzt. Hat das Druck auf das zweite Buch aufgebaut?

Ja. Direkt danach wusste ich gar nicht genau, was ich machen sollte. Obwohl ich schon die Idee hatte, brauchte nach dem Herbst 2019 ein paar Monate und habe mich erstmal über einen kleinen Text wieder ins Schreiben reingearbeitet. Und mir wurde klar, ich hab jetzt immer diesen Vergleich – nicht nur im Erfolg, sondern auch im reinen Text.

Ich hatte das Gefühl, der zweite Roman steht sofort im Verhältnis zum ersten. Verbunden mit der Frage, ob ich jetzt wieder etwas Ähnliches oder etwas ganz anderes machen soll. Das musste ich erstmal abschalten, um zu den essenziellen Fragen zu finden: was das denn nun für ein Buch werden soll. Wie soll sich das anfühlen?

Wir sind jetzt heute am Erscheinungstag. Gefühlt sind zehn Instagram-Besprechungen herausgekommen, die beim Drüberscrollen erstmal positiv aussahen. Aber natürlich hatte ich das auf dem Schirm und hab gleichzeitig gedacht, dass mich das beim Schreiben nicht beschäftigen darf. Ich habe das nicht in der Hand. Ich hatte bei Kintsugi schon nicht in der Hand, wie viele Personen das gut finden, wen es im richtigen Moment erwischt und so weiter. So ist es bei Triskele jetzt auch – mit dem erschwerenden Detail, dass es nicht mehr das Debüt ist.

Um das Debüt gibt es so eine Mythologisierung: Es gibt Preise, die man gewinnen kann, man kann neu entdeckt, als große Überraschung wahrgenommen werden. Das ist jetzt nicht mehr so. Für Debüts gibt es neben Preisen auch Lesereihen, in Budapest zum Beispiel ein ganzes Literaturfestival. Für zweite Bücher gibt es nur eine einzige Lesereihe – „Secondo, das schwierige zweite Buch“, in Stuttgart. Denen habe ich heute zugesagt.

Dass die zweite Veröffentlichung anders sein würde als die erste, habe ich gewusst und versucht, nicht zu viel drüber zu grübeln. Denn was ich am liebsten mache, ist mitten in der Arbeit, im Schreiben, zu sein. Wenn ich mich für etwas entschieden habe und es sich für mich richtig anfühlt, mache ich das dann nur für mich, unabhängig von äußeren Erwartungen.

Es gibt Autor٭innen, die das können, die wissen: dieses Thema wird sich gut verkaufen oder ist jetzt genau am Puls der Zeit. Aber ich denk überhaupt nicht so und könnte das auch gar nicht. Das, was ich jetzt grad mache, ist das, was geht. Und deswegen ist das mit dem Druck dann etwas in die Ferne gerückt.

Schlimm ist was das betrifft aber immer genau diese Zeit, von der Fertigstellung des Textes bis zum Erscheinungstermin des Buches, heute. Ich war vor ein paar Wochen noch auf einer Verlagsfeier, bei der viele Autorinnen waren, die ich toll finde. Antje Rávik Strubel war da, Sharon Otoo war da. Und wenn ich zu denen gesagt hab, in acht Wochen kommt das Buch, war das Gesicht bei allen gleich sehr bedauernd: „Ah, ja, schwierige Zeit.“ Das verstehen alle sofort.

Was ich mich bei deinen beiden Romanen gefragt hab: Was war eher da, der Titel oder die Geschichte?

Das kann ich gar nicht für beide so richtig beantworten. Bei Kintsugi gab es viele verschiedene Ursprünge, die zusammengekommen sind und glücklicherweise gepasst haben.

Die verschiedenen Stränge?

Ja, aber auch die einzelnen Gründe, warum ich das machen wollte: das queere Paar, das ganze Thema mit der Zerbrechlichkeit, der Kernmetapher. Wahrscheinlich war die Metapher hier schon sehr früh da, und sie ist ja eben titelgebend geworden. Und jetzt war es eher so, dass ich auch so ein bisschen herumgespielt hab mit Sisterhood und Sister und den Buchstaben und Tri und dann ist mir der Begriff untergekommen – Triskele.

Was bei mir schon immer früh da war, war die Struktur. Es ist jetzt auch beim zweiten Roman so, dass es der titelgebende Begriff nicht nur ein starkes Motiv ist, das vorkommt. Sondern es ist ein Strukturelement: Wenn es um die Konstellation der Figuren geht, diese gemeinsame Mitte, aus der drei Stränge kommen, die jeweils eine eigene Spirale sind. Das ist eine Form, die es sogar in der Mikrobiologie gibt, die also auch in der Natur vorkommt.

Dieses Symbol hat mein Vorhaben so gut für mich gefasst, dass irgendwie klar war, das nehme ich jetzt als gedankliche Struktur mit. Es war bei Kintsugi auch schon genau so, dass ich dachte, dieses Kintsugi-Gefühl soll allem wie eine zweite Haut unterliegen. Ich wollte, dass es sich nach Kintsugi „anfühlt“ beim Lesen. Das war weniger strategisch und eher ein komisch intuitives Ding.

Auch die Buchcover greifen ja sehr gut mit dem Rest ineinander. Bist du in der Beziehung perfektionistisch?

Ja, Ich bin als Autorin schon nervig für den Verlag, weil ich das sehr genau nehme. Ich bin dann fleißig und erstelle Moodboards für das Cover: Was könnte taugen? Bei Triskele weiß ich, das waren verschiedene Dinge, Figuren würden Sinn ergeben, aber auch Wald und andere Themen kamen in Frage. Ich hab alles Mögliche gesammelt, aber es war schon klar, es wäre schön, wenn man so drei, vier Figuren hätte. Und auf meinem Moodboard fand sich schon dieses Bild einer kanadischen Künstlerin, was dann als Grundlage für das Cover gedient hat. Ich hab es im Prinzip gefunden, aber es war in blau und mit Tinte, und witzigerweise sind auf dem Originalbild eigentlich vier Figuren. Und eine von ihnen ist jetzt weg. So wie im Text. Das hat mich natürlich auch bildgeschichtlich sofort gekriegt – find ich ganz toll.

Ich bin da schon perfektionistisch, auch mit dem Farbton. Bei Kintsugi habe ich mir irgendwann sechs verschiedene Blautöne erbeten. Das war ursprünglich ein bisschen türkiser, was gar nicht gepasst hat. Ich hab mir im Copyshop dann noch sechs Varianten ausdrucken lassen und lange darüber gebrütet, welches Blau es wird.

Bei Triskele war es auch ganz lange so, dass es um Farbtöne ging. Übrigens schon vor dem Schreiben. Ganz früh stand fest: Wenn ich eine Sache im Kontrast zu Kintsugi gesehen habe, dann dass ich jetzt ein rotes Buch schreiben wollte. Mit „rot“  meine ich an der Stelle aber, ich hätte gerne etwas Lauteres, etwas Bewegteres, nicht ganz so Zurückhaltendes – mit gröberen Momenten. Ich hatte einfach ein rotes Buch vor Augen. Und das ist es jetzt am Ende auch geworden.

Mit ihrem Roman Triskele: Miku Sophie Kühmel

Ist es denn einfach, als Autorin über das Cover zu entscheiden? Ich dachte, das würde eher bei den Verlags-Vertreter٭innen liegen.

Das dachte ich auch, aber ich bin ja zum Glück beim besten Verlag der Welt. Das hat zumindest Roger Willemsen gesagt. Und ich hab mir damals beim ersten Buch, weil ich verunsichert war, dass dieser Traditionsverlag an mir interessiert war, schon zusichern lassen, dass das mein Projekt ist und ich immer das letzte Veto habe. Gerade bei Titel und Cover. Da wird nichts über deinen Kopf hinweg entschieden. Ich bin aber dann auch immer sehr proaktiv, gebe, wie gesagt, viele Ideen rein und sage, was ich auf keinen Fall möchte. Ich bin auch immer sehr meinungsstark. Mir sind da wenig Sachen egal, übrigens bis zum Schluss, auch bis zum Klappentext.

Und noch eine Gemeinsamkeit: Zumindest im Erzählstil sind beide Geschichten sehr ähnlich und die Handlung entsteht aus verschiedenen Perspektiven. Du kannst dir eine von zwei Fragen aussuchen. Entweder: Hast du Vorbilder für diesen Schreibstil? Oder: Wie bist du darauf gekommen?

Ich hab das nie bei jemandem, dass ich denke, ich wünschte, ich würde so schreiben. Das hat gar nichts mit Hybris zu tun, aber du hast sofort eine Art Verhältnis zu dem anderen Text. Es ist eher so, dass ich etwas spannend finde oder denke, ich würde das oder jenes anders machen – manchmal merke ich mir ein Werkzeug. Aber es ist nie Mimikri.

Und das mit diesen Multiperspektiven ist für mich eine Stärke, die mir sehr taugt, an der Fokalisierung in dieser Ich-Perspektive. Ich finde besonders in der Mehrdimensionalität spannend, damit zu spielen und hatte auch überlegt, ob ich das wirklich nochmal so machen sollte. Es gibt da ja auch wirklich Ähnlichkeiten zwischen dem ersten und zweiten Buch, aber die Handlung und die Figuren und Themen sind so anders, dass es dann am Ende für mich okay war. Auch der Rhythmus ist ja anders, jeden Monat erzählt ja abwechselnd eine Schwester. Die Perspektiven sind also wie drei Haarsträhnen, die Kapitel für Kapitel in einen Zopf geflochten werden.

Du bist immer viel in Bildern, oder?

Ja, schon. Das hilft mir und ist ein intuitiver Zugang, der für mich funktioniert. Text als Textil und Text als Garn und Text geflochten ist ja aber Derrida, Roland Barthes. Da brauch ich gar nicht bei mir anzufangen, an dem Bild sind die Theoretiker schon echt lange dran.

Wie wählst du aus, was für Perspektiven du erzählen möchtest?

Wie ich die Figuren auswähle, ergibt sich immer so. Ich wusste, dass es drei sind, und in welchem Abstand sie auseinander sind. Und dann lernte ich sie im Einzelnen kennen. Witzigerweise ist es bei mir diesmal sehr früh über die Namen gegangen. Es ist ja sehr auffällig, dass die Figuren Mo, Me, Mi, Ma, Mu heißen, also Mone, Mercedes, Mira, Matea und Muriel (die Katze). Und da war mir relativ schnell klar, dass das Absplitterungen von mir selber sind, also von Miku, und es war mir wichtig, sie nah an mir dran zu halten. Ich hatte dann die Namen und die hatte schnell eine Idee davon, wie die Figur so ist. Beim Schreiben lerne ich sie kennen und sie erzählen mir selbst, warum sie so sind, wie sie sind.

Über ihren Charakter entscheide ich nicht, sondern es ergibt sich sukzessive aus der Verarbeitung. Auch, wie sie im Verhältnis zueinander sind. Wie ein jüngstes Kind da agiert, und ein mittleres und ein ältestes. Wie man ist, wenn man in der DDR noch Teenager war, oder wenn man von der DDR eigentlich nur noch Rudimente mitbekommen hat, also, was sich in die Landschaft und in die Leute eingeschrieben hat, die einen großgezogen haben. Das ergibt sich dann einfach und ich muss das den Figuren gar nicht aufdrücken. Im Gegenteil merke ich eher, dass sie sich, auch wenn es kitschig klingt, wehren, wenn sie etwas nicht machen wollen. Wenn ich sie zu einem gewissen Grad kenne, kann ich sie zusammen in die Sauna setzen und kann sie reden lassen und gucken, was passiert.

Wenn du sagst, das sind Absplitterungen deines Namens: Bezieht sich das nur auf die Namen oder gibt es auch Absplitterungen deiner Charaktereigenschaften?

Beides. Für mich sind die Figuren immer auch ein bisschen ich. Das war bei Kintsugi auch schon so. Ich wurde einmal gefragt, wer mir da denn am nächsten sei. Und derjenige, der das fragte, erwartete natürlich, dass ich sagte, Pega ist mir am nächsten. Denn das ist ja die einzige Frau im ersten Buch. Ich habe aber geantwortet, die sind mir alle sehr nah. Am nächsten wahrscheinlich Max und Reik als dieses widersprüchliche Paar. Beide behandeln genau Themen, die meine Themen sind.

Die Entwicklung von Protagonist٭innen funktioniert für mich nie über Typen oder darüber, dass ich ganze Menschen „aus dem Leben stehlen“ würde oder so. Es ist komplizierter: Figurengenese ist ein Flickenteppich, ein Geflecht, verschiedene Splitter kommen da zusammen. Nimm das Bild, das dir gefällt, aber am Ende ist es etwas Zusammengesetztes, was im Idealfall zusammenwächst.

Es geht Zeug in einen rein, man prozessiert das irgendwie und es kommt irgendwas dabei heraus. Aber ich bin kein Spiegel, keine Linse, sondern es passiert etwas zwischen Eingabe und Ausgabe. Die Figuren setzen sich aus verschiedenen Dingen zusammen, natürlich auch aus Teilen von mir. Sie tragen Diskurse von mir in sich und geben mir die Chance, Fragen zu verhandeln. Ich merk mir schlecht Zitate, aber was ich nicht vergesse ist, dass Joan Didion gesagt hat: „Schreiben um zu Begreifen“. Das kann ich total nachvollziehen, dass man mit Fragen an einen Text herangeht, mit etwas, das man nicht versteht. Etwas nachvollziehen, um es zu verstehen. Um die Welt überhaupt zu ertragen und eben zu begreifen. Das kann ich über die Figuren spielen.

Wie wichtig ist Isolation als Setting für multiperspektivisches Erzählen?

Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann. Ich bin nicht die Person, die dir das große, weltumspannende Panorama-Fresko malt, sondern würde dir eher sagen: „Hier guck mal, das Detail, das Mauseloch hier, die Wolke dort“. Und dafür ist die Isolation natürlich irgendwie gut, das Haus auf dem Land genauso wie eine gesellschaftliche Isolation, weil man nicht so viel jonglieren muss, sondern sich auf das wesentliche konzentrieren kann.

Auf der anderen Seite denke ich mir aber auch, ich hab ja eine ganz andere erzählte Zeit im zweiten Roman. Das ist am Ende ja schon ein ganzes Jahr. Die Kapitel sind einzelne Monate, aber natürlich ist das nie der ganze Monat, sondern ultra-eklektisch, es sind immer zwei bis vier Szenen – wenn’s hochkommt. Ich glaube sogar weniger.

Am Ende wirst du immer auswählen und ich glaube, dass auch das schon eine Form von Isolation ist – und dass dies immer etwas sein wird, das mir hilft: eine Situativität, die einen viel besseren Zugang zu Figuren gibt. Ich les grad ein Buch, in dem es immer wieder diese sehr jetzigen Momente und dann wieder Abschnitte gibt, in denen Geschichte erklärt wird. Also wirklich historische Geschichte. Und daran find ich total bemerkenswert, wie wertvoll situatives Erzählen ist – zum Beispiel auch im historischen Kontext. Also Isolation ja, aber wahrscheinlich eher auf einer formalen Ebene.

Da das Buch mit ihrem Selbstmord beginnt, fehlt die Perspektive der Mutter, Mone. Wie würdest du sie beschreiben? Oder würdest du das eher ungern tun?

Also sie ist nicht nicht da und hat immerhin einen Brief hinterlassen, in dem schon sehr viel von ihr drinsteckt. Ich hab sie aber auch erst über die Erzählungen der anderen nach und nach verstehen gelernt. Ich glaube, für mich war sie in dem Kontext eben einfach nicht die Hauptperson oder Erzählerin, weil sie vielleicht auch gar nicht unbedingt in der Lage gewesen wäre, sich für das, was ich wollte, selbst aufzuschlüsseln. Und das Ergebnis ist auch, dass es gar nicht so sehr ums Aufschlüsseln geht, sondern um das Ertragen, um das Einordnen, darum, sich selbst in Position zu setzen zu dieser Mutter, die nicht mehr da ist. Ich glaub, Mone ist… Nein, ich glaube, ich will das gar nicht.

Das dachte ich mir fast. War dir beim Schreiben wichtig, dass die Frage offen bleibt und jede Tochter ihre eigene Mone hat?

Ich wusste vorher schon, dass das so sein wird. Das Buch ist überhaupt nicht autobiografisch, aber es gibt ein paar Dinge, die man doch irgendwie weiß. Und das ist etwas, das ich weiß: Geschwister, die weit auseinander sind, erleben unterschiedliche Eltern. Und ich finde es eh spannend, zu versuchen, die einzelnen Bilder, die Leute von einem Menschen haben, in Einklang zu bringen. Sie nebeneinander zu halten und zu versuchen, jemanden zu verstehen.

Das ist eher das, was du aus der Figur herausholen wolltest, oder?

Ich glaube schon. Ich wollte viel. Ich wollte über das Sterben schreiben, über Selbstmord und über Frauen und Frauenkörper. Das habe ich alles gemacht und jetzt ist das Buch eben sehr … rot.

Mones drei Töchter sind sehr unterschiedlich. Was, würdest du sagen, sind ihre Gemeinsamkeiten?

Humor und Sprache sind das, wo sie sich am ehesten verbinden können. Mir fällt grad auf, dass sie alle am Anfang sagen, „die andere kann besser reden als ich“ oder „die ist viel souveräner als ich“, aber eigentlich finden sie eine gemeinsame Sprache, können miteinander reden und gemeinsam Witze machen. Einen gewissen Galgenhumor unter anderem auch miteinander führen. Und dafür müssen sie natürlich erstmal ins Sprechen kommen, was manchmal halt seine Zeit dauert.

Mir ist besonders bei Mira, der mittleren Tochter aufgefallen, dass die Dialoge auf mich sehr natürlich und lebensnah wirken, die ja ungefähr in deinem und meinem Alter ist. In wessen Perspektive fiel es dir am leichtesten, dich hineinzufühlen? Wie bist du vorgegangen?

Ich würde witzigerweise gar nicht sagen, dass es mir bei Mira am leichtesten gefallen ist. Ich glaube, am besten verstehen konnte ich anfangs Mercedes. Ich wusste bei ihr relativ schnell, warum sie so ist, wie sie ist. Und mochte sie auch sehr schnell sehr gern. Bei Mira war es viel komplizierter – sie in ihrer Persönlichkeit zu begreifen. Ich würde zum Beispiel sagen, dass sie mir von der Persönlichkeit her am fernsten ist, obwohl sie mir vom Alter ähnelt. Und dafür, wie sie spricht, was sie denkt und wie sie handelt, musste ich vielleicht sogar erstmal die meiste Empathie aufbringen. Ich musste durch ihre Brille durchgucken, was sie gesehen und erlebt hat. Und bei Matea, der jüngsten, hatte ich auch Skrupel, denn man möchte ja nicht unangenehm über 16-Jährige schreiben.

Ich hab dann irgendwann aber begriffen, dass es nicht darum geht, allen 16-Jährigen zu entsprechen, sondern nur meiner 16-Jährigen. Etwas, was sie zur Jüngsten macht, ist, dass sie sehr haltungsgetrieben ist. Sie hat noch nicht diesen „Dum spiro spero”-Gedanken. Ich weiß, dass ich nichts weiß und je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich immer weniger verstehe. Sie ist sehr abgeklärt und denkt, dass sie alles versteht und durchschaut. Das ist, was sie jugendlich macht.

Ich habe das Gefühl, von den drei Schwestern ist Matea auch die toughste. Es gibt eine Szene, in der sie sehr souverän einer Person in Not mit der Suizid-Nothilfe verknüpft, was ich für eine 16-Jährige ziemlich stark finde. Was hat sie so stark gemacht?

Ich glaube, da lohnt es sich, anzuschauen, wer wie mit welcher Mone zusammengelebt hat. Und wenn man hört, wie Matea von ihren Erinnerungen erzählt, versteht man, wie allein sie war. Ich habe viele Gespräche geführt, also nicht für das Buch, sondern einfach in meinem Leben, mit Leuten, die ihre Eltern verloren haben. Auch oft wegen Suizid. Und ein jüngstes Kind sagte mir einmal, er war am Ende froh, als sein Vater nicht mehr da war: „Ich war der Letzte, ich war der Jüngste, der mit ihm leben musste. Und es war scheiße. Es war hart und nicht mehr schön mitanzusehen. Und ich wusste auch, ich kann nichts mehr machen.“

Ich glaube, da sind eine Härte und eine Rauheit, die aus einem Überlebenstrieb kommt. Daher, dass man konfrontiert mit dem Jetzt ist und nicht in der Lage, sich in Nostalgie zu verlieren. Zum einen hat man sie vielleicht auch viel weniger, weil man als jüngstes Kind die Eltern anteilig am längsten zum Beispiel in Krankheit erlebt hat. Oder nach einer Krise oder suizidal. Man kann durch die Gegenwärtigkeit dieses schlechten Zustands aber auch einfach nichts romantisieren. Das ist das, worin Matea so geschult ist.

Letzte Frage: Du brauchst ihn nicht zu verraten, aber du schon einen Titel für deinen nächsten Roman?

Ja, hab ich. Mal gucken, ob er es bleibt.

Vielen Dank!

Voll gern.


 

„Triskele“ von Miku Sophie Kühmel erschien am 10. August 2022 bei S. Fischer und hat 269 Seiten.

 

 

Bilder: © Gregor van Dülmen

 


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„Was für Land, welch ein Männer“ – Ninamarie im Interview

Ninamarie stehen kurz vorm Release ihrer neuen Platte. Neun Jahre nach dem letzten Release bringen sie es erneut auf ganze sechs Songs. Gründe für ihr niedriges Tempo gibt es genug, zum Beispiel, dass die beiden mit ihren noch aktiveren Hauptbands genug zu tun haben: Thomas Götz mit den Beatsteaks, Marten Ebsen mit Turbostaat. Aber auch, weil sie sich viel Zeit zum Experimentieren nehmen.

„Was für Land, welch ein Männer“ ist eine erstaunlich vielseitige kleine Sammlung an nicht ganz ernsten Post-Punk- und Post-Pop-Songs über ernste Themen. Feine Arrangements und tiefe Melancholie treffen auf inbrünstigen, ehrlichen Gesang, starke Bilder auf Dadaismus. Wir trafen Marten zum Interview, sprachen über die Platte, Corona und Konzerte. Und zwar:


Es gibt diese Legende, dass ihr immer zu Silvester zusammen Musik macht und so all eure Songs entstehen. Stimmt das so?

Das stimmt so nicht, aber so hat es angefangen. Irgendwann, 2003 oder 2004, hatten Thomas und ich uns mal darüber unterhalten, wie scheiße wir Silvester und den Feierzwang finden. Er erzählte mir, dass er Silvester immer in den Proberaum geht. Als ich meinte, dass ich das richtig gut finde, hat er mich eingeladen vorbeizukommen. Wir sind dann in den Proberaum gegangen, haben zusammen gespielt und zwei Lieder geschrieben. Um vier waren wir fertig und hatten sie aufgenommen. Die Tradition haben wir einige Silvester aufrecht erhalten. Als ich dann auch in Berlin wohnte, fingen wir an, uns öfter zu treffen.

„Was für Land, welch ein Männer“ ist euer erstes Album seit 2013. War für euch immer klar, dass es mit Ninamarie weitergeht?

Es gab nie irgendwelche Bestrebungen, das nicht zu machen. Das Problem ist, dass die Zeit immer so schnell verfliegt und durch die Hände rinnt. Es hat einfach nur gedauert, bis wir wieder Zeit gefunden haben, und zusammenzutun. Wir haben zwischendurch immer mal an Sachen gearbeitet, die dann aber im Sande verlaufen sind. Der erste Entwurf von „Nackt im Spind“ ist echt schon einige Jahre alt. Wir hatten uns da mal nachmittags getroffen, Thomas hat Klavier gespielt und ich Gitarre. Da hatte er das Riff mitgebracht und es lag danach jahrelang herum, ohne dass es eine Überlegung gab, was man dazu singen könnte. Danach haben wir jahrelang keine Zeit gefunden, uns zu treffen. Thomas ist ja auch wirklich ein Hansdampf in allen Gassen und macht alles Mögliche. Und ein bisschen was mach ich ja auch.

Wann und wie ist der Rest des Albums entstanden?

Der Zug zum Tor fing kurz vor Corona an. Wir hatten im Herbst schon angefangen und als Corona dann anfing, hatten wir uns gegenseitig als Kontakt eingetragen. Und wir haben dann vor allem die Coronazeit zum Schreiben genutzt, haben uns zwar nicht jede Woche getroffen, aber von Zeit zu Zeit zusammen Musik gemacht.

Und schreibt ihr die Songs einzeln oder komponiert ihr alles zusammen?

Es bringt immer wer eine Grundidee mit – wie zum Beispiel das Riff bei „Nackt im Spind“. Den Refrain haben wir dann zusammen gemacht und dann bauen sich die Songs so mit der Zeit auf. Das ganze Arrangieren und wie das Lied abläuft, passiert relativ schnell und intuitiv. Weil wir ja nur zu zweit sind und das nicht einfach als Band zusammen spielen, passiert das immer peu à peu. Wir haben dann im Proberaum zusammen Gitarre und Schlagzeug eingespielt, Bass hab ich glaub ich hier zuhaus eingespielt. Sowas passiert dann immer mal, dass man dann mal einen Nachmittag lang einen Bass einspielt.

Ninamarie – Nackt im Spind:

Quelle: YouTube

Und ihr habt das alles selbst produziert?

Genau, Thomas hat ja ein Studio, in dem wir uns öfter getroffen haben – oder im Beatsteaks-Proberaum. Teilweise hab ich auch bei mir hier Sachen aufgenommen, zum Beispiel mal einen Haufen Akustikgitarren, die wir uns dann zugeschickt haben, weil grad richtiger Lockdown war und wir uns nicht sehen konnten. Das waren aber eher Ausnahmen.

Ihr habt nie mehr als sechs Songs gleichzeitig veröffentlicht. Warum eigentlich?

Das weiß ich nicht. Eine 12-Inch, die man auf 45 rpm abspielt, ist so eine überschaubare Sache. Wir machen das ja immer nebenbei und haben nicht den Drang, viele Lieder zu schreiben. Die Songs entstehen eher aus Experimenten. Bei einem Song zum Beispiel hatten schon die Abfolge fertig und dachten uns, es wäre cool, wenn das jetzt einen Chor hätte. Also haben wir uns ein Chor-Board gebaut und haben mit einem Freund zusammen den ganzen Sommer lang jeden Ton der Tonleiter über zwei Oktaven aufgenommen, sodass wir unseren Chor selber spielen konnten. Und dafür geht dann halt mal ein ganzer Sommer drauf.

Bei einem anderen Song waren wir eigentlich fertig, hatten aber das Gefühl, uns fehlt noch etwas, und haben noch ewig daran weitergearbeitet. Wenn du eine Platte mit einer ganzen Band machst, mit Deadline und so, hättest du das einfach so gelassen. Aber hier haben wir dann nochmal richtig viele Gitarren aufgenommen. Wir haben immer um ein Mikro herum verschiedene Gitarren in verschiedenen Oktaven eingespielt, bis wir eine riesige Wand an Gitarren hatten, die wir zusammenmischen konnten. Danach haben wir nochmal einen Nachmittag herumprobiert, ob das cool ist.

Und diese Zeit kann man sich mit einer anderen Band nicht nehmen?

Nein, das würde ich mit Turbostaat nie machen.

Ist diese Freiheit auch das, was Ninamarie für dich ausmacht?

Dieses Experimentieren: ja. Ich weiß nicht, wie es bei den Beatsteaks ist, aber bei Turbostaat muss das ein sicherer Schuss sein. Wenn wir ins Studio gehen, dann ist alles fertig und wir alle wissen, dass das klappen muss. Wir spielen meistens eine ganze Platte in vier bis fünf Tagen ein. Und wenn man da ankommt und sagt, ich könnte mir vorstellen, wenn man da jetzt zwei, drei Tage dran arbeitet, dann wären die ersten schon bei dem Satz rausgegangen. Und bei Ninamarie ist das halt egal, dann kannst du wirklich mal ein paar Tage herumprobieren – und wenn’s nichts ist, ist es halt nichts.

Und es sind ja nur sechs Songs, aber die sind schon alle auch sehr unterschiedlich und unterschiedlich instrumentiert – teilweise nur Synthies, teilweise Akustikgitarren: Gibt es auch konkrete Bands, die euch besonders beeinflusst haben?

Wir machen ja nicht erst seit gestern Musik und es gibt ja tausende Bands, die einen inspirieren. Da kannst du mit Beethoven, Bob Marley und den Beatles anfangen.

Es klingt ja teilweise auch sehr Eighties-mäßig.

Findest du? Wir hatten eher so ein Seventies-Gefühl – außer bei „Käsejunge“. Das ist ja eher daraus entstanden, dass ich angefangen hab, mit Synthesizern rumzuspielen. Aber bei den ersten Liedern hatten wir eher ein Supertramp-Gefühl.

Um einmal in die Songs reinzugehen: Wer ist der Käsejunge und wovor hat er Angst?

Ein bleicher Junge, der Angst hat um seine Privilegien.

Der Song bringt ja auch den titelgebenden Vers „Was für Land, welch ein Männer“ mit.

Genau, „Welch ein Land, was für Männer“ ist ja ein Plattentitel von Extrabreit. Und das passte einfach so gut: Was für Männer – der Käsejunge, der Angst hat. Wenn du zum Beispiel – ohne die Stimmung herunterreißen zu wollen, den Attentäter von Halle anschaust: ein kleiner bleicher Junge, der Angst hat, dass eine Privilegien verschwinden, der sich überfremdet oder von Frauen angegriffen fühlt, der nicht mit Menschen auf Augenhöhe agieren kann. Das war für uns der Käsejunge. Und dann diesen Ausruf „Welch ein Land, was für Männer“ umzudrehen zu „Was für Land, welch ein Männer“, ist ja eigentlich ganz klassisch dadaistischer Kram: Sachen umdrehen und sie dadurch automatisch lächerlich machen.

Auch bei „Nackt im Spind“ geht es um ein gewisses Land, es werden Bewegungen im Volk angesprochen und die Frage gestellt, wie man mit ihnen umgehen sollte.

Genau, es geht auch um Flucht, also das Pro und Contra von Realitätsflucht. Der Text ist zum größten Teil auf Thomas’ Mist gewachsen.

„An der Hand“ ist der melancholischste Song der Platte. Wessen Hand wird hier besungen?

Die Hand eines oder einer Liebsten.

Mit der Angst um Verlust?

Nein, es geht eher um das stoische Warten – mit einem leichten Hauch Melancholie. Dieser Song ist schon ganz alt. Die Strophen und den Refrain hab ich schon 2004 geschrieben. Und es gab noch nicht so viel Text, ich hatte nur diesen Satz im Kopf und fand den schön: Ich warte bei dir an der Hand. Dahinter ist eigentlich gar nicht so ein wirklich verkopftes Konzept, sondern wir haben einfach aus dem Bauch heraus geschrieben, aus der Wirkung der Musik. Auch das ist ja häufig nicht zu unterschätzen. Musik zu machen hat ja auch viel mit Gefühl zu tun. Also nicht nur mit einem guten Plan, sondern einfach nur mit dem Gefühl.

Und was habt ihr gegen Kalendersprüche?

Was sollen wir denn gegen Kalendersprüche haben? Das ist doch das Beste auf der Welt: „In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken“. „Ich lebe glücklich, ich lebe froh wie der Mops im Haferstroh“. Ich weiß nicht, was du meinst.

War nur so ein Gefühl, dass es da Aversionen gibt.

Ne klar. Du meinst jetzt den Text „Kalenderspruch zum Abendbrot und dankbar sein“, dass man abgespeist wird mit ein paar halb ernstgemeinten Worten? Dafür steht der Kalenderspruch. Ein Kalenderspruch ist ja einfach ein Satz, der nicht an dich gerichtet ist, sondern allgemein so ist.

Und solche Sprüche zu verdrehen, macht ihr auf der Platte ja an vielen Stellen. Würdest du sagen, eure Texte sind auch eine Abrechnung mit abgedroschenen Phrasen?

Jein. Thomas und mich fasziniert immer, dass es in der erfolgreichen deutschen Popmusik, also den deutschsprachigen Songs in den Charts, immer darum geht, bekannte Phrasen zu nehmen, die jeder kennt, um gleich einsteigen zu können. Unsere Aufgabe sehe ich eher darin, das mit dem Arsch einzureißen, umzudrehen und ein Fragezeichen dahinter zu setzen. Und dann eben auch Sachen komisch zu machen, damit sie nicht einfach nur wegzukonsumieren sind. So begreif ich das jedenfalls. Aber es macht doch auch einfach Spaß. Wenn ich jetzt die ganze Zeit nur Texte wie „Das große Gefühl, dieser Moment, lalalala“ schreiben würde, hätte ich da einfach gar keine Lust drauf. So bin ich einfach als Person nicht.

Ninamarie – Kalenderspruch:

Quelle: YouTube

Bei „Es strahlt“ besingt ihr eine vergangene Jugend, bei „Die Geister“ scheint es ja auch um ein Vermächtnis zu gehen. Sind Wehmut und Älterwerden für euch Motive der Platte?

Ja bestimmt. Wir werden als Personen älter und wehmütiger. Aber man sitzt ja nicht da und sagt, ich würde gern ein Lied übers Älterwerden machen, am besten eine ganze Platte, zu der ich mir mal einen Plan mache. Sondern wir schreiben einfach irgendwas, das uns beschäftigt, werfen uns Bälle zu, die auch relativ viel mit Humor zu tun haben. Nicht mit klassischem Humor, aber unserem eigenen Humor. Thomas sagte auch schon ein paarmal in Interviews: Für ihn war das Interessante, dass wir mit dem Fahrrad zusammen zum Studio nach Köpenick gefahren sind, an der Rummelsburger Bucht entlang, und uns immer schon über alles mögliche unterhalten haben. Von Familie, was so ansteht, Quatsch, aber auch, was wir gelesen haben, was wir gehört haben, welchen Film wir gesehen haben oder was uns grad interessiert oder passiert ist. Die Songs sind dann auch immer ein bisschen das Produkt durch die verschrobene Brille, die wir schon auf dem Weg zum Studio aufsetzen.

Würdest du dennoch sagen, dass eure neuen Songs melancholischer geworden sind als die früheren?

Nein, ich fand ehrlich gesagt die alten auch immer schon melancholisch und teilweise depressiv. Sie hatten immer eine traurige Komponente, aber eben auch diesen Humor. Das ist das, was eigentlich automatisch passiert wenn Thomas und ich in einem Raum sind und Sachen machen. Weil wir beide diese Persönlichkeit haben. Wir haben diese melancholische Seite, aber können auch nicht eine Minute ohne einen schlechten Witz aushalten.

Welche Rolle hat denn die Pandemie-Phase für die Platte gespielt?

Durch Corona hatten wir einfach nur ein bisschen mehr Zeit und dachten, dass wir sie dem Projekt widmen konnten. Und jetzt stürzt wieder alles auf einen ein. Die Platte haben wir zum Glück rechtzeitig fertig bekommen – eigentlich schon letztes Jahr, wir haben jetzt nur noch auf die Pressungen gewartet.

Thomas und du spielt ja beide in zwei sehr aktiven Livebands. Wie geht es denn dem Konzertbetrieb, euren Live-Crews und den Venues nach diesen zwei Jahren?

Das kann ich gar nicht richtig beantworten, ich war selbst so ein bisschen von allem abgeschnitten. Mit den Leuten von Turbostaat hab ich zu tun gehabt, aber natürlich auch nicht so viel wie vorher, weil man sich ja jetzt anrufen musste, um miteinander zu sprechen. Dann hat man so einmal im Monat mit den Leuten telefoniert, vielleicht noch weniger. Das haben die schon alle irgendwie rumgekriegt.

Aber das dicke Ende, auch für viele Läden, kommt ja erst noch. Es hat sich so vieles verschleppt und die Auswirkungen werden jetzt erst sichtbar. Du hast ja jetzt teilweise Festivals, die nicht stattfinden, weil sie keine Leute haben, die dort arbeiten können. Weil die alle sich in der Pandemie etwas anderes suchen mussten und auf einmal gemerkt haben, wir können ja am Wochenende zuhause bleiben und haben trotzdem einen schönen Job, der auch noch besser bezahlt ist. Manche haben das ja auch mit diesen Streaming-Konzerten versucht, aber das ist ja alles für die Katze. Das ist ja nur eine Fernsehaufnahme vom Konzert, bei dem du nicht da gewesen bist.

Und man selbst ist ja durch die zwei Jahre auch in so einen Tran gekommen, ist abends nach Haus gekommen, hat sich was zu essen gemacht. Man muss ja erstmal wieder auf die Idee kommen, abends Leute einzuladen abends oder mal irgendwo hinzugehen. Und bei Konzerten wird ja grad all das nachgeholt, was ausgefallen ist. Das nächste halbe Jahr wird vollgestopft sein. Das ist wirklich verrückt. Ein Bekannter von mir, mit dem ich neulich geschnackt hab, hat grad mit seiner Band eine Platte herausgebracht, und die können gar nicht auf Tour gehen, weil alles ausgebucht ist. Noch mit Konzerten von 2021. Mal gucken, wie sich das entwickelt, ich hab bisher zu wenig Erfahrung. Wir waren einmal auf Tour, haben zwei Festivals gespielt. Das eine war gut, das andere beschissen. Auch unsere Konzerte waren jetzt am Anfang ein bisschen leerer als vorher. Aber auch das kam wieder und jetzt müssen wir beobachten, wie es sich weiterentwickelt. Es fällt mir unheimlich schwer, daraus schlau zu werden.

Und wird es Ninamarie-Konzerte geben?

Wir hoffen das. Wir würden es jetzt gerne machen. Vorher hatten wir nie drüber nachgedacht, jetzt haben wir angefangen, darüber nachzudenken, dass wir das gerne machen würden. Wir sind bisher einmal aufgetreten, bei einer Feststunde in Potsdam. Da haben wir zwei Lieder gespielt, Thomas am Klavier, ich an der Gitarre. Aber jetzt überlegen wir grad, ob wir eine kleine Band zusammenstellen und ein paar Konzerte zusammen spielen. Die Ideen schießen wieder quer und man braucht auch entsprechende Leute dafür.

… und Venues.

Das ist Schritt zwei, wir sind noch nichtmal bei Schritt eins. Aber der Wille ist im Moment da und wir reden, wenn wir uns treffen, darüber, dass wir das gerne machen möchten.
Inzwischen habt ihr ja auch genug Songs für ein Konzert.
Genau, dann können wir einmal alles durchspielen. Vielleicht schaffen wir es zum Zwanzigjährigen. So lang gibt’s uns ja auch schon fast wieder.

Vielen Dank für das Interview!

Vielen Dank für das Interesse.


 

„Was für Land, welch ein Männer“ von Ninamarie erscheint am 17. Juni 2022 bei Rookie Records.

 

 

Beitragsbild: © Gregor van Dülmen

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Adobe-Quiz mit Katrin(terview) Salentin(view)

Katrin Salentin, die man auf www.katrinsalentin.de (und hoffentlich bald auf masterclass.com unter „Teaches the Art of Analogue and Digital Collage“) findet, meistert mit Bravur ein paar knifflige Fragen zu Photoshop – and then some …


1. Was wäre ein coolerer Name für „Photoshop“?

krēˈādər, CreatorTool, Composer, Frauder, Ersatzteillager, Bildschatz. Für mich ist es mein Vokabelheft, das ich schon mit zahlreichen Vokabeln gespeist habe. Mit jedem Strg+N bilde ich neue Sätze, versuche die (nur) mir bekannte Grammatik zu umschiffen.

2. Was ist von einem Kinderbuch zu halten, das „Leichenfund“ im Titel hat?

Hierbei kann es sich nur um einen Sehfehler handeln. Weil das Buch von anderen Dingbüchern verdeckt wird, ist der Titel nicht in Gänze zu erkennen. Möglichkeiten der vollständigen Titel sind: „[G]leichenfund“, „[B]leichenfund“, „Leichenfund[länder]”. „[G]leichenfund“ ist ein ermüdendes Mathematikbuch für die Unterstufe. Lee/hrstunden über das Lösen von Gleichungen. Für ein Vollbad in guter Vorbildung. Bei „[B]leichenfund“ handelt es sich um einen Geschichtenband, der über das Verschwinden der Sonne narrativiert. Der sich ausbreitende Schatten nimmt das Lachen und die Farbe aus den Gesichtern. Die Entdeckung einer neuen Hunderasse wird in „Leichenfund[länder]” verhandelt. Eine Abenteuerreise, begleitet mit viel Fotomaterial – und Entdeckervideos, abrufbar per QR-Codes.

Und insgeheim macht sich doch der Gedanke breit, keinem Sehfehler zu erliegen. Sondern einer Verweigerung des Erkennens. Grau, rosa, dunkelgrün. Graublau. Viel Unsicherheit, Leichtigkeit. Und ein Rasensprenger. Bilder steigen in mir auf, die ich gerne zu diesem Buch collagieren möchte. Es ist kein Kinderbuch. Es ist die Erinnerung aus der Erwachsenenwelt an eine Kindheit.

3. Welche Photoshop-Funktionen sollte es geben, welche dürfte es geben, welche wird es nie geben?

Niemals sollte es DIE Entertaste geben, die das Bild, das Foto, die Illustration mit einem Klick fertigstellt. Zwar würde das viele Grübelstunden ersparen, viel Digitalpapier, viele Nein-Ordner, die im Papierkorb landen. Aber eben genau das würde fehlen, das un/gute Kribbeln, das Tüfteln, das Lösen(wollen), die Zweifel (die grauen Haare nicht). All das, was das Bildwerden ausmacht. Inmitten von Loslassen, Akzeptieren, Finden, Erkennen.

Es darf die Taste geben, die fertiggestellte Bilder mittels einer Tastenbetätigung oder Tastenkombination automatisch für Dokumentationszwecke auf die Künstlerwebsite stellt und in Social-Media verbreitet – selbstverständlich mit passendem Textstatement und H#shtags.

4. Welche Dinge sollten häufiger aus Wänden kommen?

Nägel, Schrauben, Dübel – dann hängen sich die Bilder von alleine auf. In dem Moment, wenn die Wasserwaage an der Wand liegt und der Bleistift die Markierung setzt, ploppt der Nagel aus der Wand. Jede Wand gibt ihren spezifischen Nagel heraus. Drahtstifte, verzinkt oder aus Eisen, Stahlstifte, rostfreie Messingnägel, Schraubnägel, Ankernägel und Senkkopfschrauben. Ist ein Dübel zwingend nötig, ist auch er dabei. Welch eine Erleichterung.

5. Was sind die 3 wichtigsten Durchbrüche, die Adobe in den letzten zwölf Jahren geglückt sind?

„Lassen Sie den Computer nicht zu viel arbeiten.“ Ein Satz meines Professors vor über 12 Jahren. Lag mir lange Zeit wie eine Vorschrift auf dem Magen. Zwar war es sicherlich nur als ein RatVorschlag gemeint (das Gegenteil von gut ist gut gemeint), hat sich aber eingebrannt und hängt seitdem wie eine unsichtbare Regel an meinem Kopf. So habe ich stets versucht, viele Programmfunktionen zu umgehen. Meine Arbeit gleicht der meditativen Modifikation von Pixelgewebe. Will sagen: ich kenne mich mit Adobe nur unzureichend aus und kann nicht auf die Beantwortung der Frage eingehen. Eine Unterscheidung zwischen: a) „neue Funktion“ und b) „das gibt es schon seit etlichen Jahren“ kann ich nicht vornehmen.

6. Wie punktet man in ekelerregenden Teammeatings?

Tanzend den Raum verlassen.

7. Wenn die menschliche Existenz eine *.psd-Datei wäre, wie viele Ebenen hätte sie?

Bin mir nicht sicher, ob das die richtige Frage ist. Die Frage stellt sich nicht nach der Anzahl der Ebenen. Vielmehr müsste die Frage lauten: Wie sieht die Systematik einer *.psd-Datei aus, die das Überleben einer solchen Datei sichert? Die Ebenen wären wohl bestens organisiert. Jede Ebene, jede Gruppe so in Reih und Glied, dass das Zusammenspiel aufeinander angewiesener Datensätze/Organe reibungslos funktioniert. Eine Schönheit an guter Inszenierung. Und dennoch würde ich durch diese scheinbare innere Ordnung kein Durchkommen finden. Mein eigener Ordnungswille, den ich gerne den Dateien aufzwänge, würde an dieser scheitern. Ver(w)irrt wäre ich, die Datei würde mich ständig austricksen. Ebenen abstrahieren, kopieren, verzerren ___ nicht möglich. Überspeichern, löschen, hinzufügen, ausdrucken … begleitet von Error und Fehlermeldungen.

8. Ist „Mensch“ überhaupt ernst gemeint?

Ist es ernst gemeint, dass wir für jede Seite, die wir im Internet aufrufen, entscheiden müssen, welches Keksrezept wir akzeptieren? HRN] Man*n und Frau sollte sich selbst jedenfalls nicht immer allzu ernst nehmen.

Beitragsbild: © Katrin Salentin

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Maximales Jokschusview

Max Jokschus, mit dem unser Autor Daniel Ableev (also ich) über Diesel & Jena klönschnackuliert, wurde am zweiten Dezember 1992 in einem Zwickauer Krankenhaus geboren, woran er sich aber nicht mehr erinnert. Seit Erinnerungen existieren, nehmen Bilderbücher, Gedichtbände und Horrorfilme einen großen Stellenwert ein. Aktuell lebt er in Leipzig, arbeitet dort halbtags an der Uni und die andere Hälfte an einer Promotion über den Horrorfilm. Obwohl sein Tag damit ausgeschöpft ist, stiehlt er sich regelmäßig ein paar Extrastunden, in denen er kleine Reimereien verfasst und bebildert.


Welche Tools benutzt du zur Erzeugung deiner Kunst?

Ein Surface Book (teuer) und FireAlpaca (das Gegenteil).

Was ist schwarz-rot-gelb und trägt zur Novelle888 bei?

Eine Koalition aus CDU, SPD und FDP, die Orthographie strafbar macht.

Nicht ganz, Urus war gemeint. Was sind einige Vor- und Nachteile des Künstlerseins?

Das wüsste ich auch gern.

Unter welchen Bedingungen würde Sarah Palin auf einem Ursus die Prämisse für eine fesselnde Graphic Novel ergeben?

Unter der Bedingung, dass Orthographie strafbar ist und die Sprechblasen voller Kringel und Flecken sind. Ansonsten leider aussichtslos.

Wobei ich mich freue, klugscheißerisch anzumerken: Bei Urus Palin bitte keine Verwandtschaft zur amerikanischen Politik unterstellen, sondern allein zu Palinurus elephas.

Wer inspiriert dich und wen inspirierst du?

1) Edward Gorey und Mike Mignola; 2) niemanden, der mich kennt.

Wer oder was ist unbedingt in mJok (Millijokschus) zu messen?

Die Kratzigkeit des Hustens im Verhältnis zur Versicherung, man sei wirklich nicht krank.

Mit welchen Adjektiven (bzw. Interjektionen, Partikelkanonen usw.) würdest du am ehesten deinen Stil bezeichnen?

Preisunverdächtig. Wohlig. Hmm.

Welche unmittelbaren Privilegien ergäben sich aus einer sublimen Mensch-Languste-Bastardisierung?

Wahrscheinlich hätte es keine Covid-Pandemie gegeben, denn Langusten haben keine Lungen (glaube ich). Gewisse Konflikte mit jüdischen Speisegesetzen ließen sich aber nicht kleinreden.

Was sind deine cleversten Lebenssinnhaftigkeitsvorgauklertricks?

Thomas Ligotti nur in kleinen Dosen lesen.


Urusvon Max Jokschus gibt’s online, in den Headquarters of Experimentalism.

Titelbild: © Max Jokschus

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Freiheitsstatue im Lockdown

„vanderkurth“ – unter diesem Künstlernamen ist das Multitalent Tomas Kurth seit Jahrzehnten in seiner Heimatstadt Stuttgart aktiv. „Bildender Künstler“ ist zu eng gefasst, und selbst „Maler, Bildhauer, Musiker, Fotograf, Bühnenbildner“ beschreibt nur einige seiner vielen Tätigkeiten. Nach hunderten von Gemälden, tausenden von Zeichnungen und einer Unmenge an Radierungen hat vanderkurth sich seit zwei Jahren auf Statuen spezialisiert. Während des Lockdowns 2020 / 2021 schuf er seine „Freiheitsstatue“ und enthüllte sie letzten Sommer. Alexander Tuschinski, Regisseur und Filmemacher, porträtiert den Künstler in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Statue of Liberty“, der sich in den letzten Zügen der Postproduktion befindet.

von Alexander Tuschinski


Tom, bei unserem ersten Treffen beeindruckte mich sofort, dass du seit Jahrzehnten ununterbrochen Kunst erschaffst. Manches verkaufst du, anderes bleibt bei dir. Selbst neben einem „Brotjob“ findest du immer Zeit für eigene Arbeiten. Viele Künstler fangen zwar mit einem ähnlichen Elan an, aber nur wenige halten ihn so lange durch. Woher stammt die Energie für dein kreatives Schaffen?

Gott sei Dank ist das, was ich tue, zurzeit nicht strafbar. Wäre ich ein Triebtäter mit kriminellem Hintergrund, würde die Justiz einen forensischen Psychiater auf mich ansetzen, um die Gründe für mein Treiben zu ergründen. Als Künstler genieße ich einen Freiraum; der Volksmund nennt ihn „Narrenfreiheit“. Das deutsche Grundgesetz hat für Leute wie mich in Artikel 5, Absatz 3 das Kunstrecht festgeschrieben.

Das erklärt, so hoffe ich, dass ich meinen künstlerischen Trieb – und um nichts anderes handelt es sich hier – hemmungslos und ohne Rücksicht auf die eigene Vernunft auslebe, Opfer und Verzicht inklusive. Das Maß der Energie ist genetisch und biologisch bedingt,  dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

Zwischen Kunst und Ukulele – vanderkurth:

Wann wurde dir klar, dass du deine freie Kunst zum Lebensinhalt machen willst? Hattest du auch überlegt, andere Berufe zu ergreifen?

Uuuh je! Klarheit kenne ich nur vom Hörensagen. Ich bin ein vom Leben getriebener. Ich balanciere auf einem schmalen Seil, den Abgrund kann ich mir nicht leisten. Der „Lebensinhalt“ ist das Leben selbst; komme, was da wolle!

Auch der Nebel ist real existent; da muss man durch, will man die Sonne sehen. Klar habe ich mir andere Berufe überlegt. Ich wollte Vorstandsvorsitzender von Mercedes Benz werden – hat leider nicht geklappt.

Viele deiner Werke sind sehr humorvoll, oft gesellschaftskritisch, und praktisch nie in der aktuellen Tagespolitik verhaftet. Wie beschreibst du deinen Stil?

Ja, Humor ist mein zweiter Vorname, der dritte: Wasser. Die real existierende Wirklichkeit, so, wie sie sich mir in den Weg stellt, ist für mich nur mit Humor zu ertragen. Und mit Kritik. Wer einmal gedanklich aus dem, was wir „Bewusstsein“ nennen, auch nur für kurze Zeit ausgestiegen ist, für den gibt es kein Zurück. Die Tagespolitik macht mich fassungslos, da sollen andere ran, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

Natürlich hätte ich gerne, dass man*in einstens sagt: „ah, der VANDERKURTH, war das nicht der, der den Stilismus erfunden hat?“ Doch dazu bin ich nicht eitel genug. Ich male Bilder, erschaffe Plastiken, singe Lieder, schreibe Texte und mache blöde Sachen. Mehr nicht.

Seit Juni ist deine „Statue of Liberty“ enthüllt. Wie fühlst du dich damit, und wie kamst du auf die Idee zu diesem neuen Werk?

Seit drei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Statuenserie „Denkmäler“, die gewöhnliche Menschen auf ein Podest stellt. Als 2020 die Lockdowns begannen, fielen plötzlich viele Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungen und Aufträge weg. Zur gleichen Zeit trennten sich auch noch meine langjährige Frau/ Freundin und ich auf dem Weg zum Traualtar.

Da freundete ich mich erstmal wieder mit mir selbst an und stellte mich auf einen Sockel. Dort stand ich dann eine Weile wie ein Trottel. Das war befreiend.

Aber zurück zu deiner Frage: Das deutsche Wort „Einfall“ beschreibt ganz gut den Vorgang. Ideen kommen meist aus heiterem Himmel und fallen von dort oben direkt in das Gehirn des Künstlers da unten. Und sie sind äußerst flüchtig. Wohl dem, der einen Skizzenblock oder ähnliches zur Hand hat! Und ich hatte ihn griffbereit, als die Freiheitsstatue herunterfiel, deshalb blieb dieser Einfall der Nachwelt erhalten. Möge sie an der Hafeneinfahrt von Stuttgart, gleich ihrer New Yorker Namensvetterin vor hundert Jahren, die ankommenden Migranten ermahnen, dass hier eine große Aufgabe auf sie wartet. Freiheit kann auch anstrengend sein, ist sie doch gleichzeitig mit Verantwortung verbunden. Aber jetzt werde ich schon wieder zu ernst.

Unser Film „Statue of Liberty“ entstand oft ganz spontan. Ich drehte meist auf dem Smartphone und hatte nach jedem Drehtag neue Ideen, wie er weitergehen könnte. Meist setzte ich einfach nur Zeit und Drehort fest. Am Set fielen uns beiden oft komplett neue Dinge ein und wir setzten sie direkt um. Beim Schneiden schuf ich dann daraus Tag für Tag den Film. Wie empfandest du den Dreh?

Mir liegt spontanes Arbeiten sehr. Ich habe schon bei vielen verschiedenen Filmproduktionen mitgewirkt, meist als Setbauer. Dein Dreh war aber anders als alle, bei denen ich bisher war. Es fühlte sich an, als ob wir jeden Tag zusammen ein Gesamtkunstwerk schaffen. Die Kreativität hat „gesprüht“, alles schien möglich, es gab keinerlei äußere Vorgaben. Nicht einmal die Laufzeit war von Anfang an klar. Zuerst schien es ein Kurzfilm zu werden, doch dann wurde er abendfüllend. Du kamst oft auch einfach spontan vorbei. Wir hatten an manchen Tagen gar nicht vor, zu drehen, und dann entstanden trotzdem neue Szenen, meistens die besten!

Am Set hatte das Gefühl, mich entfalten zu können, du nahmst mich künstlerisch auf Augenhöhe ernst. Ich merkte immer wieder, dass du an jedem Tag schnell eine genaue Vorstellung hattest, was du jeweils drehen wolltest – aber du mochtest es dabei trotzdem, immer wieder spontan ganz neue Ideen zu integrieren. Und ich war immer wieder beeindruckt, wie du im Schnitt dann aus unseren lustigen Tagen ein kohärentes Werk geschaffen hast. Oft hatte ich Deine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, das möchte ich als Kompliment verstanden wissen. Der Film ist eins meiner Highlights der letzten Jahre.

vanderkurth mit Alexander Tuschinski beim Dreh (v.r.n.l.):

Deine „Denkmäler“ haben einen eher comichaft-stilisierten Look, den du auch bei der Freiheitsstatue beibehalten hast. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, klar! Da ich endlich berühmt werden will, müssen ich und meine Statuen in einem Look daher kommen, den alle verstehen und lieben. Man kann es auch den größten gemeinsamen Nenner nennen, um einmal mehr zu kalauern. (>siehe Humor weiter oben)

Vor den Denkmälern gab es immer wieder bestimmte Phasen in deinem Schaffen. Wie weit planst du diese im Voraus?

Ich plane nix, ich bin ein von den Phasen Getriebener.

Ouzo, das griechische „Nationalgetränk“, inspirierte deine „Ouzographien“: Hunderte humorvolle Zeichnungen von Ouzogläsern, die über Jahre oft spontan in einer Kneipe entstanden. Darin verdichten sich extrem viele kreative und lustige Ideen auf kleinstem Raum. Ich finde, sie sind eins deiner Hauptwerke. Erzähl bitte darüber.

Ja, auf die bin ich auch sehr stolz, auch wenn die Entstehung für die Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Du hast ihnen in deinem Film den Raum gegeben, den sie verdienen, obwohl ich anfangs nicht so begeistert davon war. Aber als ich von Deinem Hintergrund als Historiker erfuhr, habe ich mich demütig gebeugt und die Dose der Pandora geöffnet. Sie sind nur Zeugnis meiner Zeichentechnik, durchdekliniert an einem einzigen Sujet.

Du arbeitest oft gegenständlich, „figürlich“. Abstrakte Werke finden sich selten in deinem Schaffen. Wie kommt das?

Als ich in den 80ern an der Kunstakademie in Stuttgart studierte, war in der Kunstwelt figürliches Arbeiten verpönt. Die Malerei wurde für tot erklärt. Bildhauern, die figürlich arbeiteten, haftete der Ruch des „Dekorativen“ an. Meine Kollegen, die abstrakt arbeiteten, taten das nur, um hurtig fertig zu werden und schneller wieder in die Kneipe zu kommen. Das war nicht mein Ding, obwohl ich nichts gegen Kneipen habe. (> siehe OUZOGRAFIE)

Du spielst viele Instrumente, gerade hauptsächlich die Ukulele. Schon 1975 hattest du mit „Flick Flack Huckepack“ ein Album produziert. Wie waren deine musikalischen Anfänge? Hattest du als Jugendlicher Musikunterricht?

Ja, aber mein Musiklehrer konnte mich nicht besonders leiden. Meistens musste ich vor der Türe im Gang stehen. Das „Picknick im Neandertal“, so heißt das Opus, war meine Rache. Schön, dass die Musik vierzig Jahre später nun in deinem Film als Soundtrack zu Ehren kommt.

In „Statue of Liberty“ hast du oft sehr lustige Sprüche und Darbietungen improvisiert. Bei Testvorführung haben dich einige Zuschauer mit Bob Ross verglichen, wenn du geduldig in einigen Szenen die Statue mit Putz bestreichst und dabei erzählst. Hast du dich je als Schauspieler versucht?

Nicht wirklich, aber meine Gesangslehrerin hat mir einige Kniffe beigebracht. Eines Tages wollte Sie, dass ich mir eine Figur ausdenke. So kam es, dass ich den „singenden Tankwart“ gebe; so trete ich auch in deinem Film auf. Das Publikum will unterhalten werden und das ist auch OK. Auf Bob Ross bin ich neidisch, der hat mir das Merkantile voraus.

In den 70ern hattest du im Schwarzwald eine Art kreative, alternative Wohngemeinschaft in einem historischen, ehemaligen Gasthof gegründet. Wie lief das ab?

Uh, ja. Die jugendliche Elite zog es damals aufs Land. Wir wollten die Welt retten. Wir waren die Keimzelle der GRÜNEN. Wir bauten unser eigenes Gemüse an und backten unser eigenes Brot aus biologisch-dynamischem Mehl. Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf und sagten: „Die Bauern sind weg, jetzt kommen die Experten!“

Ich bin Einzelkind und meine Jugend war aus verschiedenen Gründen eher problematisch. Da war es sehr wohltuend, eine eigene Wahlfamilie mit Gleichgesinnten zu haben.

Mit meinen Künstlerbiographien möchte ich Menschen inspirieren, selbst ihre Kreativität auszuleben. Was möchtest du Lesern und Zuschauern mitgeben, die gern kreative Projekte erschaffen möchten, aber noch Hemmungen haben?

Es ist beglückend, etwas Sinnvolles getan zu haben, ist ein Werk gelungen. Man sollte sich allerdings keine Illusionen machen. Meist ist es Arbeit, und man muss auch mit dem Scheitern klarkommen. Ich werde oft gefragt: „Ja, kann man*in denn davon leben?“

Da ist hilfreich, man hat einen gutverdienenden Partner oder einen pfiffigen Manager, der einen nicht über den Tisch zieht. Oder man*in ist Bob Ross und ist ein Genie der Selbstvermarktung. Ein Superstar zu werden ist den wenigsten vergönnt. Gelingt es dennoch – umso besser!

Aber nur zu, Mut hat noch keinem geschadet. Hemmung dagegen schon.

Ein Vorschmack auf Alexander Tuschinskis „Statue of Liberty“:

Quelle: YouTube

Mehr über Regisseur und Filmemacher Alexander Tuschinski im Interview von Schauspieler Thomas Goersch.

 

Bilder: © Alexander Tuschinski

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Interliefiew – Im Gespräch mit Thomas Liefhold

Im folgenden Gespräch mit Thomas Liefhold – geboren in 1984, aufgewachsen in Gera, lebend in Mannheim – geht es nicht zuletzt um Cindy Told Him of the Sea, seine 2020 erschienene Sammlung generativer Maschinengedichte. Nagesake hingegen bleibt relativ unerwähnt.


Drei meiner Lieblingsautoren sind Burroughs, Brautigan und Beckett – und deine?

Gerade sind das wahrscheinlich Agnar Mykle, John Fante und Tove Ditlevsen.

Welche Dienstleistungs-App wärst du am liebsten?

Translate von Google.

Drei meiner Lieblingsbands sind Redemption, Jean-Michel Jarre und Carlo Domeniconi – und deine?

Die letzten Titel, die auf meinem Handy liefen, waren von Leighton Craig, Glorious Din und Mary Halvorson.

Wie lange noch bis zum ersten Auto-Complete-Herrn?

Das kommt darauf an, wann ich wieder länger auf Reise gehen kann. Die Gedichtsammlung, die du ansprichst und die ich 2020 unter dem Titel Cindy Told Him of the Sea herausgebracht habe, hatte ja eine solche längere Reise zum Anlass. Ich war sechs Monate unterwegs und habe einfach notiert, was Google Translate an Gedichten fabriziert, sobald die App versucht, thailändische oder vietnamesische Rezensionen ins Englische oder Deutsche zu übersetzen. In den USA, Mexiko und Guatemala gab es da keine Probleme, aber in Südostasien wusste die App phasenweise wirklich nicht mehr weiter. Die Algorithmen sind zumindest heute noch nicht so vollständig fehlerfrei, wie wir manchmal glauben, und das ist irgendwie beruhigend, denn aus den Fehlern der Maschine entsteht manchmal etwas sehr Poetisches. In Vietnam hieß es beispielsweise über ein Restaurant, dort stünden „vier Tassen Licht“ auf der Speisekarte, und über ein Ausflugsziel in der Nähe von Hanoi hatte jemand geschrieben, man sehe „die Berggeister im Nebelmeer spielen“, sobald man ein paar Treppenstufen eines Tempels nach oben gehe oder etwas in diese Richtung. Was derjenige wirklich geschrieben hat, kann ich nicht sagen, aber was Google verstanden haben will, ist klasse. Diese unfreiwilligen Gedichte habe ich festgehalten.

Drei meiner Lieblingsvideospiele sind Super Mario World, Pony Island und Monument Valley – und deine?

Ich habe mit meinem besten Freund aus der Grundschulzeit viele Nachmittage im Zimmer seines Bruders verbracht, um ihm beim Spielen am Sega Mega Drive zuzusehen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an Streets of Rage 2, was eine Art Prügelspiel war, das man auch zu zweit spielen konnte, aber dazu kam es meist nicht, weil uns der Bruder meines Freundes nur selten an die Konsole ließ. Damals fand ich es unglaublich, dass man als Vierzehnjähriger einen eigenen Fernseher und eine Konsole besitzen konnte. Vor drei Jahren habe ich in Mexiko einige Wochen lang Stardew Valley gespielt, während meine Freundin im Pazifik surfen war. Wir sind am Morgen gemeinsam aufgestanden, die anderen Zimmer im Hostel lagen da noch totenstill, und dann lief Kathrin in Richtung Ozean und ich habe Kaffee gekocht und im Bett meine Farm aufgebaut und erst wieder aufgehört, als Kathrin drei Stunden später völlig erschöpft vom Strand zurückkehrte.

Worum geht es in deinem Blog Das Jahr der Fahnen?

Um dieses Jahr. Ich wusste im Januar, dass mein Roman im Sommer erscheint, ich wusste auch, dass ich einen neuen Job antreten werde oder vielmehr muss. Anfangs habe ich an einen Umzug gedacht und an eine neue Stadt, manchmal sogar an eine längere Reise. Aber das hat sich schnell zerschlagen. Außerdem war mir klar, dass ich dem Schreiben endlich vertrauen muss, weil es anders gar nicht mehr geht, und ich wollte unbedingt festhalten, was in diesem beweglichen Jahr mit mir geschieht, denn dieses Jahr stellt für mich so etwas wie eine Entscheidung dar, und deshalb dachte ich, am Ende macht es womöglich Sinn, über ein entscheidendes Jahr zu schreiben und herauszubekommen, ob es tatsächlich so entscheidend wird, wie man anfangs denkt. Außerdem geht es im Jahr der Fahnen um das kontinuierliche, tägliche Schreiben, auch wenn manchmal ein paar Tage zwischen den einzelnen Einträgen liegen. Ich arbeite jeden Tag etwas und erinnere mich plötzlich wieder an Dinge, die fünfzehn oder zwanzig Jahre lang nicht mehr da gewesen sind, und dann denke ich, irre, dass so etwas möglich ist, dass die Dinge überhaupt wieder auftauchen können, denn dafür gibt es ja weder einen Grund noch eine Garantie. Mittlerweile glaube ich sogar, dass ich im Jahr der Fahnen einen solchen Grund oder Anlass für mich selbst geschaffen habe, einen Anlass für die Rückkehr der Dinge sozusagen, für ein paar bedeutende oder unbedeutende Erinnerungen, für das Auftauchen meiner verlorenen Freunde, an die ich mich nicht mehr oder nur indirekt zu schreiben getraue, für die viele vergeudete Zeit, die ich mir wahrscheinlich immer zum Vorwurf machen werde. Ich versuche noch immer, aus allem herauszukommen, ohne wirklich zu wissen, was ich damit meine, und für dieses Gefühl ist das Jahr der Fahnen am Ende da.

Drei meiner Lieblingsfilme sind Lost Highway, Begotten und Everything Is Terrible – und deine?

Die Feuerpferde von Paradschanow fallen mir ein, Licht im Winter von Bergman und Ariel von Kaurismäki. Aber auch 2001: A Space Odyssey von Kubrick, alles von Tarkowski, Kurosawa und Ozu, Idioten von Lars von Trier. The Act von Killing habe ich in einem komplett leeren Kino in Wien gesehen, als der Film gerade rausgekommen war, und er hat mich damals völlig umgehauen und mitgenommen, so etwas habe ich danach nie wieder erlebt. Leider habe ich von Filmen nur eine oberflächliche Ahnung und zähle mit Sicherheit zum sentimentalen Publikum. Ich finde also alles gut, was ich mit mir selbst in Verbindung bringen kann.

Wie seltsam wird dein erster Roman Gärten in der Wildnis?

Der Roman selbst ist hoffentlich nicht seltsam, aber was mit meinem Erzähler passiert, wahrscheinlich schon. Seltsam ist hier vielleicht sogar eine ganz gute Beschreibung. Der Roman spielt in naher Zukunft, im Sommer 2029, und das Leben von Jakob, meinem Erzähler, gerät nach und nach völlig aus den Fugen. Eigentlich nimmt er dieses Leben überhaupt nicht mehr als Leben wahr, als Möglichkeit und Chance, als etwas Offenes, denn er hat sich komplett vergraben. Er arbeitet als Texter für fiktive Liebesbeziehungen in einer Agentur und liest durch Zufall von einem Schreibkurs. Schreiben, das wollte er immer, ein Buch, das wäre doch was, darin könnte ja der Ausweg aus der Sackgasse liegen, und deshalb macht sich Jakob zu diesem Schreibkurs auf und das wiederum bringt alles ins Rollen.

Er wird Teil einer Gruppe von dilettierenden Außenseitern und lernt einen verbotenen Schriftsteller kennen, ein euphorischer Abschnitt beginnt für ihn, plötzlich scheint das Schreiben real, und Jakob will von vorn anfangen. Das alles passiert vor einem düsteren Hintergrund – im Roman steckt ziemlich viel Dystopie –, denn die Stadt wird von einer Terrorgruppe heimgesucht, deren Agenda unscharf bleibt, patriotische Bürgerwehren sind allgegenwärtig, man hat alle Obdachlosen an die Ränder der Städte verbannt. Zu allem Überfluss bilden sich dort draußen gerade Wüsten, die Tage sind unerträglich heiß, aber dafür haben Jakob und die anderen keinen Blick. Sie halten weiter an der Kunst fest, darin steckt so etwas wie ein Ausdruck von Freiheit. Und genauso geht es auch Ruben, dem Zentrum des Kreises, zu dem alle aufschauen und der in erster Linie ein brutaler Dichter ist, was Jakob unglaublich fasziniert.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ruben ist mit Sicherheit seltsam, wenn man darunter etwas Zwiespältiges und Besonderes versteht. Vor allem Jakob treibt er an, er ist sozusagen für einen Lichtblick in der allgegenwärtigen Wildnis verantwortlich. Ruben will ganz einfach mehr als das, was uns überall angeboten wird, als wäre es genau für uns und nicht für alle anderen gemacht. Und damit zeigt er Jakob einen Weg aus der selbstverschuldeten Monotonie seiner Tage. Wobei nicht ganz klar ist, wie weit Jakob diesem Weg letztendlich folgt.

Drei meiner Lieblingsvokabeln sind „Trumen“, „Raumzeit“ und „safidal“ – und deine?

„Verunsicherung“ und „Sanftmut“, würde ich sagen.

Wofür sind deine Soundscapes am besten geeignet?

Die haben keinen Zweck.

Drei meiner Lieblingsbildkünstler sind Giger, Dalí und Mœbius – und dune?

Ich mag die Landschaften von David Hockney und die Stillleben von Wolfgang Tillmans. Und ich mag Goodiepals Installationen.

Drei meiner Lieblingsästhetiken sind minimalist’sch, rot-schwarz und transmutiert – und deine?

Das überlasse ich anderen.

Was ist der Sinn des Lebens?

Wer hat auf diese Frage eine spruchreife Antwort?

Titelbild: privat

 

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NAHSCHUSS

Nahschuss, Regie: Franziska Stünkel, Kamera: Nikolai von Graevenitz, Bild: Lars Eidinger (Franz Walter)

Inspiriert von der Geschichte Werner Teskes erzählt Franziska Stünkel in ihrem Film NAHSCHUSS auf berührende und eindringliche Weise über die Todesstrafe in der DDR und die Geschichte eines Mannes, der seinen Halt und sein Vertrauen in und durch ein System nach und nach verliert.


Die Premiere des Films NAHSCHUSS findet am 4. Juli beim Filmfest München statt. Der Film thematisiert die Todesstrafe in der DDR – nicht unbedingt ein Thema, das nach Open-Air-Sommer-Popcorn-Kino schreit. Die Regisseurin Franziska Stünkel, die wir am Premierentag über Zoom sprechen, ist dennoch glücklich, ihren Film jetzt endlich auf der großen Leinwand einem Publikum präsentieren zu können:

„Es ist eine große Freude, dass Kino wieder möglich ist. Dass es diesen Raum wieder als kollektives Seh- und Fühlerlebnis gibt, um Themen zu sich zu lassen und in den Diskurs zu gehen.“

Franz Walter (Lars Eidinger) mit seiner Frau Corina (Luise Heyer), © Alamode Film

Werner Teske und die Todesstrafe in der DDR

Auf das Thema ist die in Göttingen geborene Fotokünstlerin und Filmregisseurin eher zufällig gestoßen. Von der Todesstrafe in der DDR hat sie beiläufig, in einem Nebensatz eines Artikels, erfahren. Bei der Recherche ist sie dann auf ein Foto von Werner Teske gestoßen, dem letzten offiziellen Hinrichtungsopfer der DDR. Stünkel wird schnell klar, dass dies das Thema ihres neuen Filmes sein wird. Das Schicksal dieses Menschen interessiert und bewegt sie:

„Das Foto war die Initialzündung. Denn man macht Filme nicht über ein Thema, sondern über Menschen. Und dann bin ich diesem Menschen gefolgt“

Die Geschichte von Franz Walter

Inspiriert vom Schicksal Werner Teskes erzählt Stünkel in NAHSCHUSS die Geschichte von Franz Walter (Lars Eidinger). Frisch promoviert wird Franz eine Professur an der Universität in Aussicht gestellt, eine Position, die manche nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit nicht erreichen. An diese Stelle sind Bedingungen geknüpft. Bevor Franz diese antreten kann, soll er für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit) arbeiten, wie ihm Dirk Hartmann (Devid Striesow) in einer konspirativen Wohnung eröffnet – alles unter strenger Geheimhaltung. Diese Position bringt viele Vorzüge mit sich und Franz genießt sein neues Leben mit Freundin Corina (Luise Heyer). Als die Anforderungen an ihn steigen und die Aufträge nicht mehr mit seinem Gewissen zu vereinbaren sind, ist es zu spät. Franz findet sich in einem System wieder, das ihn und alles kontrolliert und aus dem es kein Entkommen gibt.

Franz Walter (Lars Eidinger), © Alamode Film

Seite an Seite mit Franz

In ruhigen, langen Einstellungen und ganz ohne spezielle Effekte oder leitende Musik, schafft Franziska Stünkel in kürzester Zeit eine enorme Nähe zu Protagonist Franz herzustellen. Als Zuschauer٭in weicht man Franz nicht von der Seite, es gibt keine Szene ohne ihn. Wir sehen, was er sieht und wir erleben, was er erlebt. „Man schaut Franz zu wie ein Gefühl entsteht und eine Entscheidung“, erklärt Stünkel. Und man bleibt weiter bei ihm. Franz‘ persönlicher Entwicklung wird damit viel Zeit und Raum gegeben. Die Entscheidungen werden dadurch nachvollziehbar und es schafft zudem eine Intimität und intensive Beziehung zwischen Publikum und Protagonist.

Die entstandene Empathie für Franz weckt ehrliches Bangen um sein Schicksal. Was den Zuschauer٭innen viel Stärke abverlangt. Man ist erschüttert über die Wendungen, die Franz‘ Leben nimmt, über plötzlich ins Wanken geratenes Vertrauen zu nahestehenden Personen und über Entscheidungen, die sich als Fehler herausstellen. Hätte man nicht gleich gehandelt an Franz‘ Stelle? Franziska Stünkel beschreibt dazu: „Man muss es auch aushalten, einem Menschen lange zuzusehen, seinem Gegenüber. Da spürt man dann erst: die Angst, Ablehnung, Zuneigung oder Unsicherheit.“ All das spüren wir in Franz und in uns.

Das Team: „Lars, Devid und Luise waren große Wunscherfüllungen.“

Für diese rohe und intime Erzählweise braucht man einen fähigen Schauspieler. In Lars Eidinger hat Franziska Stünkel einen solchen gefunden: „Mir lag es sehr am Herzen, für den Franz diesen Menschen und Schauspieler zu finden, der diese Radikalität und Authentizität vermag herzustellen, da war Lars Eidinger der absolute Wunsch von mir.“

Stünkel war es wichtig, mit Schauspieler٭innen zu arbeiten, denen bewusst war, worum es in der Geschichte im Eigentlichen geht. Auch war es ihr wichtig, an Originalschauplätzen zu drehen. Sie betont: „Ich glaube sehr an die Kraft von Orten.“ Hier waren die Schauspieler٭innen und das Team hinter der Kamera eine Einheit, wofür Stünkel sehr dankbar ist. Dort konnten sie, wie Franziska Stünkel sagt, „eine Konzentration erzeugen, in der wir die Räume auch wahrnehmen konnten, sodass Lars, Devid und Luise in ihren Rollen dort einfach waren.“

So endgültig Franz Walters Schicksal im Film ist, so unausgesprochen bleibt vieles. Ganz bewusst, wie Stünkel sagt, denn der „Film möchte auch Fragen stellen dürfen.“ Er wirft viele Fragen auf: historische, politische und persönliche. NAHSCHUSS ist:

„… die Geschichte von Franz. Und dieser Film erzählt die Todesstrafe in der DDR. Mir geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen und einen Diskurs aufzutun.“

Alle Zitate: Franziska Stünkel

Das ist ihr unserer Meinung nach gelungen. Wir möchten an dieser Stelle Franziska Stünkel ganz herzlich für das schöne, aufschlussreiche Gespräch danken und allen Leser٭innen sehr ans Herz legen, NAHSCHUSS im Kino anzusehen. Der deutschlandweite Kinostart ist am 12. August 2021.

Regie & Drehbuch: Franziska Stünkel

Kamera: Nikolai von Gravenitz

Montage: Andrea Mertens

Musik: Sebastian Karim Elias

Szenenbild: Anke Osterloh

Vor der Kamera: Lars Eidinger, Luise Heyer, Devid Striesow, Paula Kalenberg, Moritz Jahn, Peter Lohmeyer u. v. m.

Wut, Sex, Tod, Erwartungen und Humor. Jovana Reisinger im Interview

Jovana Reisinger hat einen neuen Roman veröffentlicht. Und unter vielen Gesichtspunkten ist dieser ganz anders geworden als ihr Debüt „Still halten“ von 2017. Dennoch haben beide Texte eine gemeinsame Wucht und prügeln auf Rollenbilder und ihre Protagonist٭innen ein. Erneut ist ihr ein intensiver Roman gelungen, der gleichzeitig erdrückt, dabei aber nicht vergisst, kurzweilig zu sein und zu unterhalten. Warum aber hat sie ihn „Spitzenreiterinnen“ genannt? Und wieso heißen die Frauen darin wie Zeitschriften? Welche Rolle spielen Männer? Worum geht es überhaupt? Gute Fragen, noch bessere Antworten.

Spoiler-Hinweis: am besten erst den Roman lesen, dann das Interview.

Worum geht es in „Spitzenreiterinnen“?

Es geht um Frauen, die nach Frauenzeitschriften benannt sind. Und um Rollenzuschreibungen, Klischees und Stereotype. Auch behandelt er Gewalt – in jeglicher Hinsicht –, Diskriminierungserfahrungen, Sexismus und neoliberale Leistungsversprechen. Jetzt hab ich viele Schlagwörter rausgeballert.

Wie bist du darauf gekommen, die Protagonistinnen nach Frauenzeitschriften zu benennen?

So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich finde das Medium Frauenzeitschrift sehr spannend, weil es einen großen Raum einnimmt. Nicht unbedingt in meinem Leben, aber generell verfügen sie über Reichweite, Macht und Geschichte.

Für Männer gibt es weniger Magazine, an denen man sich als Teenager orientieren kann. Widersprich mir gern, aber ich glaube nicht, dass man in der gleichen Form in Magazinen Hilfe suchte. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, was in meiner Jugend zum Thema Sex in diesen Magazinen stand: Hier sind die fünf Supertipps, mit den Stellungen wird er wahnsinnig nach dir, so wirst du zur Blowjob-Queen. Es ging darum, den Mann zu befriedigen und überhaupt nicht darum, für sich ein Frausein zu erkennen und zu entwickeln. Es ging immer um die Frage: Was muss ich machen, damit man mich akzeptiert und anerkennt?

Ich fand spannend, mich Jahre später wieder mit diesen Zeitschriften auseinanderzusetzen und da entstand die Idee, einen Ensemble-Roman zu schreiben – mit gleichberechtigten Charakteren und Protagonistinnen. Der nächste Schritt war dann einfach, diese nach den Magazinen zu benennen, und sich gleichzeitig auf die Themen zu stürzen, die darin behandelt werden. Beauty, Fashion, Sex. Laura und Lisa haben ja zum Beispiel immer ganz viele Tipps und Tricks in ihren Kapiteln.

„Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind.“

Jovana Reisinger

Es ging also darum, die Rollenmodelle der Zeitschriften zu hinterfragen?

Nicht nur die der Zeitschriften. Der Gesellschaft. Aber ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich sie mit diesen Namen besetze. In meinem ersten Roman, du hast ihn ja gelesen, hat die Protagonistin keine charakterisierenden Beschreibungen. Man weiß nicht wirklich, wie alt sie ist usw. Das ist hier wieder so: Ganz selten kommt ein Alter vor, stattdessen Beschreibungen wie: „Sie ist Rentnerin und Witwe.“ Das verankert sie natürlich irgendwo, aber es wird nie beschrieben, wie sie aussehen, sondern sie sind alle irgendwie da.

Nirgends steht, was für Haarfarben, Haarstrukturen, Hautfarben oder Körpergrößen sie haben. Ich glaube trotzdem, wenn man dann aber die Frauenzeitschriften vor Augen hat und an die Frauen denkt, die einen von den Covern aus anlächeln, hat man eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnten. Ich hab mich gefragt, was das mit den Leser٭innen macht? Stellt man sie sich jetzt alle weiß, blond und blauäugig vor? Zu den Magazinen würde es passen. Aber vielleicht reflektiert man beim Lesen diesen Rückgriff und stellt sie sich dann ganz anders vor.

Für einen Capriccio-Beitrag hatte die Redakteurin alle Frauenzeitschriften gekauft, die im Buch vorkommen, und auf jedem Cover war eine weiße, dürre, blonde Frau mit blauen Augen. Die einzige Woman of Color war auf der Vogue.

Besonders kritisch stehen die Hauptfiguren ihren Rollen ja gar nicht gegenüber, oder?

Nein, die haben ja auch gar keine Zeit. Sie ackern und versuchen, ihr Leben hinzukriegen.

Kann es sein, dass sie alle vorgezeichnete Wege ausprobieren, dabei aber Schwierigkeiten haben, glücklich zu werden?

Ja, auch. Besonders die zwei Freundinnen Verena und Laura glauben, dass es einen vorgezeichneten Weg gibt, ein Frauen-Game, in dem man bestimmte Etappen gewinnen muss: guter Job, Macker, Ehe, Vermögen. Mit denen konnte ich natürlich gut den Konkurrenzkampf aufzeigen, der manchmal zwischen Frauen herrscht. 

Laura lädt ein Foto von ihrem Ringfinger bei Instagram hoch. Die Likes prasseln darauf wie ein Unwetter. Verena aktualisiert ihr Tinder-Profil.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Was würdest du sagen, wer von beiden den Wettkampf entscheidet?

Das kommt auf die Perspektive an. Ich hätte lieber die Villa, die Verena erbt, als Lauras Typen.

Es ist schon generell in dem Roman so, dass Figuren von Todesfällen eher profitieren als daran zu zerbrechen, oder?

Findest du? Ja, vielleicht hast du recht, es sterben einige. Und ich meine, für Barbara ist es auch super, dass ihr Mann stirbt und auch, dass weitere Personen sterben. So kommt sie ja auch an ihren Hund.

 

Findest du eigentlich selbst manchmal, dass deine Texte ein bisschen zynisch sind?

Zynisch find ich besser als ironisch. Das möchte ich nämlich auf gar keinen Fall sein. Ironie in der Kunst ist ein billiges Mittel.  Aber wenn man ein Kunstwerk herausgibt, hat man ja schon selbst gar keine Macht mehr über die Rezeption. Das Buch ist draußen, wenn jemand sagt, es ist ironisch, dann ist es für diese Person so. Für mich ist es am Ende aber wirklich eher zynisch. Und es ist auf jeden Fall gemein und boshaft. Aber so ist es halt auch.

 

Du meinst, das Leben ist auch so?

Ja. Als der Text noch im Entstehen war, ist mich eine Förderreferentin harsch angegangen. Sie hat gesagt, so einen Text braucht man nicht, der sei zu rough, das sei nicht der Feminismus, den wir jetzt benötigen. Was wir bräuchten, sei ein Happy End. Ich hab ihr gesagt, es gibt für uns jetzt auch kein Happy End. Ich geh hier ja jetzt nicht raus und bekomm ein Happy End serviert. 

Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus.“

Jovana Reisinger

Trotzdem suchen deine Protagonistinnen ja nach Happy Ends. In der Einleitung zum Beispiel steht der Satz: „Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen, dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens.“ – Warum schreibst du sowas?

Für Laura, genauso für Verena, ist der Höhepunkt ihres Lebens, sich einen guten Macker zu angeln. Wie eben im klassischen Rollenverständnis. Die sichere Ehe als ein Ideal. Aber dass die Ehe auch in jeglicher Form total unsicher sein kann, ob Gewalt, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Scheidung, spielt in der klassischen Theorie überhaupt keine Rolle. Als wäre Ehefrau und Mutter die einzige Bestimmung.

Am Samstag vor zwei Wochen gab es in München eine Demo mit Abtreibungsgegner٭innen, die zum Teil Schilder mit Slogans wie: „Mutter werden, mehr Frau sein geht nicht“ trugen. Klare Rollenbilder. Ich bin in einer Bubble, in der man glaubt, sowas findet nicht mehr statt und hat keine Realität mehr. Aber da standen 900 Leute, die das Gegenteil behauptet haben. 

In deinem Buch kommt ja auch eine Demo vor.

Ja, die klassische 8.-März-Demo. Mit wütenden Männern, die etwas sagen wie „Frauen sind doch schon überall an der Macht. Jetzt wollen sie auch noch Gratis-Tampons – wie unfair.“

Was glaubst du, warum auch in der Realität viele Menschen unterschreiben würden, dass eine Hochzeit der Höhepunkt weiblichen Lebens ist?

Das kann ich nicht sagen, ich bin ja keine Soziologin. Aber wenn das für die so ist, ist das ja auch toll. Im Feminismus muss es wichtig sein, dass dies freie Entscheidungen sind. Genauso wie zum Beispiel sexuelle Identitätspolitik. Dazu gehören auch Schwangerschaftsabbrüche. Wenn ich heirate, ist es auch meine Entscheidung. Auch, ob ich den Namen annehme. Trotzdem muss man meiner Meinung nach diese Rollen und was mit ihnen einhergeht, zumindest einmal durchdenken. Warum macht man es, warum kommt es so selbstverständlich daher? Warum wird es nicht hinterfragt – auch persönlich? Warum denkt man, etwas ist das Ziel? Und das Ziel von was überhaupt? Genauso ist es für mich beim Thema Schönheit: Ist doch egal, ob eine Frau sich die Brüste machen lässt oder nicht. Wenn sie’s machen will, ist alles gut.

Stimmt. In dem Roman gibt es immer wieder losgelöste Absätze Themen wie „Solidarität unter Frauen“, „weibliche Lust“, „Karrierefrauen“, „Haare“. Was hat es damit auf sich?

Das sind Sonderkapitel. Eine Figur, die es jetzt am Ende im Buch nicht mehr gibt, trug immer Powersuits. Es gab bei ihr einen längeren Abschnitt, in dem ich mich mit Hosenanzügen und dem Styling fürs Büro beschäftigt habe. Ich hab dann nach längerer Zeit festgestellt, dass die Figur für den Roman keinen Sinn macht, aber ich hing so an diesem Abschnitt. So entstand die Idee für diese Sonderkapitel, die auf jeden Fall inspiriert von diesen Frauen-Zeitschriften sind. 

Einiges, Haare und Haut, kommt ja direkt aus dem Beauty-Bereich, genau wie die Karrierefrau mit ihren Modetipps. Ich hatte hier das Gefühl, ich kann nochmal eine andere Sprache anwenden – fast wie für ein neutrales Medium, ein Nachschlagewerk. Aber es bietet natürlich auch die Möglichkeit, auf Gemeinheiten hinzuweisen wie den realen Fall, dass eine Frau entlassen wurde, weil sie zu sexy war. Dass das Gericht ihrem Chef recht gegeben und geurteilt hat, das sei gefährlich für seine Ehe und dass er diese Frau entlassen dürfe, ist doch spektakulär. Ich mochte, dass die Sonderkapitel so überraschend daherkommen, weil sie nicht im Inhaltsverzeichnis stehen.

Im ersten Sonderkapitel schreibst du, warum Frauen sich nicht als „Mädels” bezeichnen sollten. Dazu gab es bei postmondän auch schonmal einen Text. Warum sollten sie das aus deiner Sicht nicht tun?

Ich persönlich hasse es einfach, als „Mädels“ bezeichnet zu werden. Wenn ich mit einer Gruppe Frauen zusammen bin und wir sind die „Mädels“, die einen Mädelsabend machen, ist mir das viel zu niedlich, zu lieblich und harmlos. Was soll das? Und Jungs treffen sich dann zum Jungsabend? Sind wir jetzt alle wieder Kids? Es gab eine Zeit, in der ganz viele Produkte im Supermarkt so gebrandet wurden. Auf Prosecco-Flaschen stand dann in Rosa „Für den Mädelsabend“.

Und wieso heißt der Roman eigentlich „Spitzenreiterinnen“?

Die Idee hatte ich auch beim Konzipieren, was eine zweijährige Phase war: Ich glaube, ich habe eine Werbung gehört mit einem Solgan wie „Die Spitzenreiter der Charts“  oder „Spitzenreiter im Sport“. Mir ist dabei aufgefallen, erstens, was für ein tolles, klanghaftes Wort das ist, und zweitens, dass es aber weder „Spitzenreiter٭innen“ noch „Spitzenreiterinnen“ gibt. 

Ich hab mich erinnert, dass ich als Kind, wenn nachts Dauerwerbesendungen zur Schlager-Compilations im Fernsehen liefen, immer schon faszinierend fand, dass es diesen rein männlichen Begriff gibt. Das ist ja ein toller Superlativ, aber man benutzt ihn eigentlich auch nie, außer eben im Sport.

Neulich erzählte mir eine Buchhändlerin, dass bei ihr mein Buch jeden Tag gekauft wird, immer von Männern, und sie sich das Buch ganz lang nicht genauer angeschaut hat, weil sie dachte, das wär ein Buch über Sport oder antifeministischer Scheiß. Sie hat es sich dann irgendwann mal durchgelesen, und mich dann auch gleich zum Signieren eingeladen. Eine wahnsinnig lustige Frau. Spitzenreiterinnen – ein Sport-Roman.

Wäre eigentlich auch ein guter Name für Frauenzeitschriften, oder?

Ja, er klingt dann aber gleich wieder so nach Executive Chick, nach Managerinnen …

Ja stimmt, nach „Powerfrauen“. Das ist ja auch so eine ähnliche Kategorie wie der Begriff „Mädels“, oder?

Richtig schwierig. „Starke Frauen“ ist genau so eine Hass-Kategorie von mir wie „Mädels“.

„Power, also Macht, wird durch Powersuits, Powerfarben und Powerhandtaschen demonstriert. Mode als Power-Tool.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Anderes Thema: Dein Debütroman „Still halten“ hat sich ja stark mit der Innenperspektive einer Figur beschäftigt, die an ihrer Umwelt zerbricht. „Spitzenreiterinnen“ konzentriert sich eher auf Außenperspektiven, auf Frauen in ihren Umfeldern. Was ist dir beim Schreiben leichter gefallen?

Der Schreibstil bei „Still halten“ war auch deswegen anders, weil ich versucht habe, über Form und Sprache dem Inhalt eine andere Ebene zu geben, und die Leser٭innen genau so verrückt zu machen wie die Protagonistin, sie in den Wahnsinn zu treiben. Das hat die Erzählerin zu einer unzuverlässigen Begleiterin gemacht. Bei Spitzenreiterinnen ist es leser٭innenfreundlicher. Es gibt ja immer diese kurzen Episoden, alles ist sehr beschreibend, immer mit einer Draufsicht. Auch dadurch, dass es hin und wieder diese kommentierende Erzählerin gibt, hat es eine ganz andere Perspektive. 

Ich würde aber sagen, dass sich rein sprachlich nicht so viel verändert hat, weil beide Sprachen relativ hart sind – das ist zumindest mein Anspruch –, gnadenlos und schonungslos. Was leichter zu schreiben ist, kann ich nicht beantworten, denn in beiden Büchern steckt viel Vorbereitung und eine lange Schreibzeit. In „Still halten“ nochmal wesentlich mehr, zwei Jahre länger, aber die Form, die „Spitzenreiterinnen“ jetzt angenommen hat, entspricht der Sprache, die ich jetzt gerade schreiben möchte.

Bei „Still halten“ gab es ja auch interessante Figuren, zum Beispiel den Förster: ein konservativer Gegenpart zur Protagonistin. Ich hatte das Gefühl, dass du ihm im Roman, trotz seines verschrobenen Verhaltens und Denkens, immer noch viel Liebe entgegenbringst. Kann es sein, dass dir diese Liebe in den Beschreibungen von Männern bei „Spitzenreiterinnen“ abhanden gekommen ist?

Das würde ich jetzt nicht sagen. Lisa hat ja am Ende einen Super Date mit einem Supertypen. Es kommen auch coole, nette, anständige, aufgeklärte Männer vor, die haben aber nicht so viel Platz. Deswegen werden sie auch ein bisschen überlesen.

Männer haben im Roman aber keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben.

Genau. Die Männer sind durch ihre Taten sowieso präsent genug. Dadurch, dass ich mich auf die Gemeinheiten im Leben von Frauen gestürzt habe, Sexismus, häusliche Gewalt, brauchten diese Männer dann auch gewisse antagonistische Kräfte, und nicht noch mehr Identifikationsmöglichkeit.

Dementsprechend haben die keine richtigen Namen. Wonach hätte ich sie denn auch benennen sollen. Wenn ich meiner dramaturgischen Entscheidung treu bleibe, wonach alle Frauen nach Frauenzeitschriften benannt sind, wie soll ich denn die Männer benennen? Ich kann sie ja nicht „Beef“, „GQ“ und „11 Freunde“  nennen.

Komisch eigentlich, dass Männer-Lifestyle-Magazine nicht auch wie Männernamen heißen, oder?

Genau, die sind eher so nach Dingen benannt. „Beef“ sagt ganz klar, dass „Männer“ anders essen. Ich weiß nicht, was das soll. Und der Planet geht mit dem Fleischkonsum zugrunde. Aber egal. Hier ist dein Steak. In einer Rezension wurde mir vorgeworfen, ich hätte mich als Männerhasserin geoutet – der schlimmsten Form des Feminismus. Ich möchte hiermit sagen, ich bin keine Männerhasserin. Ich versteh auch nicht, wie man das herauslesen kann, aber es ist schon in Ordnung. Ich hab das Gefühl, es geht halt einfach eher um die Frauen. Und es darf auch einfach mal nur um die Frauen gehen. Und die Männer sind einfach Nebendarsteller. Ist doch auch okay.

In vielen Büchern ist es ja andersherum.

Eben, ist doch die ganze Zeit andersherum.

Männer können sich in deinem Roman relativ viel erlauben, kommen bspw. mit häuslicher Gewalt ungestraft davon. Die Frauen haben aber bei kleinsten Abweichungen mit starkem Widerstand zu kämpfen. Wie viel Wut steckt in diesen Beschreibungen?

Wut ist definitiv ein Motor für mich ist. Nicht der einzige, aber ein sehr starker. Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind. Ich denke dann jeweils weiter, was passen würde. Bei häuslicher Gewalt zum Beispiel: Es ist extrem kompliziert, aus so einer Beziehung wieder herauszukommen. Und es ist unfassbar anstrengend, vor allem wenn Kinder oder wirtschaftliche Abhängigkeiten im Spiel sind. 

Wie mit Tina umgegangen wird, ist für viele Frauen Realität. Dementsprechend war es mir auch so wichtig, ihr Hadern zu erzählen. Ganz oft sind Erzählungen so: „Er hat mich einmal geschlagen und dann bin ich gegangen. Ich geh als starke Frau heraus und mir kann sowas nie passieren.“  Klar, so etwas gibt es auch und es ist super, wenn das klappt. Aber wenn Abhängigkeiten geschaffen und festgezurrt sind, ist es viel schwieriger, wieder herauszukommen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, diesen Mann zu verlassen und zu verraten. In ihren Augen ist sie ja auch so schon schuldig. Sie sagt, eigentlich müsste sie sterben, weil sie so eine schlechte Mama ist. Weder hat sie geschafft, ihre Kinder zu retten, noch ihre Ehe. Es ist wahnsinnig kompliziert, aus solchen Beziehungen herauszukommen. 

Ich wollte ihr Handeln weder bewerten oder verurteilen, sondern den einzelnen Storys Raum bieten, um nachvollziehbar zu machen, wie kompliziert und anstrengend das ist – alleine, zu so einer Beratungsstelle zu gehen und immer wieder diese Geschichte zu erzählen. Man wird immer wieder fotografiert, wenn man nach solchen Übergriffen zum Arzt geht. Die Fotos landen dann in einer Akte. Selbst wenn man schon mehrfach der Polizei gesagt hat, dass der Ex-Freund oder Ex-Mann oder wer auch immer einen attackiert, und ihm ein Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, kann er ja trotzdem lauern und dich attackieren. 

Alles ist wahnsinnig anstrengend und kompliziert. Gleichzeitig ist es intensiv für weibliche Opfer häuslicher Gewalt – natürlich auch männliche, auch wenn das ein viel kleinerer Teil ist. Beratungsstellen sind unterbesetzt, man wird ins Frauenhaus gebracht. Warum überhaupt? Wieso wird das Opfer irgendwo hingebracht und nicht der Täter mitgenommen?

Du versuchst also eigentlich schon, etwas einfach so abzubilden, wie es ist?

Ich versuche die Wut in etwas anderes zu transportieren. Das versuche ich in meinen filmischen Arbeiten genauso. Eigentlich ist meine Herangehensweise Humor und Überstilisierung, also Übertreibung. Bei der Szene mit Lisa, in der im Restaurant Austern herumfliegen, wäre ich gern dabei gewesen. Ich find’s auch super, Barbara zu sehen, die auf ihrer Terrasse sitzt und sich so gerne fürchten möchte, weil nichts passiert und ihr so langweilig ist. 

Ihr Mann ist tot, sie ist Rentnerin, sie weiß nicht, was sie machen soll. Als Katalysator sucht sie sich die Angst aus und plötzlich kommt ein Hund dahergelaufen. Und zur Wut: Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus. Jetzt zum Beispiel bin ich total friedlich. Ich bin gar nicht mehr wütend.

Was würdest du sagen, welche deiner Protagonistinnen am glücklichsten ist?

Das weiß ich nicht. Ich hoffe, am Ende sind sie alle glücklich. Nach welchen Parametern soll man Glück auch bemessen? Ich versuche sie ja eben nicht zu bewerten. Manche Lebensentscheidungen treffen eher auf meine Identität zu, aber ich find’s auch völlig okay, wenn sie andere Entscheidungen treffen.

Du hast dich beim Schreiben aber ja in alle hineinversetzt.

Ja, und ich liebe sie. Es hat Spaß gemacht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber ich würde sagen, am Ende sind alle glücklich. Nur bei Tina ist es in bisschen gemein, mit dem offenen Ende. Aber Petra und Brigitte sind madly in love. Das ist doch mega schön. Jolie hat sich für ein Kind entschieden, das sie allein großziehen will. Verena hat eine geile Hütte. Barbara ist im Urlaub, bekommt ihren toten Mann endlich aus ihrem Kopf heraus. Er spricht nicht mehr mit ihr, was ja bestimmt auch ein bisschen anstrengend war. Lisa hat einen neuen Lover und einen geilen Job. Und sie lernt ihre neue Mitarbeiterin kennen, die auch irgendwie cool ist. Laura ist aufgeräumt, hat genau bekommen, was sie wollte. Ich würde unterm Strich sagen, Happy End für alle.

Letzte Frage: Mit wem von ihnen würdest du gerne tauschen?

Ich glaub, ich könnte mir vorstellen, mal in jede hineinzuschlüpfen. Selbst in Tina, die auch einfach eine absurde Stärke hat. Aber ganz tauschen, weiß ich nicht. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben. Guck mal, ich bin in einer totalen Luxusposition, sitze zu Hause und bekomme Interviewfragen gestellt. Ich liebe es.

Das ist ja auch was. Vielen Dank für das Interview.


„Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger erschien im Verbrecher Verlag, dem wir an dieser Stelle herzlich zum 25. Geburtstag gratulieren. Der Roman hat 264 Seiten.

„Den Raum des Bösen lote ich gerne aus“

Ute Cohen ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt in Berlin. In ihrem neuen Roman „Poor Dogs“ nimmt sie die Welt der Unternehmensberatung und wie Menschen beginnen, alle Beziehungen nach einem ökonomischen Nutzenkalkül zu beurteilen, in den Blick. Philip hat mit ihr über das Buch, über Liebe, Grausamkeit und Kapitalismus geredet.


Ute, dein Roman Poor Dogs spielt in der Welt der transnationalen Unternehmensberatung. Er handelt davon, wie die beiden Protagonisten André und Eva in ihrer Liebesbeziehung immer mehr den Boden unter den Füßen verlieren und die Grenzen zwischen Wirtschaftlichem und Intimen verschwimmen. Was ist in diesem Kontext ein „Poor Dog“?

Das ist ein Begriff, der aus der Portfolio-Theorie von Boston Consulting stammt. Das ist eine Matrix, in der es um Marktwachstum und die Entwicklungsmöglichkeiten von Unternehmen geht, also wie man diese einzuordnen hat. Und die „Poor Dogs“ sind die, die in diesem Portfolio am Schlechtesten dastehen, den geringsten Marktanteil und die geringste Aussicht auf Marktwachstum haben. Wenn aber auch Menschen so beurteilt werden, ist das äußerst bedenklich, etwa, wenn du diese Matrix deinen ganzen Freundes- und Bekanntenkreis überstülpst. Und ich hielt es für eine gute Idee, danach einen Roman zu konzipieren, weil ich tatsächlich in meiner beruflichen Laufbahn Menschen erlebt habe, die so in ihrem ganzen Leben vorgehen und alles nur nach dem Nützlichkeitsaspekt machen und eigentlich in dieser Matrix gefangen sind, dass sie nur noch ihr entsprechend handeln.

Ein solcher Mensch wird also ein reiner Homo Oeconomicus, der alle sozialen Beziehungen nur als Humanressource sieht?

Ja, genauso ist das.

Wer im Roman auf jeden Fall so vorgeht, ist André. Denn in deinem Roman mischen sich immer wieder die Motive wie Liebe, Erotik, Sexismus mit kalter wirtschaftlicher Kalkulation – aber alle werden nach denselben Kriterien von den Protagonisten behandelt: ökonomisch. Besonders André fällt mir da auf. Er sieht Frauen als austauschbare Sexobjekte, die er sich zum Spaß, Dekor, zur Lust oder Rentabilität hält. Das ist ein verlängerter, libidinöser Arm seines skrupellosen ökonomischen Handelns. Aber wirken dabei er und Eva, die zwischen ihren Hormonen, ihrer Selbstständigkeit und ihrer Arbeit bei McCrowley hin- und hergerissen ist, nicht oft allzu stereotyp?

Es entsteht einfach eine Konformität mit den Anforderungen einer Unternehmensberatung. Man ist einem System mit bestimmten Firmenwerten und Kommunikationsarten. Wenn sich alle daranhalten, gibt es nur noch ganz wenige Variablen. Denn anfangs wird man danach beurteilt, wie man sich in dieses System einfügt. Das Beharren auf Individualität und Besonderheit wird höchstens später wertvoll. Und das färbt auf die Persönlichkeit ab. Daher ist dieses Stereotype natürlich gewollt, denn diese Menschen – und meine Protagonisten – werden zum Abziehbild; sie sind lebendige Klischees.

Sie verlieren ihre Individualität und werden oberflächlich in jeder Hinsicht?

Ja, und die Konsequenz ist, dass man nach der Matrix seine Mitmenschen beurteilt. Man betrachtet sie nur noch als Spielfiguren. Für die Beziehung zwischen den beiden oder die Beziehungen, die André überhaupt zu Frauen hat, gehe ich also einen Schritt weiter als die Sozialtheoretikerin Eva Illouz, die sagt, die Romantik werde vereinnahmt vom Kapitalismus. Aber in Poor Dogs ist von Romantik gar nicht mehr die Rede. Denn die kapitalistische Matrix funktioniert nur nach dem Prinzip der Unterwerfung und Macht. Die Romantik ist dann nur noch ein Instrument, das man einsetzt, um etwas zu erreichen.

Wenn wir also Illouz’ Theorie weiterdenken, wäre Romantik nur noch eine instrumentelle Ideologie, um wirtschaftliche Ziele zu verwirklichen?

Ja, und zwar auf einer unternehmerischen und privaten Ebene.

Wenn solche Protagonisten zu kapitalistischen Klischees werden, siehst du dann noch einen Ausweg aus solchen Mechanismen, die indoktriniert werden, sodass sogar am Anfang des Buches Eva, als die in flagranti mit André von dessen Ehefrau erwischt wird, das Problem wie ein Businessgespräch managt?

Wenn man sich so diverse Unternehmensgeschichten ansieht und wie sich da immer wieder Geschichte wiederholt, habe ich da Schwierigkeiten mir einen Ausweg vorzustellen. Denn es wird einfach immer wieder die Verlockung des Geldes geben. Man kann versuchen, sie zu überzeugen, dass sie eines Tages auf der Verliererseite stehen, wenn sie weiter nach solchen Prinzipien handeln oder nicht das Zeug haben, um später an der Spitze anzukommen. Aber, was wir hier moralisch bewerten, sehe ich nicht als wandlungsfähig an, weil die Gier im Menschen (nicht nur in der Unternehmensberatung) extrem stark ist. Das kann keiner leugnen! Die meisten Menschen sind nur nicht dieser Versuchung ausgesetzt.

Individuell abzuwägen, ob es etwas wert ist. Oder Menschen zu überzeugen, von einem solchen System abzulassen, wäre aber auch nur instrumentell. Man braucht dann einen anderen Mehrwert, um etwa Karriere zu machen oder Macht zu bekommen. Alles andere wäre nur romantische Nostalgie, die Gier an sich verurteilt.

Ja, und das sehe ich als unrealistisch an. Wandel entsteht in solchen Bereichen nur, wenn man an einem Tiefpunkt angelangt ist. Dann findet man vielleicht einen anderen Zugang zu Menschen. Aber das aus einem eigenen Impuls zu machen, ist kaum vorstellbar.

Wie Eva hast auch du ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und danach in amerikanischen Unternehmensberatungen gearbeitet. Wie viel Autobiographisches steckt in Poor Dogs?

Ich sage nur: Die Realität übertrifft meistens noch die Vorstellungswelt. Das Buch ist schon an Leben gesättigt. Ich habe diese wirtschaftlichen Bereiche selbst durchwandert. Ich würde mich sowieso als Wanderin betrachten, und ich sauge aus verschiedenen Welten immer alles auf. Mein Vergnügen besteht darin, etwas genau zu beobachten, zu pointieren und dabei die Komik der Tragik zu sehen, das scheinbar Unvereinbare zusammenzubringen, und mir damit auch eine Erleichterung zu verschaffen. Ich schreibe aber vorweg keine Plots. Wenn ich Romane lese wie so manchen Krimi, die Reißbrettgeschichten sind, dann langweilt mich das. Ich verarbeite einfach Dinge, die mich ergreifen, die lebensentscheidend waren, so wie ich in meinem Roman Satans Spielfeld meine sexuellen Gewalterfahrungen und die Vergewaltigung als Kind transformiert und fiktionalisiert habe, so war auch die Zeit in der Unternehmensberatung für mich in all meinen Vorstellungswelten sehr erschütternd.

Ich habe erst an der Uni gearbeitet, und dann komme ich in eine Welt, in der nur noch ums Billing geht, wie im Rausch. Der Businessjargon hatte schon eine Faszination. Ich habe in der Kommunikationsabteilung gearbeitet – und immer mit dem Willen, tatsächlich was zu ändern. Und das Unternehmen hat dir auch das verkauft, indem man bei einem entsprechenden Gewinn etwa einen Literaturfond aufmachen kann. Und das habe ich geglaubt. Aber wenn es nicht so laufen konnte, wie ich es mir erhofft habe, habe ich einen Cut gemacht, den meine Protagonisten so nicht machen. Ich ziehe dann weiter und suche mir ein neues Feld. Vielleicht ist das Gerechtigkeitsstreben oder Idealismus, das ich in jedem Gebiet suche.

Naja, für die Suche nach Gerechtigkeit scheint mir die Unternehmensberatung nicht das beste Feld zu sein.

Das ist einfach meine wahnsinnige Neugierde, die mich dazu bringt. Aber Neugier ist von Gier gar nicht so weit entfernt, und man gerät schnell in so ein Business hinein durch seine Anziehungskraft, Geschwindigkeit, Spannung und Energie. Ich wollte einfach die große weite Welt entdecken. Und geprägt hat mich da so der Punk, die raw power. Es war eine Gipfelstürmersache: umhauen, Zusammenhauen und Neumachen, nach vorne preschen! Das hat eine große Energie, die natürlich schnell mit dem Bösen zusammenhängen kann. Den Raum des Bösen lote ich gerne aus. Und dazu muss ich es kennenlernen – auch, um es zu ändern. Viele aus dem Punk sind dann zu Businesspunks, etwa im Investmentbanking geworden und haben dort die raw power ohne Regeln praktiziert. Das Verbindungsstück aus beidem ist die Energie, die ich meine. Ich meine das aber nicht bewundernswert. Es fasziniert mich. So ist es auch mit der Gewalt. Sie schreckt uns alle ab, aber sie ist auch ein Faszinosum. Wir sind gebannt von ihr, jenseits des Bösen.

Poor Dogs ist ja selbst voyeuristisch. Das Buch hat auch viele innere Monologe. Wir erfahren sehr genau, was André und Eva denken, wünschen und planen. Gleichzeitig zu Gefühlen, wie Liebe, Hass und Anziehung wird eine Handlung der kalten Kalkulation und der Überlebenskämpfe geschildert – also wieder Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Und so wie sich diese Elemente abwechseln, so wechselt auch der Sprachstil. Mal ist dieser anheizend und spannend, mal ist er kalt und sehr zynisch. Würdest du das als grotesk bezeichnen? Und wie schaffst du es, bei so vielen verschiedenen Themen und Stilarten die Waage zu halten?

Die Waage oder das richtige Maß klingt camoufliert bei mir (lacht). Ich bin wirklich kein maßvoller Mensch. Ob es dann grotesk ist, wenn es kein Maß mehr gibt, ist egal. Maß und Mitte reizen mich nicht! Ich will das Maß überschreiten und die verschiedenen Facetten ausloten, wie auch meine eigene Beteiligung am Geschehen, etwa wenn es meinen Idealen widerspricht. Den eigenen Anteil erkennen kann ich nur, wenn ich alles durchleuchte. Das würde ich aber nicht unbedingt als grotesk bezeichnen. Aber aus dem menschlichen Handeln selbst ergeben sich oft bizarre Situationen, und die zeige ich auch im Stil. Das Leben ist nicht monokausal und nicht eingängig. Und mein Stil versucht die Lebendigkeit daran zu zeigen. Dass etwas verstörend wirkt, ist gewollt, denn die Handlung oder die Protagonisten sind verstörend. Vielleicht ertragen das Viele nicht, wenn sie von Angst geprägt sind. Man darf sich aber von seinen Ängsten nicht steuern lassen, sondern muss auf seine Ratio vertrauen und mal ein Risiko eingehen. Wir sind doch handlungsfähig, können transformieren und gestalten. Vielleicht hat mich auch das in die Welt der Unternehmensberatung gerade hineingezogen.


Poor Dogs von Ute Cohen erschein 2020 im Wiener Septime Verlag und hat 240 Seiten.

Beitragsbild: © Sonja Shenouda

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„Ich persönlich schreibe für niemand“ – Ein Gespräch mit dem Dichter Fabian Lenthe

Fabian Lenthe ist Lyriker und lebt in Nürnberg. Innerhalb kürzester Zeit hat er mehrere Lyrikbände veröffentlicht und arbeitet derzeit auch an einem Roman. Seine Gedichte handeln oft von Einsamkeit und Isolation – passen also erstaunlich gut zu den derzeitigen Verhältnissen. Philip hat mit ihm über alte und neue Projekte, über Lyrik generell und die Motivation des Schreibens gesprochen.


Fabian, seit 2018 veröffentlichst du jährlich einen Gedichtband. Dein neuestes Buch Apnoe ist 2020 erschienen, und auch für dieses Jahr wurde schon ein weiterer Titel von dir angekündigt. Andere Lyriker hingegen arbeiten jahrelang an einem Band und verfeinern diesen. Ist deine Arbeit schon eine lyrische Massenproduktion? Und wie arbeitest du, wenn du Gedichte schreibst?

Ich schreibe täglich. Eine gewisse Masse zu produzieren, lässt sich dabei kaum vermeiden. Andere Lyriker schreiben, wie sie schreiben, das geht mich nichts an. Ein Urteil lässt sich sowieso nur über das Ergebnis fällen.

Gedichte zu schreiben ist eine seltsame Angelegenheit. Ich setze mich nicht hin und sage: „Jetzt schreibe ich ein Gedicht!“ Es ist vielmehr so, dass ich womöglich etwas aufmerksamer wahrnehme, was um mich herum und in mir geschieht. Oft ist es nur ein Wort oder ein Gefühl, um welches sich thematisch alles aufbaut, aber das ist immer intuitiv. Einen bestimmten Weg gibt es nicht.

Die Lyrik kommt also von selbst zu dir? Im Grunde täglich?

Ja, das Schreiben ist immer da. Wenn man so will, ein ständiger Begleiter im Hintergrund.

Von Buch zu Buch werden deine Gedichte kürzer und dichter. Begonnen hast du mit längerer Poesie, die zwischen Trauer, Dunkelheit und kleinen alltäglichen Lichtschimmern im prekären Leben oszillieren. Das Ganze wurde schon einseitiger, knapper, melancholischer, aber auch verstörender (in einem poetischen Sinn) in deinem Band Da Draußen. In Apnoe nun sind die Gedichte noch verdichteter und behandeln weniger absurde Schilderungen als vielmehr abstrakte, metaphorisch verarbeitete Gefühle von Trauer, Isolation, Leere und auch Stillstand. Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Was würdest du als deine Stimme in der deutschen Lyrikwelt bezeichnen?

Fabian Lenthes Gedichtsammlung Apnoe

Es lässt sich ganz gut mit dem Meißeln einer Skulptur vergleichen: Erst wenn alles Überflüssige entfernt worden ist, ist man fertig. Wie alle Künstler durchlaufe ich eine Entwicklung. Wenn ich es mit vier Zeilen schaffe, das auszudrücken, was ich möchte, wozu dann mehr schreiben? Man muss auf den Punkt kommen! Alles andere ist Zeitverschwendung!

Ich weiß nicht, ob man von einer Stimme sprechen kann, oder sollte. Alles, was ich zu sagen habe, kann man lesen, der Rest ist uninteressant. Wen interessiert es schon, was man zum Frühstück hatte oder wie oft man aus dem Fenster springen wollte.

Je kürzer dein Gedicht, desto besser ist es also für dich?

Nein, es geht darum, alles Unnötige wegzulassen. Dasselbe gilt auch für die Prosa. Wie dick oder dünn ein Buch ist, wie viele Zeilen ein Gedicht hat, sagt nichts über die Qualität aus. Wenn du vier Zeilen brauchst, brauchst du vier, wenn du hundert brauchst, brauchst du hundert.

Viele deiner Gedichte, laufen immer wieder auf ähnliche, traurige oder düstere Alltagsbetrachtungen hinaus. Gibt es ein bestimmtes Grundthema, von dem dein Werk handelt?

Das Leben, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Nicht mehr, nicht weniger.

Das ist so allgemein, dass die Aussage inhaltsleer wird. Was für ein Leben oder Lebensformen meinst du?

Ich behaupte mal, dass die meisten Menschen auf dieser Erde mehr Zeit damit verbringen zu überleben, anstatt zu leben. Dem Gefühl des täglichen Verzweifelns versuche ich Ausdruck zu verleihen. Am besten so, dass sich jeder darin ein Stück weit wiederfinden kann.

Du veröffentlichst bisher alle deine Bücher bei Rodneys Underground Press, einem kleinen Punk-Verlag für sogenannte Underground-Lyrik. Sind aber deine Gedichte, je herkömmlicher und feinfühliger sie in ihrer Metaphorik und Bildsprache werden, nicht eigentlich schon im Mainstream angekommen? Und wenn ja, was bedeutet das für dein Schaffen?

Ob man in der Lyrikszene von Mainstream sprechen kann, wage ich zu bezweifeln, dazu wird zu wenig gekauft.

Wenn den Leuten gefällt, was ich schreibe, freue ich mich. Wenn sie daraufhin meine Bücher kaufen, freue ich mich noch mehr. Das ist alles.

Ja, Lyrik ist sicherlich kein literarischer Mainstream mehr. Ich meinte auch den „Mainstream“ innerhalb der Lyrik. Aber wo wir beim Thema sind: Warum glaubst du, wird Lyrik so wenig gekauft, aber in den Feuilletons relativ breit rezipiert? Schreiben Lyriker nur noch für ihre Kollegen und die Kritik? Wie ist das bei dir? Für wen schreibst du?

Hier und da fällt es natürlich auf, dass immer wieder dieselben Namen neben Goethe und Rilke in den Buchläden zu finden sind und vom Feuilleton besprochen werden. Auch ist es schade, dass dadurch dem Leser das wahre Spektrum der Gegenwartslyrik völlig verborgen bleibt. Wer nicht wirklich Teil der „Szene” ist oder sie zumindest regelmäßig verfolgt, dem werden einige großartige Dichter und Dichterinnen entgehen. Ich persönlich schreibe für niemanden. Schreiben ist mit das Schrecklichste, was man sich antun kann. Ich rate jedem davon ab. Wenn du es trotzdem nicht lassen kannst: „Willkommen im Club!“

Würdest du sagen, dass deine Texte noch Hoffnung vermitteln?

Das dürfen die Leser selbst entscheiden.

Wie heißt dein neues Projekt, und worum soll es im neuen Lyrikband gehen?

Fabian Lenthes bald erscheinendes acedia

Der neue Band trägt den Namen acedia, die im christlichen Glauben als eine der sieben Todsünden angesehen wird. Übersetzt bedeutet acedia „Sorglosigkeit“, „Nachlässigkeit“ oder „Nichtsmachenwollen“. Eine Haltung, die sich gegen Sorge, Mühe oder Anstrengung wendet und darauf mit Abneigung, Überdruss oder Ekel reagiert. Man könnte durchaus sagen, ich habe einen ganzen Gedichtband dem Nichtstun gewidmet.

Kann das Nichtstun oder Nichtsmachenwollen nicht auch eine Tugend sein, so wie es Vertreter des Rechts auf Faulheit (im Sinne der Muße) oft vertreten?

Ja, durchaus. Paradoxerweise entstehen alle meine Gedichte während ich, zumindest, wenn man mich beobachten würde, nichts tue. Wie schon erwähnt, das Schreiben hört nie auf, es ist immer da.

Das finde ich nicht sehr paradox. Vielen Dank für das Gespräch.


Apnoe von Fabian Lenthe erschien 2020 mit vier Zeichnungen von Michael Blümel bei Rodneys Underground Press und hat 79 Seiten.

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