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Adobe-Quiz mit Katrin(terview) Salentin(view)

Katrin Salentin, die man auf www.katrinsalentin.de (und hoffentlich bald auf masterclass.com unter „Teaches the Art of Analogue and Digital Collage“) findet, meistert mit Bravur ein paar knifflige Fragen zu Photoshop – and then some …


1. Was wäre ein coolerer Name für „Photoshop“?

krēˈādər, CreatorTool, Composer, Frauder, Ersatzteillager, Bildschatz. Für mich ist es mein Vokabelheft, das ich schon mit zahlreichen Vokabeln gespeist habe. Mit jedem Strg+N bilde ich neue Sätze, versuche die (nur) mir bekannte Grammatik zu umschiffen.

2. Was ist von einem Kinderbuch zu halten, das „Leichenfund“ im Titel hat?

Hierbei kann es sich nur um einen Sehfehler handeln. Weil das Buch von anderen Dingbüchern verdeckt wird, ist der Titel nicht in Gänze zu erkennen. Möglichkeiten der vollständigen Titel sind: „[G]leichenfund“, „[B]leichenfund“, „Leichenfund[länder]”. „[G]leichenfund“ ist ein ermüdendes Mathematikbuch für die Unterstufe. Lee/hrstunden über das Lösen von Gleichungen. Für ein Vollbad in guter Vorbildung. Bei „[B]leichenfund“ handelt es sich um einen Geschichtenband, der über das Verschwinden der Sonne narrativiert. Der sich ausbreitende Schatten nimmt das Lachen und die Farbe aus den Gesichtern. Die Entdeckung einer neuen Hunderasse wird in „Leichenfund[länder]” verhandelt. Eine Abenteuerreise, begleitet mit viel Fotomaterial – und Entdeckervideos, abrufbar per QR-Codes.

Und insgeheim macht sich doch der Gedanke breit, keinem Sehfehler zu erliegen. Sondern einer Verweigerung des Erkennens. Grau, rosa, dunkelgrün. Graublau. Viel Unsicherheit, Leichtigkeit. Und ein Rasensprenger. Bilder steigen in mir auf, die ich gerne zu diesem Buch collagieren möchte. Es ist kein Kinderbuch. Es ist die Erinnerung aus der Erwachsenenwelt an eine Kindheit.

3. Welche Photoshop-Funktionen sollte es geben, welche dürfte es geben, welche wird es nie geben?

Niemals sollte es DIE Entertaste geben, die das Bild, das Foto, die Illustration mit einem Klick fertigstellt. Zwar würde das viele Grübelstunden ersparen, viel Digitalpapier, viele Nein-Ordner, die im Papierkorb landen. Aber eben genau das würde fehlen, das un/gute Kribbeln, das Tüfteln, das Lösen(wollen), die Zweifel (die grauen Haare nicht). All das, was das Bildwerden ausmacht. Inmitten von Loslassen, Akzeptieren, Finden, Erkennen.

Es darf die Taste geben, die fertiggestellte Bilder mittels einer Tastenbetätigung oder Tastenkombination automatisch für Dokumentationszwecke auf die Künstlerwebsite stellt und in Social-Media verbreitet – selbstverständlich mit passendem Textstatement und H#shtags.

4. Welche Dinge sollten häufiger aus Wänden kommen?

Nägel, Schrauben, Dübel – dann hängen sich die Bilder von alleine auf. In dem Moment, wenn die Wasserwaage an der Wand liegt und der Bleistift die Markierung setzt, ploppt der Nagel aus der Wand. Jede Wand gibt ihren spezifischen Nagel heraus. Drahtstifte, verzinkt oder aus Eisen, Stahlstifte, rostfreie Messingnägel, Schraubnägel, Ankernägel und Senkkopfschrauben. Ist ein Dübel zwingend nötig, ist auch er dabei. Welch eine Erleichterung.

5. Was sind die 3 wichtigsten Durchbrüche, die Adobe in den letzten zwölf Jahren geglückt sind?

„Lassen Sie den Computer nicht zu viel arbeiten.“ Ein Satz meines Professors vor über 12 Jahren. Lag mir lange Zeit wie eine Vorschrift auf dem Magen. Zwar war es sicherlich nur als ein RatVorschlag gemeint (das Gegenteil von gut ist gut gemeint), hat sich aber eingebrannt und hängt seitdem wie eine unsichtbare Regel an meinem Kopf. So habe ich stets versucht, viele Programmfunktionen zu umgehen. Meine Arbeit gleicht der meditativen Modifikation von Pixelgewebe. Will sagen: ich kenne mich mit Adobe nur unzureichend aus und kann nicht auf die Beantwortung der Frage eingehen. Eine Unterscheidung zwischen: a) „neue Funktion“ und b) „das gibt es schon seit etlichen Jahren“ kann ich nicht vornehmen.

6. Wie punktet man in ekelerregenden Teammeatings?

Tanzend den Raum verlassen.

7. Wenn die menschliche Existenz eine *.psd-Datei wäre, wie viele Ebenen hätte sie?

Bin mir nicht sicher, ob das die richtige Frage ist. Die Frage stellt sich nicht nach der Anzahl der Ebenen. Vielmehr müsste die Frage lauten: Wie sieht die Systematik einer *.psd-Datei aus, die das Überleben einer solchen Datei sichert? Die Ebenen wären wohl bestens organisiert. Jede Ebene, jede Gruppe so in Reih und Glied, dass das Zusammenspiel aufeinander angewiesener Datensätze/Organe reibungslos funktioniert. Eine Schönheit an guter Inszenierung. Und dennoch würde ich durch diese scheinbare innere Ordnung kein Durchkommen finden. Mein eigener Ordnungswille, den ich gerne den Dateien aufzwänge, würde an dieser scheitern. Ver(w)irrt wäre ich, die Datei würde mich ständig austricksen. Ebenen abstrahieren, kopieren, verzerren ___ nicht möglich. Überspeichern, löschen, hinzufügen, ausdrucken … begleitet von Error und Fehlermeldungen.

8. Ist „Mensch“ überhaupt ernst gemeint?

Ist es ernst gemeint, dass wir für jede Seite, die wir im Internet aufrufen, entscheiden müssen, welches Keksrezept wir akzeptieren? HRN] Man*n und Frau sollte sich selbst jedenfalls nicht immer allzu ernst nehmen.

Beitragsbild: © Katrin Salentin

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Freiheitsstatue im Lockdown

„vanderkurth“ – unter diesem Künstlernamen ist das Multitalent Tomas Kurth seit Jahrzehnten in seiner Heimatstadt Stuttgart aktiv. „Bildender Künstler“ ist zu eng gefasst, und selbst „Maler, Bildhauer, Musiker, Fotograf, Bühnenbildner“ beschreibt nur einige seiner vielen Tätigkeiten. Nach hunderten von Gemälden, tausenden von Zeichnungen und einer Unmenge an Radierungen hat vanderkurth sich seit zwei Jahren auf Statuen spezialisiert. Während des Lockdowns 2020 / 2021 schuf er seine „Freiheitsstatue“ und enthüllte sie letzten Sommer. Alexander Tuschinski, Regisseur und Filmemacher, porträtiert den Künstler in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Statue of Liberty“, der sich in den letzten Zügen der Postproduktion befindet.

von Alexander Tuschinski


Tom, bei unserem ersten Treffen beeindruckte mich sofort, dass du seit Jahrzehnten ununterbrochen Kunst erschaffst. Manches verkaufst du, anderes bleibt bei dir. Selbst neben einem „Brotjob“ findest du immer Zeit für eigene Arbeiten. Viele Künstler fangen zwar mit einem ähnlichen Elan an, aber nur wenige halten ihn so lange durch. Woher stammt die Energie für dein kreatives Schaffen?

Gott sei Dank ist das, was ich tue, zurzeit nicht strafbar. Wäre ich ein Triebtäter mit kriminellem Hintergrund, würde die Justiz einen forensischen Psychiater auf mich ansetzen, um die Gründe für mein Treiben zu ergründen. Als Künstler genieße ich einen Freiraum; der Volksmund nennt ihn „Narrenfreiheit“. Das deutsche Grundgesetz hat für Leute wie mich in Artikel 5, Absatz 3 das Kunstrecht festgeschrieben.

Das erklärt, so hoffe ich, dass ich meinen künstlerischen Trieb – und um nichts anderes handelt es sich hier – hemmungslos und ohne Rücksicht auf die eigene Vernunft auslebe, Opfer und Verzicht inklusive. Das Maß der Energie ist genetisch und biologisch bedingt,  dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

Zwischen Kunst und Ukulele – vanderkurth:

Wann wurde dir klar, dass du deine freie Kunst zum Lebensinhalt machen willst? Hattest du auch überlegt, andere Berufe zu ergreifen?

Uuuh je! Klarheit kenne ich nur vom Hörensagen. Ich bin ein vom Leben getriebener. Ich balanciere auf einem schmalen Seil, den Abgrund kann ich mir nicht leisten. Der „Lebensinhalt“ ist das Leben selbst; komme, was da wolle!

Auch der Nebel ist real existent; da muss man durch, will man die Sonne sehen. Klar habe ich mir andere Berufe überlegt. Ich wollte Vorstandsvorsitzender von Mercedes Benz werden – hat leider nicht geklappt.

Viele deiner Werke sind sehr humorvoll, oft gesellschaftskritisch, und praktisch nie in der aktuellen Tagespolitik verhaftet. Wie beschreibst du deinen Stil?

Ja, Humor ist mein zweiter Vorname, der dritte: Wasser. Die real existierende Wirklichkeit, so, wie sie sich mir in den Weg stellt, ist für mich nur mit Humor zu ertragen. Und mit Kritik. Wer einmal gedanklich aus dem, was wir „Bewusstsein“ nennen, auch nur für kurze Zeit ausgestiegen ist, für den gibt es kein Zurück. Die Tagespolitik macht mich fassungslos, da sollen andere ran, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

Natürlich hätte ich gerne, dass man*in einstens sagt: „ah, der VANDERKURTH, war das nicht der, der den Stilismus erfunden hat?“ Doch dazu bin ich nicht eitel genug. Ich male Bilder, erschaffe Plastiken, singe Lieder, schreibe Texte und mache blöde Sachen. Mehr nicht.

Seit Juni ist deine „Statue of Liberty“ enthüllt. Wie fühlst du dich damit, und wie kamst du auf die Idee zu diesem neuen Werk?

Seit drei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Statuenserie „Denkmäler“, die gewöhnliche Menschen auf ein Podest stellt. Als 2020 die Lockdowns begannen, fielen plötzlich viele Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungen und Aufträge weg. Zur gleichen Zeit trennten sich auch noch meine langjährige Frau/ Freundin und ich auf dem Weg zum Traualtar.

Da freundete ich mich erstmal wieder mit mir selbst an und stellte mich auf einen Sockel. Dort stand ich dann eine Weile wie ein Trottel. Das war befreiend.

Aber zurück zu deiner Frage: Das deutsche Wort „Einfall“ beschreibt ganz gut den Vorgang. Ideen kommen meist aus heiterem Himmel und fallen von dort oben direkt in das Gehirn des Künstlers da unten. Und sie sind äußerst flüchtig. Wohl dem, der einen Skizzenblock oder ähnliches zur Hand hat! Und ich hatte ihn griffbereit, als die Freiheitsstatue herunterfiel, deshalb blieb dieser Einfall der Nachwelt erhalten. Möge sie an der Hafeneinfahrt von Stuttgart, gleich ihrer New Yorker Namensvetterin vor hundert Jahren, die ankommenden Migranten ermahnen, dass hier eine große Aufgabe auf sie wartet. Freiheit kann auch anstrengend sein, ist sie doch gleichzeitig mit Verantwortung verbunden. Aber jetzt werde ich schon wieder zu ernst.

Unser Film „Statue of Liberty“ entstand oft ganz spontan. Ich drehte meist auf dem Smartphone und hatte nach jedem Drehtag neue Ideen, wie er weitergehen könnte. Meist setzte ich einfach nur Zeit und Drehort fest. Am Set fielen uns beiden oft komplett neue Dinge ein und wir setzten sie direkt um. Beim Schneiden schuf ich dann daraus Tag für Tag den Film. Wie empfandest du den Dreh?

Mir liegt spontanes Arbeiten sehr. Ich habe schon bei vielen verschiedenen Filmproduktionen mitgewirkt, meist als Setbauer. Dein Dreh war aber anders als alle, bei denen ich bisher war. Es fühlte sich an, als ob wir jeden Tag zusammen ein Gesamtkunstwerk schaffen. Die Kreativität hat „gesprüht“, alles schien möglich, es gab keinerlei äußere Vorgaben. Nicht einmal die Laufzeit war von Anfang an klar. Zuerst schien es ein Kurzfilm zu werden, doch dann wurde er abendfüllend. Du kamst oft auch einfach spontan vorbei. Wir hatten an manchen Tagen gar nicht vor, zu drehen, und dann entstanden trotzdem neue Szenen, meistens die besten!

Am Set hatte das Gefühl, mich entfalten zu können, du nahmst mich künstlerisch auf Augenhöhe ernst. Ich merkte immer wieder, dass du an jedem Tag schnell eine genaue Vorstellung hattest, was du jeweils drehen wolltest – aber du mochtest es dabei trotzdem, immer wieder spontan ganz neue Ideen zu integrieren. Und ich war immer wieder beeindruckt, wie du im Schnitt dann aus unseren lustigen Tagen ein kohärentes Werk geschaffen hast. Oft hatte ich Deine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, das möchte ich als Kompliment verstanden wissen. Der Film ist eins meiner Highlights der letzten Jahre.

vanderkurth mit Alexander Tuschinski beim Dreh (v.r.n.l.):

Deine „Denkmäler“ haben einen eher comichaft-stilisierten Look, den du auch bei der Freiheitsstatue beibehalten hast. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, klar! Da ich endlich berühmt werden will, müssen ich und meine Statuen in einem Look daher kommen, den alle verstehen und lieben. Man kann es auch den größten gemeinsamen Nenner nennen, um einmal mehr zu kalauern. (>siehe Humor weiter oben)

Vor den Denkmälern gab es immer wieder bestimmte Phasen in deinem Schaffen. Wie weit planst du diese im Voraus?

Ich plane nix, ich bin ein von den Phasen Getriebener.

Ouzo, das griechische „Nationalgetränk“, inspirierte deine „Ouzographien“: Hunderte humorvolle Zeichnungen von Ouzogläsern, die über Jahre oft spontan in einer Kneipe entstanden. Darin verdichten sich extrem viele kreative und lustige Ideen auf kleinstem Raum. Ich finde, sie sind eins deiner Hauptwerke. Erzähl bitte darüber.

Ja, auf die bin ich auch sehr stolz, auch wenn die Entstehung für die Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Du hast ihnen in deinem Film den Raum gegeben, den sie verdienen, obwohl ich anfangs nicht so begeistert davon war. Aber als ich von Deinem Hintergrund als Historiker erfuhr, habe ich mich demütig gebeugt und die Dose der Pandora geöffnet. Sie sind nur Zeugnis meiner Zeichentechnik, durchdekliniert an einem einzigen Sujet.

Du arbeitest oft gegenständlich, „figürlich“. Abstrakte Werke finden sich selten in deinem Schaffen. Wie kommt das?

Als ich in den 80ern an der Kunstakademie in Stuttgart studierte, war in der Kunstwelt figürliches Arbeiten verpönt. Die Malerei wurde für tot erklärt. Bildhauern, die figürlich arbeiteten, haftete der Ruch des „Dekorativen“ an. Meine Kollegen, die abstrakt arbeiteten, taten das nur, um hurtig fertig zu werden und schneller wieder in die Kneipe zu kommen. Das war nicht mein Ding, obwohl ich nichts gegen Kneipen habe. (> siehe OUZOGRAFIE)

Du spielst viele Instrumente, gerade hauptsächlich die Ukulele. Schon 1975 hattest du mit „Flick Flack Huckepack“ ein Album produziert. Wie waren deine musikalischen Anfänge? Hattest du als Jugendlicher Musikunterricht?

Ja, aber mein Musiklehrer konnte mich nicht besonders leiden. Meistens musste ich vor der Türe im Gang stehen. Das „Picknick im Neandertal“, so heißt das Opus, war meine Rache. Schön, dass die Musik vierzig Jahre später nun in deinem Film als Soundtrack zu Ehren kommt.

In „Statue of Liberty“ hast du oft sehr lustige Sprüche und Darbietungen improvisiert. Bei Testvorführung haben dich einige Zuschauer mit Bob Ross verglichen, wenn du geduldig in einigen Szenen die Statue mit Putz bestreichst und dabei erzählst. Hast du dich je als Schauspieler versucht?

Nicht wirklich, aber meine Gesangslehrerin hat mir einige Kniffe beigebracht. Eines Tages wollte Sie, dass ich mir eine Figur ausdenke. So kam es, dass ich den „singenden Tankwart“ gebe; so trete ich auch in deinem Film auf. Das Publikum will unterhalten werden und das ist auch OK. Auf Bob Ross bin ich neidisch, der hat mir das Merkantile voraus.

In den 70ern hattest du im Schwarzwald eine Art kreative, alternative Wohngemeinschaft in einem historischen, ehemaligen Gasthof gegründet. Wie lief das ab?

Uh, ja. Die jugendliche Elite zog es damals aufs Land. Wir wollten die Welt retten. Wir waren die Keimzelle der GRÜNEN. Wir bauten unser eigenes Gemüse an und backten unser eigenes Brot aus biologisch-dynamischem Mehl. Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf und sagten: „Die Bauern sind weg, jetzt kommen die Experten!“

Ich bin Einzelkind und meine Jugend war aus verschiedenen Gründen eher problematisch. Da war es sehr wohltuend, eine eigene Wahlfamilie mit Gleichgesinnten zu haben.

Mit meinen Künstlerbiographien möchte ich Menschen inspirieren, selbst ihre Kreativität auszuleben. Was möchtest du Lesern und Zuschauern mitgeben, die gern kreative Projekte erschaffen möchten, aber noch Hemmungen haben?

Es ist beglückend, etwas Sinnvolles getan zu haben, ist ein Werk gelungen. Man sollte sich allerdings keine Illusionen machen. Meist ist es Arbeit, und man muss auch mit dem Scheitern klarkommen. Ich werde oft gefragt: „Ja, kann man*in denn davon leben?“

Da ist hilfreich, man hat einen gutverdienenden Partner oder einen pfiffigen Manager, der einen nicht über den Tisch zieht. Oder man*in ist Bob Ross und ist ein Genie der Selbstvermarktung. Ein Superstar zu werden ist den wenigsten vergönnt. Gelingt es dennoch – umso besser!

Aber nur zu, Mut hat noch keinem geschadet. Hemmung dagegen schon.

Ein Vorschmack auf Alexander Tuschinskis „Statue of Liberty“:

Quelle: YouTube

Mehr über Regisseur und Filmemacher Alexander Tuschinski im Interview von Schauspieler Thomas Goersch.

 

Bilder: © Alexander Tuschinski

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Interliefiew – Im Gespräch mit Thomas Liefhold

Im folgenden Gespräch mit Thomas Liefhold – geboren in 1984, aufgewachsen in Gera, lebend in Mannheim – geht es nicht zuletzt um Cindy Told Him of the Sea, seine 2020 erschienene Sammlung generativer Maschinengedichte. Nagesake hingegen bleibt relativ unerwähnt.


Drei meiner Lieblingsautoren sind Burroughs, Brautigan und Beckett – und deine?

Gerade sind das wahrscheinlich Agnar Mykle, John Fante und Tove Ditlevsen.

Welche Dienstleistungs-App wärst du am liebsten?

Translate von Google.

Drei meiner Lieblingsbands sind Redemption, Jean-Michel Jarre und Carlo Domeniconi – und deine?

Die letzten Titel, die auf meinem Handy liefen, waren von Leighton Craig, Glorious Din und Mary Halvorson.

Wie lange noch bis zum ersten Auto-Complete-Herrn?

Das kommt darauf an, wann ich wieder länger auf Reise gehen kann. Die Gedichtsammlung, die du ansprichst und die ich 2020 unter dem Titel Cindy Told Him of the Sea herausgebracht habe, hatte ja eine solche längere Reise zum Anlass. Ich war sechs Monate unterwegs und habe einfach notiert, was Google Translate an Gedichten fabriziert, sobald die App versucht, thailändische oder vietnamesische Rezensionen ins Englische oder Deutsche zu übersetzen. In den USA, Mexiko und Guatemala gab es da keine Probleme, aber in Südostasien wusste die App phasenweise wirklich nicht mehr weiter. Die Algorithmen sind zumindest heute noch nicht so vollständig fehlerfrei, wie wir manchmal glauben, und das ist irgendwie beruhigend, denn aus den Fehlern der Maschine entsteht manchmal etwas sehr Poetisches. In Vietnam hieß es beispielsweise über ein Restaurant, dort stünden „vier Tassen Licht“ auf der Speisekarte, und über ein Ausflugsziel in der Nähe von Hanoi hatte jemand geschrieben, man sehe „die Berggeister im Nebelmeer spielen“, sobald man ein paar Treppenstufen eines Tempels nach oben gehe oder etwas in diese Richtung. Was derjenige wirklich geschrieben hat, kann ich nicht sagen, aber was Google verstanden haben will, ist klasse. Diese unfreiwilligen Gedichte habe ich festgehalten.

Drei meiner Lieblingsvideospiele sind Super Mario World, Pony Island und Monument Valley – und deine?

Ich habe mit meinem besten Freund aus der Grundschulzeit viele Nachmittage im Zimmer seines Bruders verbracht, um ihm beim Spielen am Sega Mega Drive zuzusehen. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an Streets of Rage 2, was eine Art Prügelspiel war, das man auch zu zweit spielen konnte, aber dazu kam es meist nicht, weil uns der Bruder meines Freundes nur selten an die Konsole ließ. Damals fand ich es unglaublich, dass man als Vierzehnjähriger einen eigenen Fernseher und eine Konsole besitzen konnte. Vor drei Jahren habe ich in Mexiko einige Wochen lang Stardew Valley gespielt, während meine Freundin im Pazifik surfen war. Wir sind am Morgen gemeinsam aufgestanden, die anderen Zimmer im Hostel lagen da noch totenstill, und dann lief Kathrin in Richtung Ozean und ich habe Kaffee gekocht und im Bett meine Farm aufgebaut und erst wieder aufgehört, als Kathrin drei Stunden später völlig erschöpft vom Strand zurückkehrte.

Worum geht es in deinem Blog Das Jahr der Fahnen?

Um dieses Jahr. Ich wusste im Januar, dass mein Roman im Sommer erscheint, ich wusste auch, dass ich einen neuen Job antreten werde oder vielmehr muss. Anfangs habe ich an einen Umzug gedacht und an eine neue Stadt, manchmal sogar an eine längere Reise. Aber das hat sich schnell zerschlagen. Außerdem war mir klar, dass ich dem Schreiben endlich vertrauen muss, weil es anders gar nicht mehr geht, und ich wollte unbedingt festhalten, was in diesem beweglichen Jahr mit mir geschieht, denn dieses Jahr stellt für mich so etwas wie eine Entscheidung dar, und deshalb dachte ich, am Ende macht es womöglich Sinn, über ein entscheidendes Jahr zu schreiben und herauszubekommen, ob es tatsächlich so entscheidend wird, wie man anfangs denkt. Außerdem geht es im Jahr der Fahnen um das kontinuierliche, tägliche Schreiben, auch wenn manchmal ein paar Tage zwischen den einzelnen Einträgen liegen. Ich arbeite jeden Tag etwas und erinnere mich plötzlich wieder an Dinge, die fünfzehn oder zwanzig Jahre lang nicht mehr da gewesen sind, und dann denke ich, irre, dass so etwas möglich ist, dass die Dinge überhaupt wieder auftauchen können, denn dafür gibt es ja weder einen Grund noch eine Garantie. Mittlerweile glaube ich sogar, dass ich im Jahr der Fahnen einen solchen Grund oder Anlass für mich selbst geschaffen habe, einen Anlass für die Rückkehr der Dinge sozusagen, für ein paar bedeutende oder unbedeutende Erinnerungen, für das Auftauchen meiner verlorenen Freunde, an die ich mich nicht mehr oder nur indirekt zu schreiben getraue, für die viele vergeudete Zeit, die ich mir wahrscheinlich immer zum Vorwurf machen werde. Ich versuche noch immer, aus allem herauszukommen, ohne wirklich zu wissen, was ich damit meine, und für dieses Gefühl ist das Jahr der Fahnen am Ende da.

Drei meiner Lieblingsfilme sind Lost Highway, Begotten und Everything Is Terrible – und deine?

Die Feuerpferde von Paradschanow fallen mir ein, Licht im Winter von Bergman und Ariel von Kaurismäki. Aber auch 2001: A Space Odyssey von Kubrick, alles von Tarkowski, Kurosawa und Ozu, Idioten von Lars von Trier. The Act von Killing habe ich in einem komplett leeren Kino in Wien gesehen, als der Film gerade rausgekommen war, und er hat mich damals völlig umgehauen und mitgenommen, so etwas habe ich danach nie wieder erlebt. Leider habe ich von Filmen nur eine oberflächliche Ahnung und zähle mit Sicherheit zum sentimentalen Publikum. Ich finde also alles gut, was ich mit mir selbst in Verbindung bringen kann.

Wie seltsam wird dein erster Roman Gärten in der Wildnis?

Der Roman selbst ist hoffentlich nicht seltsam, aber was mit meinem Erzähler passiert, wahrscheinlich schon. Seltsam ist hier vielleicht sogar eine ganz gute Beschreibung. Der Roman spielt in naher Zukunft, im Sommer 2029, und das Leben von Jakob, meinem Erzähler, gerät nach und nach völlig aus den Fugen. Eigentlich nimmt er dieses Leben überhaupt nicht mehr als Leben wahr, als Möglichkeit und Chance, als etwas Offenes, denn er hat sich komplett vergraben. Er arbeitet als Texter für fiktive Liebesbeziehungen in einer Agentur und liest durch Zufall von einem Schreibkurs. Schreiben, das wollte er immer, ein Buch, das wäre doch was, darin könnte ja der Ausweg aus der Sackgasse liegen, und deshalb macht sich Jakob zu diesem Schreibkurs auf und das wiederum bringt alles ins Rollen.

Er wird Teil einer Gruppe von dilettierenden Außenseitern und lernt einen verbotenen Schriftsteller kennen, ein euphorischer Abschnitt beginnt für ihn, plötzlich scheint das Schreiben real, und Jakob will von vorn anfangen. Das alles passiert vor einem düsteren Hintergrund – im Roman steckt ziemlich viel Dystopie –, denn die Stadt wird von einer Terrorgruppe heimgesucht, deren Agenda unscharf bleibt, patriotische Bürgerwehren sind allgegenwärtig, man hat alle Obdachlosen an die Ränder der Städte verbannt. Zu allem Überfluss bilden sich dort draußen gerade Wüsten, die Tage sind unerträglich heiß, aber dafür haben Jakob und die anderen keinen Blick. Sie halten weiter an der Kunst fest, darin steckt so etwas wie ein Ausdruck von Freiheit. Und genauso geht es auch Ruben, dem Zentrum des Kreises, zu dem alle aufschauen und der in erster Linie ein brutaler Dichter ist, was Jakob unglaublich fasziniert.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ruben ist mit Sicherheit seltsam, wenn man darunter etwas Zwiespältiges und Besonderes versteht. Vor allem Jakob treibt er an, er ist sozusagen für einen Lichtblick in der allgegenwärtigen Wildnis verantwortlich. Ruben will ganz einfach mehr als das, was uns überall angeboten wird, als wäre es genau für uns und nicht für alle anderen gemacht. Und damit zeigt er Jakob einen Weg aus der selbstverschuldeten Monotonie seiner Tage. Wobei nicht ganz klar ist, wie weit Jakob diesem Weg letztendlich folgt.

Drei meiner Lieblingsvokabeln sind „Trumen“, „Raumzeit“ und „safidal“ – und deine?

„Verunsicherung“ und „Sanftmut“, würde ich sagen.

Wofür sind deine Soundscapes am besten geeignet?

Die haben keinen Zweck.

Drei meiner Lieblingsbildkünstler sind Giger, Dalí und Mœbius – und dune?

Ich mag die Landschaften von David Hockney und die Stillleben von Wolfgang Tillmans. Und ich mag Goodiepals Installationen.

Drei meiner Lieblingsästhetiken sind minimalist’sch, rot-schwarz und transmutiert – und deine?

Das überlasse ich anderen.

Was ist der Sinn des Lebens?

Wer hat auf diese Frage eine spruchreife Antwort?

Titelbild: privat

 

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NAHSCHUSS

Nahschuss, Regie: Franziska Stünkel, Kamera: Nikolai von Graevenitz, Bild: Lars Eidinger (Franz Walter)

Inspiriert von der Geschichte Werner Teskes erzählt Franziska Stünkel in ihrem Film NAHSCHUSS auf berührende und eindringliche Weise über die Todesstrafe in der DDR und die Geschichte eines Mannes, der seinen Halt und sein Vertrauen in und durch ein System nach und nach verliert.


Die Premiere des Films NAHSCHUSS findet am 4. Juli beim Filmfest München statt. Der Film thematisiert die Todesstrafe in der DDR – nicht unbedingt ein Thema, das nach Open-Air-Sommer-Popcorn-Kino schreit. Die Regisseurin Franziska Stünkel, die wir am Premierentag über Zoom sprechen, ist dennoch glücklich, ihren Film jetzt endlich auf der großen Leinwand einem Publikum präsentieren zu können:

„Es ist eine große Freude, dass Kino wieder möglich ist. Dass es diesen Raum wieder als kollektives Seh- und Fühlerlebnis gibt, um Themen zu sich zu lassen und in den Diskurs zu gehen.“

Franz Walter (Lars Eidinger) mit seiner Frau Corina (Luise Heyer), © Alamode Film

Werner Teske und die Todesstrafe in der DDR

Auf das Thema ist die in Göttingen geborene Fotokünstlerin und Filmregisseurin eher zufällig gestoßen. Von der Todesstrafe in der DDR hat sie beiläufig, in einem Nebensatz eines Artikels, erfahren. Bei der Recherche ist sie dann auf ein Foto von Werner Teske gestoßen, dem letzten offiziellen Hinrichtungsopfer der DDR. Stünkel wird schnell klar, dass dies das Thema ihres neuen Filmes sein wird. Das Schicksal dieses Menschen interessiert und bewegt sie:

„Das Foto war die Initialzündung. Denn man macht Filme nicht über ein Thema, sondern über Menschen. Und dann bin ich diesem Menschen gefolgt“

Die Geschichte von Franz Walter

Inspiriert vom Schicksal Werner Teskes erzählt Stünkel in NAHSCHUSS die Geschichte von Franz Walter (Lars Eidinger). Frisch promoviert wird Franz eine Professur an der Universität in Aussicht gestellt, eine Position, die manche nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit nicht erreichen. An diese Stelle sind Bedingungen geknüpft. Bevor Franz diese antreten kann, soll er für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit) arbeiten, wie ihm Dirk Hartmann (Devid Striesow) in einer konspirativen Wohnung eröffnet – alles unter strenger Geheimhaltung. Diese Position bringt viele Vorzüge mit sich und Franz genießt sein neues Leben mit Freundin Corina (Luise Heyer). Als die Anforderungen an ihn steigen und die Aufträge nicht mehr mit seinem Gewissen zu vereinbaren sind, ist es zu spät. Franz findet sich in einem System wieder, das ihn und alles kontrolliert und aus dem es kein Entkommen gibt.

Franz Walter (Lars Eidinger), © Alamode Film

Seite an Seite mit Franz

In ruhigen, langen Einstellungen und ganz ohne spezielle Effekte oder leitende Musik, schafft Franziska Stünkel in kürzester Zeit eine enorme Nähe zu Protagonist Franz herzustellen. Als Zuschauer٭in weicht man Franz nicht von der Seite, es gibt keine Szene ohne ihn. Wir sehen, was er sieht und wir erleben, was er erlebt. „Man schaut Franz zu wie ein Gefühl entsteht und eine Entscheidung“, erklärt Stünkel. Und man bleibt weiter bei ihm. Franz‘ persönlicher Entwicklung wird damit viel Zeit und Raum gegeben. Die Entscheidungen werden dadurch nachvollziehbar und es schafft zudem eine Intimität und intensive Beziehung zwischen Publikum und Protagonist.

Die entstandene Empathie für Franz weckt ehrliches Bangen um sein Schicksal. Was den Zuschauer٭innen viel Stärke abverlangt. Man ist erschüttert über die Wendungen, die Franz‘ Leben nimmt, über plötzlich ins Wanken geratenes Vertrauen zu nahestehenden Personen und über Entscheidungen, die sich als Fehler herausstellen. Hätte man nicht gleich gehandelt an Franz‘ Stelle? Franziska Stünkel beschreibt dazu: „Man muss es auch aushalten, einem Menschen lange zuzusehen, seinem Gegenüber. Da spürt man dann erst: die Angst, Ablehnung, Zuneigung oder Unsicherheit.“ All das spüren wir in Franz und in uns.

Das Team: „Lars, Devid und Luise waren große Wunscherfüllungen.“

Für diese rohe und intime Erzählweise braucht man einen fähigen Schauspieler. In Lars Eidinger hat Franziska Stünkel einen solchen gefunden: „Mir lag es sehr am Herzen, für den Franz diesen Menschen und Schauspieler zu finden, der diese Radikalität und Authentizität vermag herzustellen, da war Lars Eidinger der absolute Wunsch von mir.“

Stünkel war es wichtig, mit Schauspieler٭innen zu arbeiten, denen bewusst war, worum es in der Geschichte im Eigentlichen geht. Auch war es ihr wichtig, an Originalschauplätzen zu drehen. Sie betont: „Ich glaube sehr an die Kraft von Orten.“ Hier waren die Schauspieler٭innen und das Team hinter der Kamera eine Einheit, wofür Stünkel sehr dankbar ist. Dort konnten sie, wie Franziska Stünkel sagt, „eine Konzentration erzeugen, in der wir die Räume auch wahrnehmen konnten, sodass Lars, Devid und Luise in ihren Rollen dort einfach waren.“

So endgültig Franz Walters Schicksal im Film ist, so unausgesprochen bleibt vieles. Ganz bewusst, wie Stünkel sagt, denn der „Film möchte auch Fragen stellen dürfen.“ Er wirft viele Fragen auf: historische, politische und persönliche. NAHSCHUSS ist:

„… die Geschichte von Franz. Und dieser Film erzählt die Todesstrafe in der DDR. Mir geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen und einen Diskurs aufzutun.“

Alle Zitate: Franziska Stünkel

Das ist ihr unserer Meinung nach gelungen. Wir möchten an dieser Stelle Franziska Stünkel ganz herzlich für das schöne, aufschlussreiche Gespräch danken und allen Leser٭innen sehr ans Herz legen, NAHSCHUSS im Kino anzusehen. Der deutschlandweite Kinostart ist am 12. August 2021.

Regie & Drehbuch: Franziska Stünkel

Kamera: Nikolai von Gravenitz

Montage: Andrea Mertens

Musik: Sebastian Karim Elias

Szenenbild: Anke Osterloh

Vor der Kamera: Lars Eidinger, Luise Heyer, Devid Striesow, Paula Kalenberg, Moritz Jahn, Peter Lohmeyer u. v. m.

Wut, Sex, Tod, Erwartungen und Humor. Jovana Reisinger im Interview

Jovana Reisinger hat einen neuen Roman veröffentlicht. Und unter vielen Gesichtspunkten ist dieser ganz anders geworden als ihr Debüt „Still halten“ von 2017. Dennoch haben beide Texte eine gemeinsame Wucht und prügeln auf Rollenbilder und ihre Protagonist٭innen ein. Erneut ist ihr ein intensiver Roman gelungen, der gleichzeitig erdrückt, dabei aber nicht vergisst, kurzweilig zu sein und zu unterhalten. Warum aber hat sie ihn „Spitzenreiterinnen“ genannt? Und wieso heißen die Frauen darin wie Zeitschriften? Welche Rolle spielen Männer? Worum geht es überhaupt? Gute Fragen, noch bessere Antworten.

Spoiler-Hinweis: am besten erst den Roman lesen, dann das Interview.

Worum geht es in „Spitzenreiterinnen“?

Es geht um Frauen, die nach Frauenzeitschriften benannt sind. Und um Rollenzuschreibungen, Klischees und Stereotype. Auch behandelt er Gewalt – in jeglicher Hinsicht –, Diskriminierungserfahrungen, Sexismus und neoliberale Leistungsversprechen. Jetzt hab ich viele Schlagwörter rausgeballert.

Wie bist du darauf gekommen, die Protagonistinnen nach Frauenzeitschriften zu benennen?

So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich finde das Medium Frauenzeitschrift sehr spannend, weil es einen großen Raum einnimmt. Nicht unbedingt in meinem Leben, aber generell verfügen sie über Reichweite, Macht und Geschichte.

Für Männer gibt es weniger Magazine, an denen man sich als Teenager orientieren kann. Widersprich mir gern, aber ich glaube nicht, dass man in der gleichen Form in Magazinen Hilfe suchte. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, was in meiner Jugend zum Thema Sex in diesen Magazinen stand: Hier sind die fünf Supertipps, mit den Stellungen wird er wahnsinnig nach dir, so wirst du zur Blowjob-Queen. Es ging darum, den Mann zu befriedigen und überhaupt nicht darum, für sich ein Frausein zu erkennen und zu entwickeln. Es ging immer um die Frage: Was muss ich machen, damit man mich akzeptiert und anerkennt?

Ich fand spannend, mich Jahre später wieder mit diesen Zeitschriften auseinanderzusetzen und da entstand die Idee, einen Ensemble-Roman zu schreiben – mit gleichberechtigten Charakteren und Protagonistinnen. Der nächste Schritt war dann einfach, diese nach den Magazinen zu benennen, und sich gleichzeitig auf die Themen zu stürzen, die darin behandelt werden. Beauty, Fashion, Sex. Laura und Lisa haben ja zum Beispiel immer ganz viele Tipps und Tricks in ihren Kapiteln.

„Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind.“

Jovana Reisinger

Es ging also darum, die Rollenmodelle der Zeitschriften zu hinterfragen?

Nicht nur die der Zeitschriften. Der Gesellschaft. Aber ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich sie mit diesen Namen besetze. In meinem ersten Roman, du hast ihn ja gelesen, hat die Protagonistin keine charakterisierenden Beschreibungen. Man weiß nicht wirklich, wie alt sie ist usw. Das ist hier wieder so: Ganz selten kommt ein Alter vor, stattdessen Beschreibungen wie: „Sie ist Rentnerin und Witwe.“ Das verankert sie natürlich irgendwo, aber es wird nie beschrieben, wie sie aussehen, sondern sie sind alle irgendwie da.

Nirgends steht, was für Haarfarben, Haarstrukturen, Hautfarben oder Körpergrößen sie haben. Ich glaube trotzdem, wenn man dann aber die Frauenzeitschriften vor Augen hat und an die Frauen denkt, die einen von den Covern aus anlächeln, hat man eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnten. Ich hab mich gefragt, was das mit den Leser٭innen macht? Stellt man sie sich jetzt alle weiß, blond und blauäugig vor? Zu den Magazinen würde es passen. Aber vielleicht reflektiert man beim Lesen diesen Rückgriff und stellt sie sich dann ganz anders vor.

Für einen Capriccio-Beitrag hatte die Redakteurin alle Frauenzeitschriften gekauft, die im Buch vorkommen, und auf jedem Cover war eine weiße, dürre, blonde Frau mit blauen Augen. Die einzige Woman of Color war auf der Vogue.

Besonders kritisch stehen die Hauptfiguren ihren Rollen ja gar nicht gegenüber, oder?

Nein, die haben ja auch gar keine Zeit. Sie ackern und versuchen, ihr Leben hinzukriegen.

Kann es sein, dass sie alle vorgezeichnete Wege ausprobieren, dabei aber Schwierigkeiten haben, glücklich zu werden?

Ja, auch. Besonders die zwei Freundinnen Verena und Laura glauben, dass es einen vorgezeichneten Weg gibt, ein Frauen-Game, in dem man bestimmte Etappen gewinnen muss: guter Job, Macker, Ehe, Vermögen. Mit denen konnte ich natürlich gut den Konkurrenzkampf aufzeigen, der manchmal zwischen Frauen herrscht. 

Laura lädt ein Foto von ihrem Ringfinger bei Instagram hoch. Die Likes prasseln darauf wie ein Unwetter. Verena aktualisiert ihr Tinder-Profil.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Was würdest du sagen, wer von beiden den Wettkampf entscheidet?

Das kommt auf die Perspektive an. Ich hätte lieber die Villa, die Verena erbt, als Lauras Typen.

Es ist schon generell in dem Roman so, dass Figuren von Todesfällen eher profitieren als daran zu zerbrechen, oder?

Findest du? Ja, vielleicht hast du recht, es sterben einige. Und ich meine, für Barbara ist es auch super, dass ihr Mann stirbt und auch, dass weitere Personen sterben. So kommt sie ja auch an ihren Hund.

 

Findest du eigentlich selbst manchmal, dass deine Texte ein bisschen zynisch sind?

Zynisch find ich besser als ironisch. Das möchte ich nämlich auf gar keinen Fall sein. Ironie in der Kunst ist ein billiges Mittel.  Aber wenn man ein Kunstwerk herausgibt, hat man ja schon selbst gar keine Macht mehr über die Rezeption. Das Buch ist draußen, wenn jemand sagt, es ist ironisch, dann ist es für diese Person so. Für mich ist es am Ende aber wirklich eher zynisch. Und es ist auf jeden Fall gemein und boshaft. Aber so ist es halt auch.

 

Du meinst, das Leben ist auch so?

Ja. Als der Text noch im Entstehen war, ist mich eine Förderreferentin harsch angegangen. Sie hat gesagt, so einen Text braucht man nicht, der sei zu rough, das sei nicht der Feminismus, den wir jetzt benötigen. Was wir bräuchten, sei ein Happy End. Ich hab ihr gesagt, es gibt für uns jetzt auch kein Happy End. Ich geh hier ja jetzt nicht raus und bekomm ein Happy End serviert. 

Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus.“

Jovana Reisinger

Trotzdem suchen deine Protagonistinnen ja nach Happy Ends. In der Einleitung zum Beispiel steht der Satz: „Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen, dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens.“ – Warum schreibst du sowas?

Für Laura, genauso für Verena, ist der Höhepunkt ihres Lebens, sich einen guten Macker zu angeln. Wie eben im klassischen Rollenverständnis. Die sichere Ehe als ein Ideal. Aber dass die Ehe auch in jeglicher Form total unsicher sein kann, ob Gewalt, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Scheidung, spielt in der klassischen Theorie überhaupt keine Rolle. Als wäre Ehefrau und Mutter die einzige Bestimmung.

Am Samstag vor zwei Wochen gab es in München eine Demo mit Abtreibungsgegner٭innen, die zum Teil Schilder mit Slogans wie: „Mutter werden, mehr Frau sein geht nicht“ trugen. Klare Rollenbilder. Ich bin in einer Bubble, in der man glaubt, sowas findet nicht mehr statt und hat keine Realität mehr. Aber da standen 900 Leute, die das Gegenteil behauptet haben. 

In deinem Buch kommt ja auch eine Demo vor.

Ja, die klassische 8.-März-Demo. Mit wütenden Männern, die etwas sagen wie „Frauen sind doch schon überall an der Macht. Jetzt wollen sie auch noch Gratis-Tampons – wie unfair.“

Was glaubst du, warum auch in der Realität viele Menschen unterschreiben würden, dass eine Hochzeit der Höhepunkt weiblichen Lebens ist?

Das kann ich nicht sagen, ich bin ja keine Soziologin. Aber wenn das für die so ist, ist das ja auch toll. Im Feminismus muss es wichtig sein, dass dies freie Entscheidungen sind. Genauso wie zum Beispiel sexuelle Identitätspolitik. Dazu gehören auch Schwangerschaftsabbrüche. Wenn ich heirate, ist es auch meine Entscheidung. Auch, ob ich den Namen annehme. Trotzdem muss man meiner Meinung nach diese Rollen und was mit ihnen einhergeht, zumindest einmal durchdenken. Warum macht man es, warum kommt es so selbstverständlich daher? Warum wird es nicht hinterfragt – auch persönlich? Warum denkt man, etwas ist das Ziel? Und das Ziel von was überhaupt? Genauso ist es für mich beim Thema Schönheit: Ist doch egal, ob eine Frau sich die Brüste machen lässt oder nicht. Wenn sie’s machen will, ist alles gut.

Stimmt. In dem Roman gibt es immer wieder losgelöste Absätze Themen wie „Solidarität unter Frauen“, „weibliche Lust“, „Karrierefrauen“, „Haare“. Was hat es damit auf sich?

Das sind Sonderkapitel. Eine Figur, die es jetzt am Ende im Buch nicht mehr gibt, trug immer Powersuits. Es gab bei ihr einen längeren Abschnitt, in dem ich mich mit Hosenanzügen und dem Styling fürs Büro beschäftigt habe. Ich hab dann nach längerer Zeit festgestellt, dass die Figur für den Roman keinen Sinn macht, aber ich hing so an diesem Abschnitt. So entstand die Idee für diese Sonderkapitel, die auf jeden Fall inspiriert von diesen Frauen-Zeitschriften sind. 

Einiges, Haare und Haut, kommt ja direkt aus dem Beauty-Bereich, genau wie die Karrierefrau mit ihren Modetipps. Ich hatte hier das Gefühl, ich kann nochmal eine andere Sprache anwenden – fast wie für ein neutrales Medium, ein Nachschlagewerk. Aber es bietet natürlich auch die Möglichkeit, auf Gemeinheiten hinzuweisen wie den realen Fall, dass eine Frau entlassen wurde, weil sie zu sexy war. Dass das Gericht ihrem Chef recht gegeben und geurteilt hat, das sei gefährlich für seine Ehe und dass er diese Frau entlassen dürfe, ist doch spektakulär. Ich mochte, dass die Sonderkapitel so überraschend daherkommen, weil sie nicht im Inhaltsverzeichnis stehen.

Im ersten Sonderkapitel schreibst du, warum Frauen sich nicht als „Mädels” bezeichnen sollten. Dazu gab es bei postmondän auch schonmal einen Text. Warum sollten sie das aus deiner Sicht nicht tun?

Ich persönlich hasse es einfach, als „Mädels“ bezeichnet zu werden. Wenn ich mit einer Gruppe Frauen zusammen bin und wir sind die „Mädels“, die einen Mädelsabend machen, ist mir das viel zu niedlich, zu lieblich und harmlos. Was soll das? Und Jungs treffen sich dann zum Jungsabend? Sind wir jetzt alle wieder Kids? Es gab eine Zeit, in der ganz viele Produkte im Supermarkt so gebrandet wurden. Auf Prosecco-Flaschen stand dann in Rosa „Für den Mädelsabend“.

Und wieso heißt der Roman eigentlich „Spitzenreiterinnen“?

Die Idee hatte ich auch beim Konzipieren, was eine zweijährige Phase war: Ich glaube, ich habe eine Werbung gehört mit einem Solgan wie „Die Spitzenreiter der Charts“  oder „Spitzenreiter im Sport“. Mir ist dabei aufgefallen, erstens, was für ein tolles, klanghaftes Wort das ist, und zweitens, dass es aber weder „Spitzenreiter٭innen“ noch „Spitzenreiterinnen“ gibt. 

Ich hab mich erinnert, dass ich als Kind, wenn nachts Dauerwerbesendungen zur Schlager-Compilations im Fernsehen liefen, immer schon faszinierend fand, dass es diesen rein männlichen Begriff gibt. Das ist ja ein toller Superlativ, aber man benutzt ihn eigentlich auch nie, außer eben im Sport.

Neulich erzählte mir eine Buchhändlerin, dass bei ihr mein Buch jeden Tag gekauft wird, immer von Männern, und sie sich das Buch ganz lang nicht genauer angeschaut hat, weil sie dachte, das wär ein Buch über Sport oder antifeministischer Scheiß. Sie hat es sich dann irgendwann mal durchgelesen, und mich dann auch gleich zum Signieren eingeladen. Eine wahnsinnig lustige Frau. Spitzenreiterinnen – ein Sport-Roman.

Wäre eigentlich auch ein guter Name für Frauenzeitschriften, oder?

Ja, er klingt dann aber gleich wieder so nach Executive Chick, nach Managerinnen …

Ja stimmt, nach „Powerfrauen“. Das ist ja auch so eine ähnliche Kategorie wie der Begriff „Mädels“, oder?

Richtig schwierig. „Starke Frauen“ ist genau so eine Hass-Kategorie von mir wie „Mädels“.

„Power, also Macht, wird durch Powersuits, Powerfarben und Powerhandtaschen demonstriert. Mode als Power-Tool.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Anderes Thema: Dein Debütroman „Still halten“ hat sich ja stark mit der Innenperspektive einer Figur beschäftigt, die an ihrer Umwelt zerbricht. „Spitzenreiterinnen“ konzentriert sich eher auf Außenperspektiven, auf Frauen in ihren Umfeldern. Was ist dir beim Schreiben leichter gefallen?

Der Schreibstil bei „Still halten“ war auch deswegen anders, weil ich versucht habe, über Form und Sprache dem Inhalt eine andere Ebene zu geben, und die Leser٭innen genau so verrückt zu machen wie die Protagonistin, sie in den Wahnsinn zu treiben. Das hat die Erzählerin zu einer unzuverlässigen Begleiterin gemacht. Bei Spitzenreiterinnen ist es leser٭innenfreundlicher. Es gibt ja immer diese kurzen Episoden, alles ist sehr beschreibend, immer mit einer Draufsicht. Auch dadurch, dass es hin und wieder diese kommentierende Erzählerin gibt, hat es eine ganz andere Perspektive. 

Ich würde aber sagen, dass sich rein sprachlich nicht so viel verändert hat, weil beide Sprachen relativ hart sind – das ist zumindest mein Anspruch –, gnadenlos und schonungslos. Was leichter zu schreiben ist, kann ich nicht beantworten, denn in beiden Büchern steckt viel Vorbereitung und eine lange Schreibzeit. In „Still halten“ nochmal wesentlich mehr, zwei Jahre länger, aber die Form, die „Spitzenreiterinnen“ jetzt angenommen hat, entspricht der Sprache, die ich jetzt gerade schreiben möchte.

Bei „Still halten“ gab es ja auch interessante Figuren, zum Beispiel den Förster: ein konservativer Gegenpart zur Protagonistin. Ich hatte das Gefühl, dass du ihm im Roman, trotz seines verschrobenen Verhaltens und Denkens, immer noch viel Liebe entgegenbringst. Kann es sein, dass dir diese Liebe in den Beschreibungen von Männern bei „Spitzenreiterinnen“ abhanden gekommen ist?

Das würde ich jetzt nicht sagen. Lisa hat ja am Ende einen Super Date mit einem Supertypen. Es kommen auch coole, nette, anständige, aufgeklärte Männer vor, die haben aber nicht so viel Platz. Deswegen werden sie auch ein bisschen überlesen.

Männer haben im Roman aber keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben.

Genau. Die Männer sind durch ihre Taten sowieso präsent genug. Dadurch, dass ich mich auf die Gemeinheiten im Leben von Frauen gestürzt habe, Sexismus, häusliche Gewalt, brauchten diese Männer dann auch gewisse antagonistische Kräfte, und nicht noch mehr Identifikationsmöglichkeit.

Dementsprechend haben die keine richtigen Namen. Wonach hätte ich sie denn auch benennen sollen. Wenn ich meiner dramaturgischen Entscheidung treu bleibe, wonach alle Frauen nach Frauenzeitschriften benannt sind, wie soll ich denn die Männer benennen? Ich kann sie ja nicht „Beef“, „GQ“ und „11 Freunde“  nennen.

Komisch eigentlich, dass Männer-Lifestyle-Magazine nicht auch wie Männernamen heißen, oder?

Genau, die sind eher so nach Dingen benannt. „Beef“ sagt ganz klar, dass „Männer“ anders essen. Ich weiß nicht, was das soll. Und der Planet geht mit dem Fleischkonsum zugrunde. Aber egal. Hier ist dein Steak. In einer Rezension wurde mir vorgeworfen, ich hätte mich als Männerhasserin geoutet – der schlimmsten Form des Feminismus. Ich möchte hiermit sagen, ich bin keine Männerhasserin. Ich versteh auch nicht, wie man das herauslesen kann, aber es ist schon in Ordnung. Ich hab das Gefühl, es geht halt einfach eher um die Frauen. Und es darf auch einfach mal nur um die Frauen gehen. Und die Männer sind einfach Nebendarsteller. Ist doch auch okay.

In vielen Büchern ist es ja andersherum.

Eben, ist doch die ganze Zeit andersherum.

Männer können sich in deinem Roman relativ viel erlauben, kommen bspw. mit häuslicher Gewalt ungestraft davon. Die Frauen haben aber bei kleinsten Abweichungen mit starkem Widerstand zu kämpfen. Wie viel Wut steckt in diesen Beschreibungen?

Wut ist definitiv ein Motor für mich ist. Nicht der einzige, aber ein sehr starker. Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind. Ich denke dann jeweils weiter, was passen würde. Bei häuslicher Gewalt zum Beispiel: Es ist extrem kompliziert, aus so einer Beziehung wieder herauszukommen. Und es ist unfassbar anstrengend, vor allem wenn Kinder oder wirtschaftliche Abhängigkeiten im Spiel sind. 

Wie mit Tina umgegangen wird, ist für viele Frauen Realität. Dementsprechend war es mir auch so wichtig, ihr Hadern zu erzählen. Ganz oft sind Erzählungen so: „Er hat mich einmal geschlagen und dann bin ich gegangen. Ich geh als starke Frau heraus und mir kann sowas nie passieren.“  Klar, so etwas gibt es auch und es ist super, wenn das klappt. Aber wenn Abhängigkeiten geschaffen und festgezurrt sind, ist es viel schwieriger, wieder herauszukommen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, diesen Mann zu verlassen und zu verraten. In ihren Augen ist sie ja auch so schon schuldig. Sie sagt, eigentlich müsste sie sterben, weil sie so eine schlechte Mama ist. Weder hat sie geschafft, ihre Kinder zu retten, noch ihre Ehe. Es ist wahnsinnig kompliziert, aus solchen Beziehungen herauszukommen. 

Ich wollte ihr Handeln weder bewerten oder verurteilen, sondern den einzelnen Storys Raum bieten, um nachvollziehbar zu machen, wie kompliziert und anstrengend das ist – alleine, zu so einer Beratungsstelle zu gehen und immer wieder diese Geschichte zu erzählen. Man wird immer wieder fotografiert, wenn man nach solchen Übergriffen zum Arzt geht. Die Fotos landen dann in einer Akte. Selbst wenn man schon mehrfach der Polizei gesagt hat, dass der Ex-Freund oder Ex-Mann oder wer auch immer einen attackiert, und ihm ein Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, kann er ja trotzdem lauern und dich attackieren. 

Alles ist wahnsinnig anstrengend und kompliziert. Gleichzeitig ist es intensiv für weibliche Opfer häuslicher Gewalt – natürlich auch männliche, auch wenn das ein viel kleinerer Teil ist. Beratungsstellen sind unterbesetzt, man wird ins Frauenhaus gebracht. Warum überhaupt? Wieso wird das Opfer irgendwo hingebracht und nicht der Täter mitgenommen?

Du versuchst also eigentlich schon, etwas einfach so abzubilden, wie es ist?

Ich versuche die Wut in etwas anderes zu transportieren. Das versuche ich in meinen filmischen Arbeiten genauso. Eigentlich ist meine Herangehensweise Humor und Überstilisierung, also Übertreibung. Bei der Szene mit Lisa, in der im Restaurant Austern herumfliegen, wäre ich gern dabei gewesen. Ich find’s auch super, Barbara zu sehen, die auf ihrer Terrasse sitzt und sich so gerne fürchten möchte, weil nichts passiert und ihr so langweilig ist. 

Ihr Mann ist tot, sie ist Rentnerin, sie weiß nicht, was sie machen soll. Als Katalysator sucht sie sich die Angst aus und plötzlich kommt ein Hund dahergelaufen. Und zur Wut: Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus. Jetzt zum Beispiel bin ich total friedlich. Ich bin gar nicht mehr wütend.

Was würdest du sagen, welche deiner Protagonistinnen am glücklichsten ist?

Das weiß ich nicht. Ich hoffe, am Ende sind sie alle glücklich. Nach welchen Parametern soll man Glück auch bemessen? Ich versuche sie ja eben nicht zu bewerten. Manche Lebensentscheidungen treffen eher auf meine Identität zu, aber ich find’s auch völlig okay, wenn sie andere Entscheidungen treffen.

Du hast dich beim Schreiben aber ja in alle hineinversetzt.

Ja, und ich liebe sie. Es hat Spaß gemacht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber ich würde sagen, am Ende sind alle glücklich. Nur bei Tina ist es in bisschen gemein, mit dem offenen Ende. Aber Petra und Brigitte sind madly in love. Das ist doch mega schön. Jolie hat sich für ein Kind entschieden, das sie allein großziehen will. Verena hat eine geile Hütte. Barbara ist im Urlaub, bekommt ihren toten Mann endlich aus ihrem Kopf heraus. Er spricht nicht mehr mit ihr, was ja bestimmt auch ein bisschen anstrengend war. Lisa hat einen neuen Lover und einen geilen Job. Und sie lernt ihre neue Mitarbeiterin kennen, die auch irgendwie cool ist. Laura ist aufgeräumt, hat genau bekommen, was sie wollte. Ich würde unterm Strich sagen, Happy End für alle.

Letzte Frage: Mit wem von ihnen würdest du gerne tauschen?

Ich glaub, ich könnte mir vorstellen, mal in jede hineinzuschlüpfen. Selbst in Tina, die auch einfach eine absurde Stärke hat. Aber ganz tauschen, weiß ich nicht. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben. Guck mal, ich bin in einer totalen Luxusposition, sitze zu Hause und bekomme Interviewfragen gestellt. Ich liebe es.

Das ist ja auch was. Vielen Dank für das Interview.


„Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger erschien im Verbrecher Verlag, dem wir an dieser Stelle herzlich zum 25. Geburtstag gratulieren. Der Roman hat 264 Seiten.

„Den Raum des Bösen lote ich gerne aus“

Ute Cohen ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt in Berlin. In ihrem neuen Roman „Poor Dogs“ nimmt sie die Welt der Unternehmensberatung und wie Menschen beginnen, alle Beziehungen nach einem ökonomischen Nutzenkalkül zu beurteilen, in den Blick. Philip hat mit ihr über das Buch, über Liebe, Grausamkeit und Kapitalismus geredet.


Ute, dein Roman Poor Dogs spielt in der Welt der transnationalen Unternehmensberatung. Er handelt davon, wie die beiden Protagonisten André und Eva in ihrer Liebesbeziehung immer mehr den Boden unter den Füßen verlieren und die Grenzen zwischen Wirtschaftlichem und Intimen verschwimmen. Was ist in diesem Kontext ein „Poor Dog“?

Das ist ein Begriff, der aus der Portfolio-Theorie von Boston Consulting stammt. Das ist eine Matrix, in der es um Marktwachstum und die Entwicklungsmöglichkeiten von Unternehmen geht, also wie man diese einzuordnen hat. Und die „Poor Dogs“ sind die, die in diesem Portfolio am Schlechtesten dastehen, den geringsten Marktanteil und die geringste Aussicht auf Marktwachstum haben. Wenn aber auch Menschen so beurteilt werden, ist das äußerst bedenklich, etwa, wenn du diese Matrix deinen ganzen Freundes- und Bekanntenkreis überstülpst. Und ich hielt es für eine gute Idee, danach einen Roman zu konzipieren, weil ich tatsächlich in meiner beruflichen Laufbahn Menschen erlebt habe, die so in ihrem ganzen Leben vorgehen und alles nur nach dem Nützlichkeitsaspekt machen und eigentlich in dieser Matrix gefangen sind, dass sie nur noch ihr entsprechend handeln.

Ein solcher Mensch wird also ein reiner Homo Oeconomicus, der alle sozialen Beziehungen nur als Humanressource sieht?

Ja, genauso ist das.

Wer im Roman auf jeden Fall so vorgeht, ist André. Denn in deinem Roman mischen sich immer wieder die Motive wie Liebe, Erotik, Sexismus mit kalter wirtschaftlicher Kalkulation – aber alle werden nach denselben Kriterien von den Protagonisten behandelt: ökonomisch. Besonders André fällt mir da auf. Er sieht Frauen als austauschbare Sexobjekte, die er sich zum Spaß, Dekor, zur Lust oder Rentabilität hält. Das ist ein verlängerter, libidinöser Arm seines skrupellosen ökonomischen Handelns. Aber wirken dabei er und Eva, die zwischen ihren Hormonen, ihrer Selbstständigkeit und ihrer Arbeit bei McCrowley hin- und hergerissen ist, nicht oft allzu stereotyp?

Es entsteht einfach eine Konformität mit den Anforderungen einer Unternehmensberatung. Man ist einem System mit bestimmten Firmenwerten und Kommunikationsarten. Wenn sich alle daranhalten, gibt es nur noch ganz wenige Variablen. Denn anfangs wird man danach beurteilt, wie man sich in dieses System einfügt. Das Beharren auf Individualität und Besonderheit wird höchstens später wertvoll. Und das färbt auf die Persönlichkeit ab. Daher ist dieses Stereotype natürlich gewollt, denn diese Menschen – und meine Protagonisten – werden zum Abziehbild; sie sind lebendige Klischees.

Sie verlieren ihre Individualität und werden oberflächlich in jeder Hinsicht?

Ja, und die Konsequenz ist, dass man nach der Matrix seine Mitmenschen beurteilt. Man betrachtet sie nur noch als Spielfiguren. Für die Beziehung zwischen den beiden oder die Beziehungen, die André überhaupt zu Frauen hat, gehe ich also einen Schritt weiter als die Sozialtheoretikerin Eva Illouz, die sagt, die Romantik werde vereinnahmt vom Kapitalismus. Aber in Poor Dogs ist von Romantik gar nicht mehr die Rede. Denn die kapitalistische Matrix funktioniert nur nach dem Prinzip der Unterwerfung und Macht. Die Romantik ist dann nur noch ein Instrument, das man einsetzt, um etwas zu erreichen.

Wenn wir also Illouz’ Theorie weiterdenken, wäre Romantik nur noch eine instrumentelle Ideologie, um wirtschaftliche Ziele zu verwirklichen?

Ja, und zwar auf einer unternehmerischen und privaten Ebene.

Wenn solche Protagonisten zu kapitalistischen Klischees werden, siehst du dann noch einen Ausweg aus solchen Mechanismen, die indoktriniert werden, sodass sogar am Anfang des Buches Eva, als die in flagranti mit André von dessen Ehefrau erwischt wird, das Problem wie ein Businessgespräch managt?

Wenn man sich so diverse Unternehmensgeschichten ansieht und wie sich da immer wieder Geschichte wiederholt, habe ich da Schwierigkeiten mir einen Ausweg vorzustellen. Denn es wird einfach immer wieder die Verlockung des Geldes geben. Man kann versuchen, sie zu überzeugen, dass sie eines Tages auf der Verliererseite stehen, wenn sie weiter nach solchen Prinzipien handeln oder nicht das Zeug haben, um später an der Spitze anzukommen. Aber, was wir hier moralisch bewerten, sehe ich nicht als wandlungsfähig an, weil die Gier im Menschen (nicht nur in der Unternehmensberatung) extrem stark ist. Das kann keiner leugnen! Die meisten Menschen sind nur nicht dieser Versuchung ausgesetzt.

Individuell abzuwägen, ob es etwas wert ist. Oder Menschen zu überzeugen, von einem solchen System abzulassen, wäre aber auch nur instrumentell. Man braucht dann einen anderen Mehrwert, um etwa Karriere zu machen oder Macht zu bekommen. Alles andere wäre nur romantische Nostalgie, die Gier an sich verurteilt.

Ja, und das sehe ich als unrealistisch an. Wandel entsteht in solchen Bereichen nur, wenn man an einem Tiefpunkt angelangt ist. Dann findet man vielleicht einen anderen Zugang zu Menschen. Aber das aus einem eigenen Impuls zu machen, ist kaum vorstellbar.

Wie Eva hast auch du ein geisteswissenschaftliches Studium absolviert und danach in amerikanischen Unternehmensberatungen gearbeitet. Wie viel Autobiographisches steckt in Poor Dogs?

Ich sage nur: Die Realität übertrifft meistens noch die Vorstellungswelt. Das Buch ist schon an Leben gesättigt. Ich habe diese wirtschaftlichen Bereiche selbst durchwandert. Ich würde mich sowieso als Wanderin betrachten, und ich sauge aus verschiedenen Welten immer alles auf. Mein Vergnügen besteht darin, etwas genau zu beobachten, zu pointieren und dabei die Komik der Tragik zu sehen, das scheinbar Unvereinbare zusammenzubringen, und mir damit auch eine Erleichterung zu verschaffen. Ich schreibe aber vorweg keine Plots. Wenn ich Romane lese wie so manchen Krimi, die Reißbrettgeschichten sind, dann langweilt mich das. Ich verarbeite einfach Dinge, die mich ergreifen, die lebensentscheidend waren, so wie ich in meinem Roman Satans Spielfeld meine sexuellen Gewalterfahrungen und die Vergewaltigung als Kind transformiert und fiktionalisiert habe, so war auch die Zeit in der Unternehmensberatung für mich in all meinen Vorstellungswelten sehr erschütternd.

Ich habe erst an der Uni gearbeitet, und dann komme ich in eine Welt, in der nur noch ums Billing geht, wie im Rausch. Der Businessjargon hatte schon eine Faszination. Ich habe in der Kommunikationsabteilung gearbeitet – und immer mit dem Willen, tatsächlich was zu ändern. Und das Unternehmen hat dir auch das verkauft, indem man bei einem entsprechenden Gewinn etwa einen Literaturfond aufmachen kann. Und das habe ich geglaubt. Aber wenn es nicht so laufen konnte, wie ich es mir erhofft habe, habe ich einen Cut gemacht, den meine Protagonisten so nicht machen. Ich ziehe dann weiter und suche mir ein neues Feld. Vielleicht ist das Gerechtigkeitsstreben oder Idealismus, das ich in jedem Gebiet suche.

Naja, für die Suche nach Gerechtigkeit scheint mir die Unternehmensberatung nicht das beste Feld zu sein.

Das ist einfach meine wahnsinnige Neugierde, die mich dazu bringt. Aber Neugier ist von Gier gar nicht so weit entfernt, und man gerät schnell in so ein Business hinein durch seine Anziehungskraft, Geschwindigkeit, Spannung und Energie. Ich wollte einfach die große weite Welt entdecken. Und geprägt hat mich da so der Punk, die raw power. Es war eine Gipfelstürmersache: umhauen, Zusammenhauen und Neumachen, nach vorne preschen! Das hat eine große Energie, die natürlich schnell mit dem Bösen zusammenhängen kann. Den Raum des Bösen lote ich gerne aus. Und dazu muss ich es kennenlernen – auch, um es zu ändern. Viele aus dem Punk sind dann zu Businesspunks, etwa im Investmentbanking geworden und haben dort die raw power ohne Regeln praktiziert. Das Verbindungsstück aus beidem ist die Energie, die ich meine. Ich meine das aber nicht bewundernswert. Es fasziniert mich. So ist es auch mit der Gewalt. Sie schreckt uns alle ab, aber sie ist auch ein Faszinosum. Wir sind gebannt von ihr, jenseits des Bösen.

Poor Dogs ist ja selbst voyeuristisch. Das Buch hat auch viele innere Monologe. Wir erfahren sehr genau, was André und Eva denken, wünschen und planen. Gleichzeitig zu Gefühlen, wie Liebe, Hass und Anziehung wird eine Handlung der kalten Kalkulation und der Überlebenskämpfe geschildert – also wieder Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Und so wie sich diese Elemente abwechseln, so wechselt auch der Sprachstil. Mal ist dieser anheizend und spannend, mal ist er kalt und sehr zynisch. Würdest du das als grotesk bezeichnen? Und wie schaffst du es, bei so vielen verschiedenen Themen und Stilarten die Waage zu halten?

Die Waage oder das richtige Maß klingt camoufliert bei mir (lacht). Ich bin wirklich kein maßvoller Mensch. Ob es dann grotesk ist, wenn es kein Maß mehr gibt, ist egal. Maß und Mitte reizen mich nicht! Ich will das Maß überschreiten und die verschiedenen Facetten ausloten, wie auch meine eigene Beteiligung am Geschehen, etwa wenn es meinen Idealen widerspricht. Den eigenen Anteil erkennen kann ich nur, wenn ich alles durchleuchte. Das würde ich aber nicht unbedingt als grotesk bezeichnen. Aber aus dem menschlichen Handeln selbst ergeben sich oft bizarre Situationen, und die zeige ich auch im Stil. Das Leben ist nicht monokausal und nicht eingängig. Und mein Stil versucht die Lebendigkeit daran zu zeigen. Dass etwas verstörend wirkt, ist gewollt, denn die Handlung oder die Protagonisten sind verstörend. Vielleicht ertragen das Viele nicht, wenn sie von Angst geprägt sind. Man darf sich aber von seinen Ängsten nicht steuern lassen, sondern muss auf seine Ratio vertrauen und mal ein Risiko eingehen. Wir sind doch handlungsfähig, können transformieren und gestalten. Vielleicht hat mich auch das in die Welt der Unternehmensberatung gerade hineingezogen.


Poor Dogs von Ute Cohen erschein 2020 im Wiener Septime Verlag und hat 240 Seiten.

Beitragsbild: © Sonja Shenouda

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„Ich persönlich schreibe für niemand“ – Ein Gespräch mit dem Dichter Fabian Lenthe

Fabian Lenthe ist Lyriker und lebt in Nürnberg. Innerhalb kürzester Zeit hat er mehrere Lyrikbände veröffentlicht und arbeitet derzeit auch an einem Roman. Seine Gedichte handeln oft von Einsamkeit und Isolation – passen also erstaunlich gut zu den derzeitigen Verhältnissen. Philip hat mit ihm über alte und neue Projekte, über Lyrik generell und die Motivation des Schreibens gesprochen.


Fabian, seit 2018 veröffentlichst du jährlich einen Gedichtband. Dein neuestes Buch Apnoe ist 2020 erschienen, und auch für dieses Jahr wurde schon ein weiterer Titel von dir angekündigt. Andere Lyriker hingegen arbeiten jahrelang an einem Band und verfeinern diesen. Ist deine Arbeit schon eine lyrische Massenproduktion? Und wie arbeitest du, wenn du Gedichte schreibst?

Ich schreibe täglich. Eine gewisse Masse zu produzieren, lässt sich dabei kaum vermeiden. Andere Lyriker schreiben, wie sie schreiben, das geht mich nichts an. Ein Urteil lässt sich sowieso nur über das Ergebnis fällen.

Gedichte zu schreiben ist eine seltsame Angelegenheit. Ich setze mich nicht hin und sage: „Jetzt schreibe ich ein Gedicht!“ Es ist vielmehr so, dass ich womöglich etwas aufmerksamer wahrnehme, was um mich herum und in mir geschieht. Oft ist es nur ein Wort oder ein Gefühl, um welches sich thematisch alles aufbaut, aber das ist immer intuitiv. Einen bestimmten Weg gibt es nicht.

Die Lyrik kommt also von selbst zu dir? Im Grunde täglich?

Ja, das Schreiben ist immer da. Wenn man so will, ein ständiger Begleiter im Hintergrund.

Von Buch zu Buch werden deine Gedichte kürzer und dichter. Begonnen hast du mit längerer Poesie, die zwischen Trauer, Dunkelheit und kleinen alltäglichen Lichtschimmern im prekären Leben oszillieren. Das Ganze wurde schon einseitiger, knapper, melancholischer, aber auch verstörender (in einem poetischen Sinn) in deinem Band Da Draußen. In Apnoe nun sind die Gedichte noch verdichteter und behandeln weniger absurde Schilderungen als vielmehr abstrakte, metaphorisch verarbeitete Gefühle von Trauer, Isolation, Leere und auch Stillstand. Wie kommt es zu dieser Entwicklung? Was würdest du als deine Stimme in der deutschen Lyrikwelt bezeichnen?

Fabian Lenthes Gedichtsammlung Apnoe

Es lässt sich ganz gut mit dem Meißeln einer Skulptur vergleichen: Erst wenn alles Überflüssige entfernt worden ist, ist man fertig. Wie alle Künstler durchlaufe ich eine Entwicklung. Wenn ich es mit vier Zeilen schaffe, das auszudrücken, was ich möchte, wozu dann mehr schreiben? Man muss auf den Punkt kommen! Alles andere ist Zeitverschwendung!

Ich weiß nicht, ob man von einer Stimme sprechen kann, oder sollte. Alles, was ich zu sagen habe, kann man lesen, der Rest ist uninteressant. Wen interessiert es schon, was man zum Frühstück hatte oder wie oft man aus dem Fenster springen wollte.

Je kürzer dein Gedicht, desto besser ist es also für dich?

Nein, es geht darum, alles Unnötige wegzulassen. Dasselbe gilt auch für die Prosa. Wie dick oder dünn ein Buch ist, wie viele Zeilen ein Gedicht hat, sagt nichts über die Qualität aus. Wenn du vier Zeilen brauchst, brauchst du vier, wenn du hundert brauchst, brauchst du hundert.

Viele deiner Gedichte, laufen immer wieder auf ähnliche, traurige oder düstere Alltagsbetrachtungen hinaus. Gibt es ein bestimmtes Grundthema, von dem dein Werk handelt?

Das Leben, mit all seinen Vor- und Nachteilen. Nicht mehr, nicht weniger.

Das ist so allgemein, dass die Aussage inhaltsleer wird. Was für ein Leben oder Lebensformen meinst du?

Ich behaupte mal, dass die meisten Menschen auf dieser Erde mehr Zeit damit verbringen zu überleben, anstatt zu leben. Dem Gefühl des täglichen Verzweifelns versuche ich Ausdruck zu verleihen. Am besten so, dass sich jeder darin ein Stück weit wiederfinden kann.

Du veröffentlichst bisher alle deine Bücher bei Rodneys Underground Press, einem kleinen Punk-Verlag für sogenannte Underground-Lyrik. Sind aber deine Gedichte, je herkömmlicher und feinfühliger sie in ihrer Metaphorik und Bildsprache werden, nicht eigentlich schon im Mainstream angekommen? Und wenn ja, was bedeutet das für dein Schaffen?

Ob man in der Lyrikszene von Mainstream sprechen kann, wage ich zu bezweifeln, dazu wird zu wenig gekauft.

Wenn den Leuten gefällt, was ich schreibe, freue ich mich. Wenn sie daraufhin meine Bücher kaufen, freue ich mich noch mehr. Das ist alles.

Ja, Lyrik ist sicherlich kein literarischer Mainstream mehr. Ich meinte auch den „Mainstream“ innerhalb der Lyrik. Aber wo wir beim Thema sind: Warum glaubst du, wird Lyrik so wenig gekauft, aber in den Feuilletons relativ breit rezipiert? Schreiben Lyriker nur noch für ihre Kollegen und die Kritik? Wie ist das bei dir? Für wen schreibst du?

Hier und da fällt es natürlich auf, dass immer wieder dieselben Namen neben Goethe und Rilke in den Buchläden zu finden sind und vom Feuilleton besprochen werden. Auch ist es schade, dass dadurch dem Leser das wahre Spektrum der Gegenwartslyrik völlig verborgen bleibt. Wer nicht wirklich Teil der „Szene” ist oder sie zumindest regelmäßig verfolgt, dem werden einige großartige Dichter und Dichterinnen entgehen. Ich persönlich schreibe für niemanden. Schreiben ist mit das Schrecklichste, was man sich antun kann. Ich rate jedem davon ab. Wenn du es trotzdem nicht lassen kannst: „Willkommen im Club!“

Würdest du sagen, dass deine Texte noch Hoffnung vermitteln?

Das dürfen die Leser selbst entscheiden.

Wie heißt dein neues Projekt, und worum soll es im neuen Lyrikband gehen?

Fabian Lenthes bald erscheinendes acedia

Der neue Band trägt den Namen acedia, die im christlichen Glauben als eine der sieben Todsünden angesehen wird. Übersetzt bedeutet acedia „Sorglosigkeit“, „Nachlässigkeit“ oder „Nichtsmachenwollen“. Eine Haltung, die sich gegen Sorge, Mühe oder Anstrengung wendet und darauf mit Abneigung, Überdruss oder Ekel reagiert. Man könnte durchaus sagen, ich habe einen ganzen Gedichtband dem Nichtstun gewidmet.

Kann das Nichtstun oder Nichtsmachenwollen nicht auch eine Tugend sein, so wie es Vertreter des Rechts auf Faulheit (im Sinne der Muße) oft vertreten?

Ja, durchaus. Paradoxerweise entstehen alle meine Gedichte während ich, zumindest, wenn man mich beobachten würde, nichts tue. Wie schon erwähnt, das Schreiben hört nie auf, es ist immer da.

Das finde ich nicht sehr paradox. Vielen Dank für das Gespräch.


Apnoe von Fabian Lenthe erschien 2020 mit vier Zeichnungen von Michael Blümel bei Rodneys Underground Press und hat 79 Seiten.

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Amanda Gorman – der wahre Star der Inauguration

Die 22-jährige Lyrikerin, Schriftstellerin und Aktivistin Amanda Gorman war die jüngste Inaugural-Poetin, die je bei einer Präsidenteneinführung in den USA aufgetreten ist. Mit ihrem lebhaft vorgetragenen, optimistischen und hoffnungsvollen Gedicht „The Hill We Climb“ wurde die junge Harvard-Absolventin zum Star der Inauguration, von der Presse gleichermaßen gelobt und gefeiert wie von den Sozialen Medien und bekannten Persönlichkeiten wie Oprah Winfrey, Michelle Obama oder Hillary Clinton.


Die Gepflogenheit, einen Dichter oder eine Dichterin bei der Amtseinführung des Präsidenten auftreten zu lassen, kann in den USA auf eine Tradition zurückblicken, wobei bislang nur Präsidenten der Demokratischen Partei Poeten engagiert haben. Die Ehre, als „Inaugural Poet“ ausgewählt zu werden, wurde vor Gorman fünf weiteren Dichterinnen und Dichtern zuteil.

Der erste unter ihnen war 1961 Pulitzer-Preisträger und Nationaldichter David Frost, der bei der Inauguration von John F. Kennedy eigentlich das eigens geschriebene „Dedication“ vortragen wollte, aber dann, weil er wegen der blendenden Sonne auf dem Kapitol nichts sah, sein älteres Gedicht „The Gift Outright” vortrug“ welches er auswendig konnte. Weitere Inaugural-Dichterinnen und -Dichter traten bei den jeweils zwei Amtseinführungen Bill Clintons (Maya Angelou, 1993; Miller Williams, 1997) und Barack Obamas (Elizabeth Alexander, 2009; Richard Blanco, 2013) auf.

Die Tradition der Herrscherdichtung lässt sich im Grunde bis in die Antike zurückverfolgen, als Dichter für Fürsten und Kaiser Nationaldichtung anfertigten, wie etwa Vergils „Aeneis“, das bedeutendste Epos der Römer, in welchem nicht nur die Größe des römischen Reiches gefeiert wird, sondern auch Augustus’ Ankunft vorweggenommen wird.

Wenn man solche Traditionslinien im Auge hat, lässt es sich besser verstehen, dass die Gattung der Inauguralgedichte in den USA klassischerweise nationale Themen wie den Ursprung Amerikas, die Größe, die Weite und den Ruhm der Nation und Visionen wie Zusammenhalt, Vielfalt und Einheit bearbeitet. Das Gedicht bei der Amtseinführung darf durchaus politisch sein, es darf auch heikle Themen anschneiden, sollte dem Land letztlich aber Hoffnung, Optimismus und eine Identität geben.

Frost, der erste Inauguraldichter, thematisierte in seinem Beitrag „The Gift Outright“ 1961 das amerikanische Land und die Eroberung Amerikas, was aus heutiger Sicht durchaus als kolonialistisch ausgelegt werden kann. Bei den Inauguralpoeten neueren Datums ging es weniger staatstragend zu, obwohl natürlich dennoch die amerikanische Seele gestreichelt wurde: Elizabeth Alexander trug bei Obamas erster Amtseinführung 2009 mit „Praise Song for the Day“ ein Gedicht über den amerikanischen Alltag vor, der das Land zusammenhält, das aber auch von Hoffnung („I know there’s something better down the road“), dem ewigen Kampf und der Sklavenhalter-Vergangenheit handelte. Richard Blanco rezitierte 2013 mit „One Today“ ein Inauguralpoem über die Weite des amerikanischen Landes und die Vielfalt der Landschaft und der Menschen, die alle verbunden sind.

Amanda Gorman schließt an diese Tradition an, interpretiert sie aber auch neu, indem sie aktuelle gesellschaftliche Themen in ihr Gedicht „The Hill We Climb“ einflicht, zum Beispiel den Sturm auf das Kapitol, die Gefährdung der Demokratie und die Gespaltenheit der amerikanischen Nation. Mit den Vorgängern Elizabeth Alexander und Richard Blanco hat sich Gorman offensichtlich im Vorfeld der Inauguration abgesprochen. Eine besondere Referenz ist für sie aber die afroamerikanische Dichterin Maya Angelou, was sich allein schon daran erkennen lässt, dass Gorman während der Amtseinführung einen Ring trug, der aus einem in einen Käfig eingesperrten Vogel bestand – eine Hommage an Angelous Werk „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ (1969).

Angelou war 1993 die erste schwarze Frau, die als Inauguralpoetin engagiert wurde; ihr theatralischer Vortrag von „On the Pulse of Morning“ im Jahr 1993 blieb im Gedächtnis und wurde mit Auftritten von schwarzen Ikonen und Bürgerrechtsaktivisten wie Martin Luther King und Malcom X verglichen. Auch Amanda Gorman konnte durch die lebendige Vortragsweise und die gelungene mimische, gestische und stimmliche Inszenierung überzeugen, die den Inhalt unterstrichen hat.

Doch worum ging es genau in ihrem Gedicht „The Hill We Climb“? Den Text hat Amanda Gorman kurz nach dem Angriff aufs Kapitol zu Ende geschrieben, und dies ist ihm auch anzumerken: Die Nation wird bei Gorman angesichts der Gegenwart nicht glorreich überhöht, sie wird aber auch nicht als „broken“, kaputt, abgeschrieben, wie es manche Kommentatoren und Journalisten diagnostizieren würden. Stattdessen ist die USA für Gorman „simply unfinished“, hat also noch das Potenzial sich zu verbessern. Über sich selbst spricht das lyrische Ich als ein dünnes „Black girl / descended from slaves and raised by a single mother“, welches den Traum hegt, eine schwarze Präsidentin zu werden, und gerade vor einem Präsidenten ein Gedicht vorträgt.

Amanda Gormans „The Hill We Climb“ benennt die Sollbruchstellen der amerikanischen Gesellschaft, die Kluft, die die Gesellschaft spaltet, die Unterschiede, die in den Trump-Jahren in Untiefen geratene Demokratie. Sie greift die Tradition des Inauguralpoems insofern auf, als sie dem Negativen die sehr amerikanische Vision von Hoffnung, Einheit, besserer Zukunft und Optimismus entgegenstellt – eine Vision, die auch Joe Biden in seiner 20-minütigen Rede zu vermitteln versuchte. Die Dichterin unterstützt damit den Politiker, es handelt sich auf eine gewisse Weise um gattungstypische Nationaldichtung:

We are striving to forge a union with purpose
To compose a country committed to all cultures, colors, characters and
conditions of man
(…)
We close the divide because we know, to put our future first,
we must first put our differences aside
We lay down our arms
so we can reach out our arms
to one another

The Hill We Climb

Gorman beschwört etwas pathetisch die „Ära gerechter Wiedergutmachung“, der Versöhnung und des Wiederaufbaus und den „Stolz“ des amerikanischen Volkes, sie möchte ein neues Kapitel aufschlagen und in die Zukunft blicken, nachdem eine Katastrophe überwunden ist. Trump und seine Anhänger werden so als einmaliger Ausrutscher der amerikanischen Geschichte offenbar nur wenige Tage nach dem Abtritt des Ex-Präsidenten ad acta gelegt. Ob der rein patriotische Blick nach vorn der richtige Weg ist, die Dämonen der amerikanischen Demokratie zu beseitigen, die immer noch als Trump-Supporter, Verschwörungstheoretiker, Proud Boys und Rechtsextreme die Gesellschaft spalten?

Wie mehrere Inauguralpoeten vor ihr evoziert Amanda Gorman den Topos des amerikanischen Landes und der darin lebenden Vorfahren. Es wird in bildhafter Sprache die Weite Amerikas beschrieben, die von den goldbeschienenen Hügeln des Westens über den windgepeitschten Norden, die Städte des Mittleren Westens bis hin zum sonnenbeschienenen Süden reicht. Auch eine weitere zentrale Referenz Amerikas, die Bibel, wird von Gorman zitiert. Vor allem die letzten, aufgrund ihrer Assonanzen, Anaphern und Wiederholungen besonders eingängigen Verse des Gedichtes mit ihrem Aufruf zu Mut, Erneuerung und Veränderung werden wohl in der Öffentlichkeit in Erinnerung bleiben:

When day comes we step out of the shade,
aflame and unafraid
The new dawn blooms as we free it
For there is always light,
if only we’re brave enough to see it
If only we’re brave enough to be it

The Hill We Climb

Durch die Berufung der jungen Dichterin und Harvard-Absolventin in Soziologie, die mit 16 zur „Youth Poet Laureate“ ihrer Heimatstadt Los Angeles gewählt wurde und später zur ersten „National Poet Youth Laureate“ ernannt wurde, wollte der 78-jährige und weiße Präsident Joe Biden eindeutig eine Botschaft an die jüngeren sowie die diversen Teile der amerikanischen Gesellschaft wie People of Color, Latinos und Migrantinnen und Migranten senden, um ihnen zu zeigen, dass sie von seiner Regierung anerkannt und gehört werden. Denn Biden selbst steht für einen Teil der amerikanischen Gesellschaft, der Privilegien besitzt, über die viele andere nicht verfügen.

Dass Biden es nicht nur bei reiner Symbolik belässt, hat sich an seinem ersten Tag im Amt gezeigt: Binnen weniger Stunden nach Amtsantritt unterzeichnete er 17 Erlasse, die Teile der Politik seines Amtsvorgängers Donald Trump zurücknehmen. So ist die USA in das Pariser Klimaabkommen und die WHO zurückgekehrt. Außerdem wurde der sogenannte „Muslim Ban“ abgeschafft, der Einreisebeschränkungen für Menschen aus mehreren mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern vorschrieb. Durch eine weitere Verfügung Bidens wird fortan die Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität untersagt, was Trump im Namen der Religionsfreiheit erlaubt hatte.

Von Amanda Gorman ist übrigens bisher kaum etwas veröffentlicht: 2015 ist der Gedichtband „The One for Whom Food Is Not Enough“ erschienen, der allerdings vergriffen ist. Im September 2021 wird ein neuer Lyrikband mit dem Titel „The Hill We Climb“ publiziert. Außerdem wird 2021 das Kinderbuch „Change Sings: A Children’s Anthem“ mit Illustrationen von Loren Long erscheinen, in welchem Kindern die Möglichkeit von Veränderung nahegebracht werden soll. Beide Bücher stehen durch die öffentliche Aufmerksamkeit infolge ihres Auftritts inzwischen auf der Amazon-Bestseller-Liste.

Amanda Gormans Auftritt in Washington am 20. Januar 2021:

Zum Nachlesen gibt es das Gedicht in voller Länge hier. Und hier in deutscher Übersetzung.

Titelbild: Wikimedia Commons

Was nehmen wir mit von 2020? Eine postmondäne Leseliste

Auch wir konnten 2021 kaum erwarten. Trotzdem möchten wir noch einen vorsichtigen Blick zurück auf 2020 wagen und haben uns gefragt, welche Bücher uns in jenem merkwürdigen Jahr beschäftigt haben. Insgesamt fällt die Liste – mit Ausnahmen – etwas weniger bedrückend aus als in den letzten Jahren (also 2016, 2017, 2018 und 2019) und während des Lockdowns (Teil eins und zwei). Dabei lassen die Themen das gar nicht vermuten. Immerhin behandeln die Bücher den Untergang Roms, eine Höllenreise, Einsamkeit, den Brexit, unsichtbare Fäden (gleich zweimal), Eingesperrtsein, Unterdrückung und – das darf nicht fehlen – Endzeit. Also los, ein letzter Blick zurück.


von Dominik Gerwens, Stefan Weigand, Katharina van Dülmen, Franziska Friemann, Florian Birnmeyer, Lukas Lehning und Gregor van Dülmen

 

210 problems, but the plague ain’t one

Dominik über Fatum von Kyle Harper

Ist die Rolle von Pandemien beim Untergang des Römischen Reichs bislang vernachlässigt worden?

Das zurückliegende Jahr möchten die allermeisten von uns wohl am ehesten mit einem gehörigen Tritt in den Allerwertesten verabschieden. Und mag sich der Mensch auch vor dem Hintergrund von aktuellen Krisen auch gerne in der Geschichte spiegeln, so braucht wohl wirklich niemand noch den gefühlt 100-sten Artikel, der eine Analogie zwischen Coronazeiten und der Spanischen Grippe herstellt. Warum also trotzdem ein Buch zur Seuchengeschichte auf diese Leseliste setzen?

Zum einen sind groß angelegte Geschichtsstudien gerade angesagt. Das zeigt nicht zuletzt die jüngste Graphic Novel-Adaption zu Yuval Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Zum anderen ist Kyle Harper mit seiner Darstellung der seuchen- und klimageschichtlichen Gründe, die das Römische Reich auch zum Einsturz brachten, ein großer Wurf und zugleich spannend erzählter Geschichtsthriller gelungen.

Zwar ist das Imperium Romanum bestimmt nicht allein durch Klimaveränderungen und Pandemien in den Untergang gerissen worden – Althistoriker Alexander Demandt hat einmal 210 mögliche Gründe aufgelistet –, die Rolle von Umweltfaktoren indes ist bislang nie so umfassend ausgeleuchtet worden wie bei Harper, der seine Klimathese anschaulich vorträgt und umfangreich belegt, welchen Einfluss das Klima auf Aufstieg und wirtschaftliche Prosperität des Weltreiches hatten. Brillant aber ist insbesondere die Darstellung der Seuchengeschichte des Römischen Reichs, die etwa am Beispiel der Justinianischen Pest den engen Zusammenhang zwischen gefährlichen Krankheitserregern, überregionalen Handelswegen und Urbanisierung ausleuchtet. Hier liegt der große Wert des Buches, das die Leser*innen mit der Erkenntnis zurücklässt, dass COVID-19 bei Weitem nicht die erste Erkrankung ist, die Zivilisationen in ihren Grundfesten erschüttert. Auch fragt man sich, ob es weiterhin sinnvoll ist, von „Naturkatastrophen“ in Bezug auf die großen Menschheitspandemien zu sprechen, an deren Entstehung und Verbreitung die Menschheit anscheinend immer maßgeblich beteiligt gewesen ist.

„Eine schon frühzeitig globale Welt, in der die Rache der Natur spürbar zu werden beginnt, auch wenn man glaubt, die Kontrolle zu besitzen … Das kommt einem vielleicht gar nicht so fremd vor“, resümiert Harper in seinem Epilog und es schaudert einen beinah aufgrund des prophetischen Gehalts dieses im Original bereits 2017 erschienenen Buches.

Fatum von Kyle Harper erschien 2020 im Verlag C.H. Beck.


Wenn Gletscher weinen

Stefan über Der Anhalter von Gerwin van der Werf

Vielleicht ist es ja so, dass die Gletscher gar nicht tauen – sondern weinen. Träne für Träne tropft vor sich hin, aus Mitgefühl oder – noch schlimmer– aus Mitleid. Genau das möchte man der Hauptfigur in »Der Anhalter« von Gerwin van der Werf wünschen. Tiddo, ein Mann in der Mitte seines Lebens bricht mit seiner Familie nach Island auf. Im Gepäck hat er mehr Midlife-Crisis und Beziehungsprobleme, als ihm lieb sind. Eine „Traumreise“, so das Vorhaben. Beeindruckende Weiten genießen, mit dem Wohnmobil die Landschaft durchpflügen und die Stille der Insel aufsaugen. Doch noch bevor er sich mit seiner Frau und dem Sohn darauf einlassen kann, ist der Traum schon zerplatzt: Der junge Isländer Svein, den sie als unscheinbaren Anhalter aufgabeln, nistet sich ein – und geht nicht mehr. Auf einmal reduziert sich die Weite der Landschaft auf Kammerspielgröße. Der Roadtrip wird zur Höllenreise, die Tektonik der Beziehungen sorgt für Beben. Heimlich, still und heftig.

Der Anhalter erschien 2020 bei S. Fischer.

© Stefan Weigand

Katharina über Irgendwann wird es gut von Joey Goebel

Anthony liebt die schöne Nachrichtensprecherin Olivia mit dem geheimnisvollen Mund. Er spricht mit ihr – jeden Abend, während sie auf Channel Seven das Tagesgeschehen zusammenfasst. Und er schreibt ihr Briefe. Viele Briefe. Aber nun ist er wild entschlossen, sie persönlich kennenzulernen.

Carly hat ein Ritual. Sie legt ihre Stirn gegen die Toilettentür und sagt: „Dir geht’s jetzt gut. Dir geht’s jetzt gut.“ Und nachmittags im Trödelmarkt ihrer Eltern geht es ihr auch meistens gut. Zwischen den älteren Dingen und älteren Menschen. Hier kann sie Gedanken und Zwischenfälle „ordnen“, „verschließen“, „beiseiteräumen“. All das Getuschel und die blöden Bemerkungen in der Schule. Hier gelingt ihr ein Neustart in den Tag – meistens.

Winston hingegen hat bereits vor drei Jahren „der Welt den Rücken gekehrt“. Seitdem verlässt er sein zugemülltes Haus nicht mehr. Warum auch? Anders als andere Menschen hat er schließlich keine Angst vorm Alleinsein. Doch dann passiert das Unmögliche: Er verliebt sich in die traurige Frau, die jeden Tag an seinem Fenster vorbeigeht.

Und es geschieht noch etwas, was wahrscheinlich niemand für möglich gehalten hätte: Eine Frau – Ende 20, erfolgreich, schön, von vielen Menschen verehrt – versucht, sich das Leben zu nehmen.

Anthony, Carly und Winston haben einiges gemeinsam: Sie alle leben in der trostlosen Kleinstadt Moberly, Kentucky. Sie alle sind auf ihre Art verloren. Und sie alle sind Protagonisten*innen in Joey Goebels neuestem Buch. Nach vier erfolgreichen Romanen (Freaks, Vincent, Heartland, Ich gegen Osborne) widmet er ihnen und weiteren Figuren Geschichten in seinem ersten Erzählband Irgendwann wird es gut. Der Band beinhaltet zehn Kurzgeschichten, die zwar unabhängig voneinander stehen, aber bei genauem Lesen ineinander verwoben sind. Zärtlich erzählt, tief gezeichnet, berührend beschrieben, aber aber auch witzig beobachtet. Doch niemals macht sich der Autor lustig über seine Figuren. Denn er möchte eines klarstellen: Sie alle haben ihre Marotten (Wer nicht?). Aber auch ihre Geschichte. Und sie alle haben das Recht auf ein bisschen mehr Glück und ein bisschen weniger Einsamkeit. Und dafür kämpfen sie – voller Hoffnung. Denn dann wird irgendwann alles gut, oder?

Irgendwann wird es gut erschien 2019 bei Diogenes.


Franziska über Middle England von Jonathan Coe

Mit dem Ende des Jahres 2020 endet auch die Übergangsphase des Brexits. Brexit, dieser damals noch so unscheinbar wirkende Begriff, der es geschafft hat seit 2016 die britische Bevölkerung zu spalten. Seit dem „Nein zur EU“ fragt man sich: Wie konnte es dazu kommen?

Jonathan Coe wagt sich mit seinem Roman Middle England, der oft recht unattraktiv als Brexit-Roman beschrieben wird, an eine große Brexit-Bestandsaufnahme und Ursachenanalyse. Schauplatz sind die West Midlands und Protagonist der (noch unveröffentlichte) Schriftsteller Benjamin Trotter, den man bereits aus vorherigen Romanen Coes kennt. Anhand des Trotter-Clans, inklusive Netz aus Bekannten und Freund*innen, lässt Coe entscheidende Ereignisse des letzten Jahrzehnts und deren unterschiedliche Wirkung auf die Familienmitglieder Revue passieren. Angefangen bei der Finanzkrise, über die Koalitionsbildung zwischen den Torries und den Lib Dems, die medial besprochen wurde, als wäre sie ein Fehler in der Matrix, den Olympischen Spielen in London mit Danny Boyles patriotisch-aufgeladener Eröffnungszeremonie, der Leave- und Remain-Kampagnen bis hin zum EU-Referendum selbst.

Mit Middle England gelingt Coe auf ziemlich lustige und unterhaltsame Weise, den Gemütszustand oder eher die Gemütszustände einer gespaltenen Nation sehr treffend zu beschreiben, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen.

Middle England erschien 2020 im Folio Verlag.


Franziska über Herzfaden von Thomas Hettche

Ob mit Geschichten von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, dem kleinen König Kalle Wirsch, oder Urmel aus dem Eis – die Augsburger Puppenkiste hat Generationen von Kindern geprägt. Thomas Hettche erzählt in seinem Roman Herzfaden die Geschichte dieses weltberühmten Marionettentheaters und ihrer Gründerfamilie Oehmichen. Eine berührende und bewegende Geschichte, die nicht zu trennen ist von den Schrecken des Nationalsozialismus, ideologischer Indoktrination und dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands.

Herzerwärmend, ohne in Kitsch abzurutschen und rührend, ohne rührselig zu sein, beschreibt Hettche den unbändigen Willen der Familie Oehmichen, und besonders der Tochter Hannelore, genannt Hatü, einen Raum für Kunst und Theater im Nachkriegsdeutschland zu schaffen und diesen mit ihren Marionetten zu beleben. Mit Herzfaden hat Thomas Hettche ein modernes Märchen erschaffen, das die Wirkung und Kraft des Theaters durch das Schaffen gemeinschaftlicher Erlebnisse eindrücklich beschreibt. Insbesondere in diesem Jahr, in dem der öffentliche Kulturbetrieb fast vollständig zum Erliegen gekommen ist, scheint es besonders wichtig, eine solche Botschaft zu unterstreichen.


Florian, ebenfalls über Herzfaden von Thomas Hettche

Der Roman „Herzfaden“ lebt zu einem guten Teil von den Kindheitserinnerungen an die Augsburger Puppenkiste, die bei der Lektüre wieder lebendig werden. Denn in einer der beiden Zeitebenen des Romans werden die Marionetten der Puppenkiste unter der Ägide der Mitgründerin Hannelore Öhmichen, genannt Hatü, lebendig. Ein kleines Mädchen ohne Namen findet nach einer Theatervorstellung zufällig seinen Weg auf einen verzauberten Dachboden, wo es ein kleines Abenteuer mit Puppen wie dem kleinen Prinzen, dem Urmel, Jim Knopf, König Kallewirsch und einem böse dreinschauenden Kasperl erlebt.

Hatü erzählt ihr außerdem die Geschichte von der Entstehung der Augsburger Puppenkiste, die sich von der Zeit des beginnenden Nationalsozialismus über den Zweiten Weltkrieg bis in die beginnenden 50er Jahre spannt. Während die eine Ebene der Geschichte märchenhaft-verträumt anmutet, werden in der anderen Ebene auch die ernsten Seiten wie Holocaust, Judenverfolgung und der Krieg sowie die Wirren der Nachkriegszeit nicht ausgespart. Der Nationalsozialismus sowie der Krieg mit all seinen grausamen Konsequenzen für das Leben der Menschen sind in diesem Roman sehr präsent.

Doch zum Glück gibt es auch immer wieder poetische und lyrische Momente, wenn etwa die Marionetten zum Einsatz kommen. Der Zauber der Augsburger Puppenkiste überträgt sich bei der Lektüre auf die Leserinnern und Leser. Die Abschnitte des Romans, die Vorführungen der Augsburger Puppenkiste in wörtlichen Zitaten wiedergeben, sind für mich die stärksten Teile des Textes.

Wie in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ sind die beiden Zeitebenen in zwei unterschiedlichen Farben, in blauen und roten Lettern, gehalten. Hettche hat ein vielschichtiges Werk mit mehreren Ebenen geschrieben, welches ein breites Publikum anspricht. Jugendliche und Erwachsene mit Interesse an der Geschichte der Augsburger Puppenkiste können gleichermaßen zu „Herzfaden“ greifen.

Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste erschien 2020 bei Kiepenheuer & Witsch.


Vom Gefängniswärter zum Verbrecher

Lukas über Kieleck von Maximilian Pollux

Kieleck, Herrscher und Beherrschter hinter Mauern aus Stahl und Eisen. Die Geschichte einer tragischen Existenz als Gefängniswärter, der zum Verbrecher wird.

Wer Demütigung erfährt, wird sie weitergeben. Dies scheint so sicher, wie die Mauern eines Gefängnisses. Und genau dort spielt der erste Roman von Maximilian Pollux. Mit „Kieleck“ beschreibt Pollux die tragische Figur eines Gefängniswärters, der bereits vor seiner Karriere als Schließer genug Demütigungen erfahren musste, um sie an ein ganzes Gefängnis weitergeben zu können. Pollux nimmt uns mit in eine Welt, in der Menschen einander misstrauen, in der sie einander erniedrigen und in der sie hiervon interessanterweise kaum einen Vorteil zu haben scheinen. Denn in dieser Welt sind alle Gefangene, die Wärter wie die Insassen der JVA. Kieleck wäre in dieser Welt gerne der Herrscher, ja sogar der Held, doch in Wirklichkeit ist er nicht mehr als ein psychisch instabiler Mann, der sich – während er die Post der Gefangenen kontrolliert – in die Ehefrau, oder besser gesagt in die Briefe von ihr, verliebt. Während er von einer Zukunft mit dieser Frau phantasiert, nimmt die Realität ihren Lauf. Im Versuch diese zu verändern, verliert Kieleck endgültig die Kontrolle über seine Handlungen und schließlich auch über seinen Körper.

In seinem fast vierhundert Seiten starken Roman verarbeitet Maximilian Pollux eigene Erfahrungen aus über zehn Jahren im Gefängnis. Dabei gelingt es ihm, eine Sprache zu finden, die rau und schonungslos beschreibt, ohne sich am Beschriebenen zu ergötzen. Mit Kieleck schafft Pollux einen Nicht-Helden, der in einer Welt lebt, die ferner von der draußen kaum sein könnte, und dennoch eng mit dieser verwoben ist. Hierbei gleitet Pollux weder in Gangster-Romantik noch in Green-Mile-Horror ab, sondern schreibt fast analytisch, wie in einer Welt aus steilen Hierarchien, verraten, betrogen und gedemütigt wird. Scheinbar immer für einen kleinen eigenen Vorteil, doch immer um den Preis der Menschlichkeit. Ein Buch, das einen wirklich gefangen nimmt und ein Autor, der sich traut, eine Hauptfigur zu zeigen, mit der es schwerfällt, Mitleid zu haben.

Kieleck erschien 2020 im Rhein Mosel Verlag.


 

Lee Miller und Man Ray – viel mehr als eine Liebesgeschichte

Lukas über Die Zeit des Lichts von Whitney Scharer

Lee Miller, die bedeutendste Fotografin des 20. Jahrhunderts, musste erst erst an ihrer Kunst zerbrechen, um als Künstlerin anerkannt zu werden, und ist dennoch nie ganz aus Man Rays Schatten getreten.

Derzeit scheinen die Zwanziger- und Dreißigerjahre voll im Trend zu sein, ob in erfolgreichen Serien wie Babylon Berlin oder in so manchem Vintage-Laden. Doch woher kommt diese seltsame Faszination für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, woher die Begeisterung für die Musik, den Stil und, ja, die Fotografie dieser Zeit.

Der Roman „Die Zeit des Lichts“ von Whitney Scharer bringt hier ein wenig Licht ins Dunkel. Beginnend mit der Liebesgeschichte zwischen der Fotografin Lee Miller und dem Fotografen Man Ray im Paris der Zwanzigerjahre beschreibt sie den Werdegang einer der größten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts: Lee Miller.

Und so schreibt Scharer hier weniger einen Liebesroman als eine kluge Analyse darüber, wie sich eine junge Frau aus dem Beruf des Models auf den Platz hinter der Kamera durchkämpft. Doch dies ist nicht der einzige Kampf, den sie zu führen hat. Neben dem immer wieder emporbrodelnden Machotum, dem sie mal erfolgreicher und mal weniger erfolgreich entgegenzutreten weiß, kämpft sie auch gegen Dämonen aus ihrer Vergangenheit, bis sie dann schließlich wirklich in den Krieg zieht. Als erste Kriegsfotografin dokumentiert sie die Gräueltaten der Nationalsozialisten für die amerikanische Zeitschrift Vogue. Es sind folgenreiche Fotos, sowohl für die Fotografin als auch für die Betrachter*innen. Auf der einen Seite gelingt es ihr, das Grauen für die Daheimgebliebenen greifbar zu machen, auf der anderen Seite kann sie diese Brutalität immer weniger begreifen, bis sie schließlich, dem Alkohol verfallen, an ihr zerbricht.

Wenn man diesen Roman gelesen hat, hat man jedoch weit mehr als Einblicke in das Leben einer Fotografin erhalten, die erst an ihrer Kunst zerbrechen musste, um als Künstlerin anerkannt zu werden – man hat ein Stück der Faszination für diese Zeit erfahren. Eine Zeit, in der Rollenbilder aufgebrochen wurden und künstlerisch und gesellschaftlich experimentiert wurden. Und am Ende bleibt die Frage, wie diese Keimlinge eines freieren Lebens gewachsen wären, wenn sie nicht vom Zweiten Weltkrieg niedergewalzt worden wären.

Die Zeit des Lichts erschien 2019 bei Klett Cotta.


Ein vertrauter Schleier

Gregor über Auwald von Jana Volkmann

Ein besonders stilvoller Weg, um von Wien nach Bratislava zu gelangen, führt mit einer Donau-Fähre entlang des Auwalds. Auch Judith hält eine solche Fahrt für eine gute Idee. Ihr Chef hat sie dazu gezwungen, Urlaub zu nehmen, also kann sie ja auch etwas unternehmen.

Die Ausgangssituation aus Jana Volkmanns nach jenem Ufer-Waldstück benannten Roman ist beschreibend für das Leben ihrer Protagonistin: Ihren Beruf als Tischlerin übt sie akribisch aus, möchte sich am liebsten nie von ihm trennen, insgesamt strudelt sie aber eher passiv durchs Leben und hat sich mit dessen Sinnlosigkeit weitgehend abgefunden. „Holzarten erkennt sie am Geruch“, heißt es bereits auf dem Klappentext, „Menschen hingegen sind ihr ein Rätsel“. Judith ist eine einsame Seele mit zwanghaftem Charakter in einer überfordernden Umwelt, die weder viel Verständnis für sie hat noch starkes Interesse an ihr aufweist. Damit bringt sie eigentlich die besten Voraussetzungen als Protagonistin eines intimen Endzeitromans mit.

Während Judith anfangs von außen betrachtet wird, führt die Perspektive von Kapitel zu Kapitel immer tiefer in ihr Seelenleben und Handeln hinein, so weit, dass die Außenwelt zu einem schleierhaften Apparat verschwimmt, von dem sich nicht mehr genau sagen lässt, was eigentlich wirklich passiert, und in dem auch ein Wald sich wie eine Nebenfigur anfühlt. Ein Wendepunkt der Handlung ist das spurlose Verschwinden der Fähre auf ihrem Rückweg von Bratislava nach Wien, eine Katastrophe, die die gesamte Region in eine Endzeitstimmung stürzt. Da sie um Geld, Handy und eben auch ihr Fährticket bestohlen wurde, ist Judith nicht mit an Bord und wird von der plötzlichen Chance überrumpelt, unterzutauchen und ganz von vorn zu starten. Es beginnt eine Art Roadtrip, wenn auch zu Fuß und abseits von Straßen, auf dem sie nicht nur der Natur und sich selbst begegnet. Auch ihr Bestreben, herauszufinden, wie sich ein neues Leben in völlig anderer Umgebung anfühlt, wird von Erfolg gekrönt, in all dem Chaos trifft sie Komplizen.

Insgesamt präsentiert Jana Volkmann uns ein seltsames, aber einnehmendes Buch, das zwischen Verfassen und Erscheinen von einer endzeitlichen Lebensrealität überholt wurde. Der bedrohlichen Stimmung, der milchigen Schwere, dem inneren Zwang, sich neu zu sortieren, geht sie in Auwald, wie man mit der Erfahrung von 2020 definitiv sagen kann, meisterhaft auf den Grund.

Auwald erschien 2020 im Verbrecher Verlag.

Titelbild: Cover „Fatum“ © Verlag C.H. Beck, Cover „Der Anhalter“ © S. Fischer, Cover „Irgendwann wird es gut“ © Diogenes Verlag, Cover „Middle England“ © Folio Verlag, Cover „Herzfaden“ © Verlag Kiepenheuer & Witsch, Cover „Kieleck“ © Rhein Mosel Verlag, Cover „Die Zeit des Lichts“ © Klett Cotta, Cover „Auwald“ © Verbrecher Verlag

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

„Ich möchte Brücken bauen“ – Florence Brokowski-Shekete im Interview

Florence Brokowski-Shekete ist in Hamburg als Kind nigerianischer Eltern geboren, wuchs zunächst in Buxtehude bei einer deutschen Familie in Pflege auf. Mit acht Jahren nahmen ihre Eltern sie mit nach Nigeria, in ein Land, das ihr fremd war. Doch sie kam wieder zurück nach Deutschland, wo sie eine beachtliche Laufbahn durchlief. Sie legte das 1. und 2. Staatsexamen für Lehramt ab, arbeitete als Lehrerin und freie Beraterin und Coach. 2007 wurde sie Rektorin, 2013 Schulaufsichtsbeamtin, 2014 Schulrätin und 2020 Schulamtsdirektorin.

Wir haben mit ihr über ihre Biografie, ihr Buch „Mist, die versteht mich ja“ (Orlanda Verlag, Berlin, 2020) und ihre Erfahrungen als schwarze Frau in Deutschland, über Diskriminierung und sensible Sprache gesprochen.


Sehr geehrte Frau Brokoswki-Shekete, Sie sind in Deutschland als Kind nigerianischer Eltern geboren, wuchsen dann in Lagos (Nigeria) in einem für Sie fremden Land auf und kamen zuletzt wieder zurück nach Deutschland. Wie hat diese Erfahrung Sie geprägt?

Ich war ja in Buxtehude zunächst das schwarze Kind in der weißen Mehrheitsgesellschaft, dort fühlte ich mich aber trotzdem wohl. Ich war neun, bevor wir nach Nigeria umgezogen sind. In Nigeria sah ich dann zwar genauso aus wie alle, wie die Mehrheitsgesellschaft, aber ich verstand die Sprache nicht und kannte die Kultur nicht. Das hat mir gezeigt, dass es nicht unbedingt mit dem Äußeren zu tun hat, ob man sich an seinem Ort wohlfühlt.

Ihr 2020 erschienenes Buch trägt den Titel „Mist, die versteht mich ja“ (Orlanda Verlag, Berlin) und spielt damit darauf an, dass Leute angenommen haben, Sie würden kein Deutsch sprechen, weil Sie schwarz sind. Welche Diskriminierungserfahrungen mussten Sie als schwarze Frau in Deutschland machen? Können Sie ein oder zwei Beispiele für typische Situationen?

Es gibt so viele und unterschiedliche Situationen. Zum Beispiel sprechen mich Leute aufgrund meiner Haare an oder weil sie meinen, dass eine bestimmte Farbe mir gut steht. Einmal war ich dienstlich unterwegs, als ich noch Schulrätin war. Ich wurde einer älteren Person in der Funktion vorgestellt. Er guckte mich völlig entgeistert an und sagte dann irgendwann: „Ne, ehrlich, dann bringen Sie wenigstens Farbe ins System!“ Das ist Rassismus, aber wenn man es den Leuten sagt, verstehen sie es gar nicht.

In einem bestimmten Geschäft wurde ich von der Verkäuferin derart blöd angepampt, dass ich zuerst nicht mehr in das Geschäft gehen wollte. Aber ich bin doch wieder hingegangen, habe dem Geschäftsführer die Situation erläutert und ihm gesagt, dass das einfach nicht geht. Zwei Wochen später bin ich ganz bewusst wieder in dieses Geschäft und die Verkäuferin hat mich ganz freundlich bedient. Ich vermute, er hat mit ihr gesprochen. Das sind Situationen, die einen nicht nur sprachlos, sondern auch erschüttert zurücklassen.

Was möchten Sie mit Ihrem Buch erreichen?

Ich werde ständig nach meiner Biografie gefragt. Irgendwann kam dann – mehr im Scherz – die Idee auf, ein Buch zu schreiben. Daraus wurde das tatsächliche Ziel, ein Buch zu machen. Ich möchte den Leuten die Möglichkeit bieten zu sehen, wie das Leben einer Person ist, die schwarz aussieht, nicht „deutsch“ aussieht, aber durchaus deutsch ist. Ich möchte den Menschen, die das Buch lesen, einen Blick hinter die Kulissen gewähren.

Sie haben beruflich eine beeindruckende Karriere gemacht. Zunächst haben Sie als Lehrerin gearbeitet, zwischendurch waren sie als freie Beraterin und Coach selbstständig, dann wurden Sie 2007 Rektorin, daraufhin waren Sie ab 2013 als Schulrätin tätig und nun sind Sie seit 2020 Schulamtsdirektorin. Was hat Sie dazu gebracht, im Bereich Bildung zu arbeiten? Haben Sie den Eindruck, dass Sie es schwerer als andere hatten?

Leichter hatte ich es auf keinen Fall. Ich wollte ursprünglich was anderes machen beruflich. Nach dem Abitur habe ich ein Praktikum in einem Jugendzentrum gemacht. Als ich in dem Jugendzentrum gearbeitet habe, habe ich gemerkt, das waren Jugendliche, die Bedarfe mitgebracht habe. Von den Schülern – es waren viele Hauptschüler – habe ich oft gehört, dass die Schule für sie nicht besonders prickelnd war. Daraufhin habe ich beschlossen, Grund- und Hauptschullehramt mit dem Schwerpunkt Hauptschule zu studieren, da ich der Meinung war und auch noch bin, dass gerade die Schüler*innen, die sich etwas schwer beim Lernen tun, besonders motivierte Lehrkräfte benötigen

Und ich hatte schon das Gefühl, dass es wesentlich schwerer war. Ich hatte den Eindruck, dass ich fünfmal besser sein musste, als wenn ich weiß gewesen sein wäre. Im Referendariat hatte ich sehr unangenehme Begegnungen. Hätte mir nicht der Beruf an sich Freude gemacht, hätten diese Begegnungen dazu geführt, dass ich aufgegeben hätte. Das Referendariat besteht aus zwei Teilen: Der praktische Teil des Referendariats war zwar wunderbar; doch der theoretische Teil im Seminar mit den Lehrbeauftragten und der Leitung war nicht besonders wertschätzend, ganz im Gegenteil, äußerst respektlos, im Nachhinein würde ich sogar sagen, besonders von Seiten einer Person sehr rassistisch.

Erleben Sie trotz Ihrer beruflich abgesicherten Position noch immer Rassismus im Alltag?

Ich erlebe auch in meinem Beruf Rassismus. Der wird manchmal intellektuell kaschiert und verpackt und hat letztlich auch etwas mit Machtherrschaft zu tun. Für die meisten, denen ich begegne, bedeutet Rassismus, jemanden zum Beispiel heftig zu beschimpfen. Aber Rassismus kann auch eine Bemerkung oder eine Verhaltensweise sein, die aufgrund des vermeintlichen kulturellen Andersseins oder der Hautfarbe entstanden ist. Wenn man den Leuten sagen würde, dass sie rassistisch sind, dann wären sie überrascht, um nicht zu sagen komplett entsetzt und echauffiert. Und wenn man die Leute tatsächlich darauf anspricht, gehen sie in eine absolute Verteidigungshaltung. Dann kann es dazu kommen, dass sie beleidigt sind, und man selbst sich dafür entschuldigen muss, dass man bemerkt hat, dass sie sich rassistisch verhalten haben und man dieses Verhalten für sich nicht möchte. Das sind zum Teil sehr skurrile Situationen.

Durch „Black Lives Matter“ bekam das Thema Rassismus und Antirassismus sehr viel Aufmerksamkeit. Was könnte man Ihrer Meinung nach konkret gegen Rassismus in der Gesellschaft unternehmen?

Im Grunde kann man genau das tun, was wir nun machen: sprechen, sprechen, sprechen. Es braucht Offenheit von beiden sein. Offenheit von der deutschen Mehrheitsgesellschaft, lernen zu wollen. Man muss rassismuskritisch die eigenen Gedanken, den gesellschaftlichen Alltag und die Schulbildung reflektieren. Man muss auch sehen, wo es institutionellen Rassismus innerhalb der Gesellschaft gibt. Eine wichtige Frage ist: Was können Menschen, die an gesellschaftlichen Stellschrauben sitzen, tun, dass der institutionelle Rassismus aufgebrochen wird?

Sie sind seit 1997 auch als interkulturelle Beraterin, als Coach und Trainerin aktiv. Mit Ihrer Agentur FBS intercultural communication bringen Sie Führungskräften und Unternehmen einen sensiblen sprachlichen Umgang, Kommunikation und interkulturelle Kompetenzen bei. Welche Kompetenzen sind nötig, damit interkulturelle Begegnungen gelingen?

Zunächst mal ist die Offenheit wichtig, lernen zu wollen, was überhaupt Rassismus bedeutet. Man muss aufhören, zu relativieren und gleich in eine Verteidigungshaltung zu gehen. Ich hatte neulich ein Gespräch mit jemandem, in dem ich geschildert habe, dass ein junger Mensch sich doppelt anstrengen muss, um auf eine berufliche Position zu kommen, weil er schwarz ist. Und die weiße Person hat das gleich vom Tisch geschoben und mir erklärt, dass das so nicht ist. Und das kann ja so nicht sein! Dann muss ich dem Gegenüber erstmal erklären, dass mein Erleben als schwarze Person überhaupt existiert und real ist.

Für mich ist das A und O, dass eine Offenheit und eine Bereitschaft vorhanden ist, den anderen verstehen und in seinem Sein wahrnehmen zu wollen und einen Perspektivwechsel einnehmen zu wollen. Wenn man mein Buch liest, kann es zunächst unangenehm sein, da es einen Spiegel vorhält, obwohl ich versuche, diesen Spiegel sehr sanft und liebevoll vorzuhalten. In jeder gesellschaftlichen Ecke müssen wir sehen, was wir dagegen tun können, um den institutionellen Rassismus auszumerzen.

In den letzten Jahren wurde sensible und diskriminierungsfreie Sprache wichtiger. Verlage streichen diskriminierende Begriffe aus älteren Büchern. Zuletzt wurde die „Mohrenstraße“ in Berlin umbenannt. Immer wenn solche Anpassungen vorgenommen werden, gibt es auch heftigen Widerstand. Was würden Sie Menschen antworten, die aus Tradition weiterhin diskriminierende Begriffe verwenden wollen?

Auch mir begegnen Leute, die sagen, dass das N-Wort früher nicht böse gemeint war. Dann versuche ich den Leuten zu erklären, dass es in allen Sprachen Begriffe gibt, die vor 50, 60 Jahren andere Konnotationen hatten, zum Beispiel im Gender-Bereich, im kulturellen Bereich, im Bereich sexuelle Orientierung. Aber das N-Wort ist einfach negativ konnotiert. Wenn jemand sagt, dieser Begriff sei noch normal, dann sage ich Nein, der ist negativ konnotiert und man darf ihn nicht mehr verwenden. Ich finde es auch nicht schön, wenn man von Mohrenköpfen spricht. Tradition hin oder her, es gibt auch Traditionen, die man ab und zu hinterfragen und verändern muss.

Warum ist sensible Sprache wichtig?

Sensible Sprache ist gesellschaftlich wichtig, um Menschen nicht zu diskriminieren. Ich werde ja eingeladen, um für Sprache im Allgemeinen zu sensibilisieren. Meine Gruppen sind zum Teil sehr divers zusammengesetzt. Dann geht es darum, die Kommunikation so sensibel zu gestalten, dass sich niemand diskriminiert fühlt, zum Beispiel weil jemand eine andere sexuelle Orientierung hat oder eine Behinderung hat. Die Sprache, die wir nutzen, sollte jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft sensibel ansprechen, egal welchen Bedarf, welches Alter, welche Persönlichkeit jemand mitbringt.

Gerade jetzt in der Corona-Zeit geht es auch um die Älteren. Da wurde ja gesagt, dass die Älteren zuhause bleiben müssen. Wenn dann jemand zu einem älteren, der vielleicht noch korpulent ist, sagt: „Du bist ja sowieso Risikoperson, weil du nicht nur alt, sondern auch noch übergewichtig bist.“, dann ist das Diskriminierung.

Wenn jemand merkt, dass er sich nicht mehr im Körper eines Mädchens wohlfühlt, sondern ein Junge sein möchte, und daraufhin bei der Krankenkasse und anderen Institutionen immer noch als Frau angesprochen wird, obwohl die innere und äußere Entwicklung schon sehr weit vorangeschritten ist und die Person um eine bestimmte Ansprache bittet, diese jedoch ignoriert wird, dann ist das Diskriminierung.

Es geht also um unsere Haltungen, die wir infrage stellen müssen und die hinter Diskriminierungen stecken können. Wenn wir diese eigenen Haltungen bewusst betrachten, kann es zunächst für einen selber unangenehm, sogar schmerzhaft sein. Im besten Fall ist es ein innerer Erkenntnisprozess, wenn wir diesen zulassen, kann es zu einer hoffentlich positiven Weiterentwicklung kommen.

Was sind die typischen Fehler bei interkulturellen Zusammentreffen?

Ich möchte ein Beispiel nennen: Ich war als Lehrerin auf einer Fortbildung für Religionslehrkräfte, die mit Interkulturalität überhaupt nichts zu tun hatte. In der Pause kam ein Schuldekan zu mir und fragte: „Wo kommen Sie denn her?“ Ich nannte ihm meine Schule, denn das war das Naheliegendste. Daraufhin fragte er: „Was machen Sie denn dort?“ Ich sagte ihm, dass ich dort als Lehrerin arbeite. Er fragte: „So richtig Lehrerin?“ Ich fragte ihn, wie man denn nicht richtig Lehrerin sein könne. Er antwortete: „Ich dachte, Sie wären eine Praktikantin aus Timbuktu und gucken, wie es hier so ist.“

Was hat der Mann falsch gemacht? Er hat mich kontextlos gefragt, wo ich herkomme, und hat die Distanz überhaupt nicht gewahrt. In der Kommunikation gibt es Distanzringe. Man fühlt sich in der Regel dann wohl, wenn man eine Armlänge Distanz zum anderen hält. Das kann man auch auf die verbale Kommunikation übertragen. Man kann nicht beim ersten Treffen fragen: „Aus welchem Land kommen Sie?“ Das ist kontextlos und distanzlos. Wenn man in einem kulturellen Kontext ist und die Überschrift des Zusammentreffens „meine Wurzeln“ lautet, dann ist es kein Problem nach der Herkunft zu fragen. Es kommt also auf den Kontext an.

In der öffentlichen Diskussion ist in letzter Zeit immer wieder von Cancel Culture die Rede, d. h. der Boykott von Personen oder Organisationen, denen Diskriminierung vorgeworfen wird, zum Beispiel in Zusammenhang mit Lisa Eckhardt oder Dieter Nuhr. Wie stehen sie zu solchen Absagen?

Ich möchte mich nicht an einem öffentlichen Shitstorm beteiligen. Wenn mich eine Kontroverse sehr berührt oder ärgert, dann biete ich der betroffenen Person das persönliche Gespräch an. Ich habe auf meinem Instagram-Account einen Spruch: „Wenn ich über ein Thema etwas wissen möchte und ich spreche nicht mit denen, die es betrifft, dann führe ich Selbstgespräche.“ Ich finde es klasse, wenn man wertschätzend, respektvoll und achtend aufeinander zugeht und miteinander Brücken baut. Ich möchte aber zuletzt noch festhalten: Die meisten Menschenbegegnungen sind angenehm, freundlich, geneigt und offen.


„Mist, die versteht mich ja“ von Florence Brokowski-Shekte erschien am 1. September 2020 im Orlanda Verlag und hat 250 lesenswerte Seiten.

Beitragsbild: © Matthias Purkart

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