Manchmal fragt man sich, wie es ein Roman in die Feuilletons der Mainstream-Presse und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schafft, außer dass dahinter ein prominenter Autorenname steht. Ein solcher Roman ist auch Maxim Billers Sechs Koffer.
Die Welt fragt, ob es sich dabei um eine autobiographische jüdische Version der Buddenbrooks handelt. Noch vollmundiger titelt Die Zeit, es handle sich um einen kafkaesken Familienroman. In Wahrheit ist das Buch zu Familiengeheimnissen und der Frage, wer Held und wer Verräter ist, eine konventionelle Banalität an die andere gereiht.
Sechs Koffer handelt von der Geschichte einer jüdischen Familie in Tschechien zur Zeit des Kalten Krieges. Aus sechs Perspektiven erzählt der Roman von einer Familiendenunziation, nämlich der Frage, wer 1960 den Großvater an die Sowjetunion verraten hat, um selbst zu überleben. War es einer seiner Söhne oder die traurige Schwiegertochter oder der Familienpatriarch und Schwarzhändler, der einen Kopf aus der Schlinge ziehen wollte? Einer dieser ex-post-Perspektiven wird von Biller selbst als Enkel eingenommen.
Durch die sich langsam, aber nicht komplett aufklärenden Abgründe einer Familie zwischen zwei Systemen, soll sich angeblich dem Leser die Frage stellen, wie er sich selbst in solchen moralischen Dilemmata verhalten würde. Doch damit so etwas gelingen könnte, bräuchte es einen viel besseren, tiefgehenden und distanzierteren Roman als Billers Geschwurbel. Auf dem sehr knappen Raum von 200 Seiten will der Autor uns über sechs Menschen aus drei Familiengenerationen berichten. Und das Ganze liefert zwar eine schöne Beschreibung der Atmosphäre, von Lebensgefühlen und Wünschen sowie der Kulturen des zeitgenössischen Prag, Zürich oder Hamburg; aber diese Ergüsse der konventionellen Einfühlung unterminieren ein Hineindenken in die Handlung und nehmen wertvollen Platz für die inhaltliche Auseinandersetzung.
Eine solche Auseinandersetzung entsteht auch nicht, da die Perspektiven immer und sehr unübersichtlich wechseln. Motive zu durchschauen oder gedanklich nachverfolgen zu können, bleibt so kaum möglich – vielleicht weil Biller sie selbst nicht ganz versteht. Das einzige Positivum an dem Büchlein ist tatsächlich, dass es den Leser bis zuletzt rätseln lässt, wer der Verräter ist.
Ichzeit versus Essayzeit
Auch stilistisch ist Sechs Koffer eher konventioneller Durchschnitt – nicht unbedingt schlecht, aber ganz sicher keine Besonderheit oder Rarität in der deutschen Literaturlandschaft, auch wenn der Roman gerade als solche gefeiert wird. Den durchaus flüssigen und anständigen Schreibstil an jeweilige Protagonisten anzupassen, gelingt Biller nicht immer überzeugend. Und die angestrebte Tiefe der atmosphärischen Beschreibung kann der Autor so nicht erreichen – zu sehr hängt er an der Optik und dem Konsumismus der Protagonisten fest. So wird ein Roman über menschliche Abgründe und moralische Fragen im Angesicht der politischen und ökonomischen Macht weitgehend eine optische Beschreibung. Die sonst so gelobte schonungslose Selbstkritik in den autobiographischen Büchern von Biller, sie fehlt hier größtenteils.
Schon 2011 hat Biller in einem Essay die gegenwärtige Literaturepoche großspurig als Ichzeit tituliert. Das soll heißen, der heutige Schriftsteller solle distanzlos und autobiographisch über das Ich und dessen Abgründe schreiben und zwar in Schockmomenten – Literatur müsst also weniger wie Balzac und mehr wie Britney Spears bei der Kopfrasur sein, der niveauvolle auktoriale Erzähler habe nichts mehr in der Prosa verloren. Eine solche Distanzlosigkeit und der Fokus auf die Britney-Banalität und das rein Äußerliche in solchen Erschütterungen scheint er auch in diesem Werk praktisch umzusetzen. Immer wieder habe ich dieser Literaturtheorie widersprochen – zuletzt hier. Was übrig bleibt in solch einer Ichzeit, ist eine Einfühlung, die ergreifen kann, aber das Denken und die Kritik im Spektakel aberzieht. Genau deswegen kann die moralische Frage, die in Sechs Koffer dem Leser gestellt werden soll, nicht wirklich gestellt werden – zu sehr bleibt er in der Atmosphäre, den Gefühlen der Protagonisten und den oberflächlichen Betrachtungen zu tschechischen Filmen, Sexshops oder Zigarettenmarken gefangen. Es ist also im Grunde schon ein Sakrileg, wenn eine Figur wie Biller sich immer wieder in Sechs Koffer auf den großen Bertolt Brecht bezieht, der doch nichts mit einer solchen lahmen literarischen Methode am Hut hat.
Biller bietet also nichts anderes als Kulturindustrie, die als Verblendungszusammenhang einen auf tiefsinnig macht. Um Kritik und Denken in der Literatur nicht obsolet werden zu lassen, war mein Gegenmodell die Essayzeit, ein Genrehybrid, in dem der Protagonist verfremdet wird und der Leser überraschend in eine Distanz zur Handlung gestellt wird. Doch mit Denken und Distanz hat Sechs Koffer nicht viel zu tun. Biller fehlt dabei aber sowohl die tiefe Melancholie von Thomas Manns Buddenbrooks als auch die absurde bürokratische Komik und Verfremdung eines verständnislosen Subjektes, wie man es bei Franz Kafkas Œuvre findet. Wenn Medien aber Billers Roman mit solchen Klassikern des Literaturkanons vergleichen, so feiern sie mit dieser falschen Ehrung nichts als ein Element des literarischen Verfalls in der Postmoderne, in der es um Identitäten und Gefühle geht statt um Kritik und Wahrheit.
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