Mira Weidner ist ein Mädchen aus Köln/Bonn, das 1994 während der Scheidung ihrer Eltern als 9-jährige eine Zeit lang bei dem UN-Diplomaten Darius und dessen Familie unterkommt. Sie baut eine besondere Beziehung zum ältesten Sohn Milan auf. Später studiert sie Internationale Beziehungen, arbeitet in New York und Burundi für die Vereinten Nationen und landet schließlich 2017 in Genf, wo sie eine Affäre mit eben jenem Milan beginnt, der jetzt verheiratet ist und einen Sohn hat.
Nach ihrem letzten Roman über den italienischen Politiker Antonio Gramsci behandelt Nora Bossong in Schutzzone nun die größte politische Institution der Welt: Die Vereinten Nationen. Schon vor der Veröffentlichung ist ihr vierter Roman ein Erfolg, denn er steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019.
Der Roman erzählt Miras Geschichte unlinear und springt zwischen den verschiedenen Erzählsträngen. Dabei verzichtet Nora Bossong auf die explizite Markierung der wörtlichen Rede, wodurch der Romantext und besonders die Dialoge oft wie ein innerer Monolog von Mira erscheinen. Die Grenzen zwischen den Figuren sind unklar, ähnlich wie die in der Politik. In der Mitte des Romans sagt Milan: „Wir spielen uns klare Grenzen vor, aber jeder Versuch, ein Land mit exakten Grenzlinien zu zeichnen hat zu nichts als Absurditäten geführt.“ Statt einzelnen Kapitelüberschriften nennt der Roman jeweils Ort- und Zeit der Kapitel. Zudem sind die Kapitel in fünf Abschnitten zusammengefasst: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung und Übergang.
Der interessanteste Erzählstrang ist Miras Aufenhalt in Burundi, als Angehörige der Wahrheitskomission. Andere Leute sagen über sie, dass sie Leute gut zum Reden bringen könne. Das Erzählen hat hier einen expliziten Wert, auch wenn sich Mira selber nicht genau weiß welchen. Ihre Freundin Sarah: „Wir erzählen unser Leben, wir erzählen das Geheimste, das Intimiste, als müssten wir beweisen, dass es uns tatsächlich gibt.“ So trifft Mira auch den Milizengeneral Aimé, zu dem sie eine beinahe freundschaftliche Beziehung aufbaut, die von anderen Helfer٭innen kritisch gesehen wird. Denn Aimé ist für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich. Er habe unter anderem eine Kirche voller Kinder anzünden lassen. Doch seine Ehrlichkeit fasziniert Mira – oder ist es doch nur seine Art zu lügen?
Insgesamt bliebt die Hauptfigur des Romans etwas blass. Als ob sie selber um sich eine Schutzzone errichtet habe. Allerdings wird auch diese Schutzzone für kurze Zeit durchbrochen, als sie Milan trifft. Generell sind die Schutzzonen im Roman nicht besonders effektiv. Bei den Vereinten Nationen herrscht zynische Einigkeit darüber herrscht, dass eine Schutzzone ohne dazugehörige Militärtruppen nichts wert sei. So wirkt das größte Staatenbündnis der Welt wie eine verzweifelte Organisation, die viel versucht, wenig bewirkt und ihre Angestellten schließlich zu gut ausgebildeten Nihilist٭innen macht.
Auch, wenn er es nicht auf die Shortliste des Buchpreises schaffen sollte: Schutzzone ist ein Roman mit interessantem Setting und Einblicken in eine ungewöhnliche Welt. Dadurch ist er auf jedenfall lesenswert – trotz gelgentlicher Längen.
Schutzzone von Nora Bossong erscheint am 9.9. im Suhrkamp Verlag und hat 332 Seiten.
Lyophilia ist ein zähes, schwer lesbares und stellenweise ganz wunderbares Buch. Der Suhrkamp-Verlag, der die Bücher der österreicherischen Autorin verlegt, nennt es Science-Fiction auf Hegelbasis. Das meint wahrscheinlich, dass das Buch dialektisch angelegt sei. Tatsächlich besteht Lyophilia hauptsächlich aus zwei längeren Erzählungen, die sich antithetisch gegenüberstehen. In der Erzählung „Proteus“ geht es um eine Dreiecksbeziehung des Musikers Zladko zur slowenischen Politikerin Ganja und ihrem Sohn Igor. Die Geschichte ist in einer nahen Zukunft angesiedelt in der es Sex-Roboter gibt, aber die Menschen noch auf der Erde leben.
Diese Zukunft hat die bekannten Fragen und Probleme der Gegenwart zugespitzt: „Die Unruhigen übertünchen ihre krankhafte Unruhe, indem sie die Ziele ihres Strebens mit den Vorschlägen der Werbung streamlinen. Der Werbung oder ihrer Eheleute. Die können genauso wenig wie ich Ordnung schaffen und in der Sonne liegen, aber ihr Chaos und ihre Unruhe wird in Anzüge, Villen, automatische Autos oder gedankenabwesende Kinderbetreuung gespeist.“
Zladko, der Ich-Erzähler in „Proteus“ spielt Saxofon in einer Band, deren größter Hit „Lyophilia“ heißt. Das Wort bezeichnet die Gefriertrocknung und ist eine Möglichkeit Körper für die Ewigkeit zu konservieren. In der Erzählung „Proteus“ spielt dieses Prinzip kaum eine Rolle, dafür in der zweiten längeren Geschichte „Mitteilungen vom Planeten Amore [KAFUN]“. Die Protagonist٭innen leben auf einer weit entfernten Kolonie, die sie durch eine Zeitreise erreicht haben. Für diese Zeitreise wurde ihr Geist gefriergetrocknet – lyophilisiert.
Diese Erzählung ist deutlich hermetischer. Verschiedene Protagonist٭innen einer Gruppe von Siedler٭innen des Planeten Amore [KAFUN] berichten von ihrem Leben auf diesem Planeten und ihren Beziehungen untereinander. Jetzt fährt Ann Cotten das komplette Science Fiction-Arsenal auf: ferne Planeten, Zeitreisen, Klonen. Die Haupterzählerin nimmt ihren Lebenspartner „Emile“ nur im Plural wahr. Dadurch entstehen Sätze wie: „Emile rollen, bleiben auf den Rücken liegen, die Knie verlangsamt wie bei einer nachdenklichen Spinne. Er scheinen zu überlegen, ob er weiterrollen sollen oder wollen, picken sich einen Grashalm vom Pullover. Rollen plötzlich wieder los, aber fast zitternd vor Unentschiedenheit.“
Solche Einfälle machen Lyophilia zu einem interessanten Prosawerk. Frustrierend sind dagegen die zahlreichen anderen Einfällen, die sich zwischen den Zeilen andeuten. Teilweise sind sie in den begleitenden kürzeren Texten versteckt. Eine dieser Theorien ist, dass die Außerirdischen den Menschen das Sprechen beigebracht haben. Doch wahrscheinlich haben die meisten Leser٭innen frustriert von zu viel Verrätselung aufgegeben, bis sie sich diese Konstrukte erschlossen haben. Zudem konnte Ann Cotten der postmodernen Versuchung nicht widerstehen, aus Lyophilia ein Buch über das Erzählen selbst zu machen. Die Figuren in „Mitteilungen vom Planeten Amore [KAFUN]“ gründen zum Beispiel einen Literaturclub. Ob sie dort Lyophilia lesen würden, ist unwahrscheinlich. Damit entgehen ihnen einige interessante Einfälle, aber sie ersparen sich eine Menge Frust.
Erwachsene Menschen haben Probleme. Und je älter sie werden, desto verzwickter werden die Probleme. Das zeigt Sandra Nettelbecks neuer Film „Was uns nicht umbringt“.
Der Hauptcharakter Dr. Maximilian Lange (August Zirner) ist Psychotherapeut und verliebt sich in seine Patientin Sophie (Johanna ter Steege). Max ist geschieden, bezeichnet seine Ex-Frau Loretta (Barbara Auer) aber als seine beste Freundin. Sophie führt dagegen eine Beziehung mit David (Peter Lohmeyer), der weiterhin bei seiner Frau und seinem Sohn lebt, die von der Beziehung wissen.
Dazu kommen fünf weitere Haupt- und Nebenplots und nochmal so viele Probleme. Das Figureninventar umfasst unter anderem eine Schriftstellerin, einen Pinguinwärter und einen Bestatter. Als Zuschauer٭in fehlt allerdings der emotionale Bezug zu so vielen Charakteren und ihren individuellen Handlungszwängen. Vielleicht fällt das Zuschauer٭innen im höheren Alter leichter, die selber der eigenen Biografie nicht mehr entkommen können.
Wahrscheinlicher ärgern sie sich aber über Szenen, wie diese: Fritz (Oliver Bourmis) trauert um seinen Lebensgefährten Robert, der mit Blutkrebs im Koma liegt. Dessen religiöse Familie will verhindern, dass Fritz seinen Freund noch einmal sehen kann. Als Fritz schließlich den Leichnam sieht, erleidet er einen Wutanfall mit anschließendem Zusammenbruch. Die Reaktionen von Fritz sind so eindimensional, dass es schwer fällt, wirklich Mitleid mit der Figur zu empfinden.
Die Geschichten des Films mögen alle realistisch sein, doch für die Zuschauer٭innen bleiben sie innerlich hohl. Das liegt vor allem daran, dass der Film sich mit dem Ensemble-Format übernimmt. Die meisten Geschichten bleiben facettenarm wie die von Fritz, auch wenn der Film sich bemüht, durch weitere Schwergewichte (sterbender Vater, dysfunktionale Teenager, Spielsucht etc.) mehr Emotionen herzustellen. Schade ist, dass in dieser Menge an behauptetem Tiefgang die besseren Geschichten untergehen. Zum Beispiel die des Pinguinwärters Hannes (Bjarne Mädel) zu seiner autistisch veranlagten Kollegin Sunny (Jenny Schily). Als ihr gekündigt werden soll, verzichtet er stattdessen auf seinen Job, ohne ihr etwas davon zu sagen. Hier wird ein Problem nicht auf psychologischer Ebene abgehandelt, sondern durch eine handfeste und nachvollziehbare Handlung.
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„Was uns nicht umbringt“ ist ein ambitioniertes Projekt: Der Film versucht ein umfassendes Generationenportrait der 40- bis 60-Jährigen in Deutschland zu zeichnen. Es gibt sicher Zuschauer٭innen, die sich darin wiederfinden und den Film genießen können. Dafür müssen sie allerdings auch immun sein gegen wirre Schnitte und dick aufgetragene Klaviermusik.
Vielleicht sind sie dabei ähnlich überfordert wie Protagonist Max. Der Psychologe steht im Auge des Sturms, da ein Großteil der Figuren bei ihm zur Therapie ein- und ausgeht. Ob er ihnen wirklich hilft, ist schwer zu sagen. Totengräber Mark (Christian Berkel) bemerkt, dass Max sich anscheinend lieber um sich selbst kümmern würde. Das tut er dann auch und kommt tatsächlich mit seiner Patientin Sophie zusammen. Das könnte nun doch noch die große Liebe sein – oder der Auftakt zu neuen Problemen.
„Was uns nicht umbringt“ ist ab dem 15. November im Kino.
Jede Band hat mal ein Album gemacht, mit dem sie ihren Sound definierten. Bei Locas in Love heißt es Saurus und hat zum zehnjährigen Jubiläum ein Reissue bekommen.
Zu ihrem zweiten Album Saurus ließen Locas in Love einen Rezensions-Generator programmieren. Wie könnte ich der Platte also besser gerecht werden, als davon Gebrauch zu machen und anschließend einen entspannten Feierabend zu genießen? Das klänge dann so:
„Locas In Love sind ja besonders unter ihren Kollegen hoch angesehen, aber nun melden sie sich mit ihrem zweiten Silberling zurück. Durchwachsen, weil orientierungslos präsentiert uns die Truppe um Björn Sonneberg Saurus (Sitzer/Virgin/EMI). Dabei gehen sie mit ehrlichen, unverkrampften Aussagen, die mitnichten honigsüß daherkommen zu Werke (…)“
Der Rest des Rezensionsgenerators ist ebenfalls Teil der Jubiläumsedition zum zehnjährigen Erscheinen von Saurus, genauso wie ein Haufen an weiteren Extras wie z. B. ein Songbook mit Akkorden zum Nachspielen der Lieder und einer genauen Entstehungsgeschichte des Albums voller Bilder, Texten und Zeitdokumenten, die erzählen wie das damals so war in den 2000ern Musik zu machen.
Und die Songs? Wenn ein typischer Locas-in-Love-Sound existiert, dann gibt es wohl kaum ein Lied, das ihn besser vorführt als der Saurus-Opener „Sachen“.
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Aus dem Intro klingt die Strokes-Ära heraus, die sich gerade auf dem Zenit befand. Dieser Sound kommt nicht von ungefähr, denn das Album wurde von Peter Katis abgemischt, der schon den Indie-Rock Sound von The National, Interpol und The War on Drugs am Mischpult geformt hat. Zu den warm klingenden Gitarrenbendings singt Björn Sonnenberg über ein Treffen mit einem alten Bekannten. Es entspinnt sich ein Text zwischen WG-Küchengespräch und kritischer Selbstbeobachtung. So geht es auch in den ersten Refrain:
„Aber du kennst das ja selber/ und weißt ja wie du bist / wie es sich anfühlt, wenn man immer / so beschäftigt ist, mit Verpflichtungen, Erledigungen / und Freiwilligkeiten und Dingen / und den Fokus verliert / wir können ein Lied davon singen.“
Mit kurzen energetischen Ausbrüchen in der Bridge und einer lauter werdenden Soundwand gegen Ende, vereint der Song alle Elemente, die Indie-Rock gut gemacht haben. Doch die große Popkunst entfaltet die Band mit „Mabuse“. Über die eingängige – verdächtig an Sweet Jane von Velvet Underground erinnernde – Akkordfolge singt Bassistin Stefanie Schrank mit betont naiver Stimme einen Refrain, der die sanft plätschernden Akkorde konterkariert:
„Den Bankier bedroht, den Politiker entführt / Polizist k.o. geschlagen er hat kaum was gespürt / Mit meiner Handschrift, die Forderung geschrieben / dieses verdammte Deutschland hat mich dazu getrieben.“
Beim zweiten Durchlauf wird sie dabei noch von einem Kinderchor unterstützt und gemeinsam treiben sie den Kontrast auf die Spitze. Abgesehen von diesen beiden besten, versammelt Saurus eine Mischung an albernen, ernsten, traurigen und optimistischen Songs, die auch an ihrem zehnten Geburtstag noch eine emotionale und musikalische Wucht entfalten, die in der hiesigen Popmusik oft ihresgleichen sucht.
Schrammel-schrammel, schrei-schrei, rausch-rausch. Chuckamuck haben ein neues Album veröffentlicht. Cool!
Irgendwann hat eine Freundin mir erzählt, dass sie früher einmal mit dem Drummer (oder war es doch der Gitarrist?) von Chuckamuck rumgeknutscht hätte. Das muss Ende der 2000er gewesen sein. Chuckamuck waren noch gänzlich unbekannt und 1000 Robota galten als die Zukunft der deutschsprachigen Indie-Musik. Ich als Spätzünder hab die Band erst etwas später für mich entdeckt, dann aber sehr gerne gemocht. Auch wenn ich ihr nie so nahegekommen bin.
Chuckamuck sind Oscar Wald, Lorenz O’Toole und besagter Jiles plus den ein oder anderen Bekanntem am Bass. Sie kommen aus Berlin und machen Rock’N’Roll mit Schrammelattitüde. Dazu singen sie deutsche Texte ohne diskursrockige Bedeutungsschwere, die trotzdem gut bis grandios sind. Bestes Beispiel war die Hitchhike, die Lead-Single zu „Jiles“. Nach verschiedenen EPs und zwei Alben veröffentlichen sie jetzt das dritte, das sie nach sich selbst benannt haben.
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Und natürlich erwartet jeder Musikfan von einem self-titled-Album die große Rückbesinnung auf alte Werte. Auch Chuckamuck sind nach dem höherwertiger produzierten „Jiles“ jetzt zur DIY-Ästhetik zurückgekehrt. Das klingt aber trotzdem super. Ich glaube sowieso, dass sie auch immer absichtlich etwas schrumpeliger spielen, als sie es in Wirklichkeit können. Ist ja schließlich Rock’N’Roll. Oder gar Punk?
Wie auf jedem ihrer Alben sind nicht alle Songs gut, dafür andere umso besser. „20.000 Meilen“ ist ein schmerzhafter Trennungssong, der ziemlich country-mäßig klingt und gegen Ende auch Nashville als Sehnsuchtsort für den frischgetrennten Protagonisten namedropt. Mit „Berliner Luft“ haben sie dagegen eine Hymne auf das kultigste aller Kultgetränke aus Berlin. Saufen und Krawall sind ja Themen, die in der distinguierten deutschen Indieszene nur selten zur Sprache kommen. Umso erfrischender ist dieser Song über Saufen mit frischem Pfefferminzatem. (Song und Getränk sind auch eine ganz persönliche Empfehlung des Autors)
Etwas enttäuscht war ich dagegen, dass mit „Sayonara“ der beste Song, den sie vorab veröffentlicht hatten, nicht auf dem Album enthalten ist. Aber das ist vielleicht so ein Beatles-Ding, die hatten ja auch viele Singles auch nicht auf den Alben mit drauf. Ich glaub aber, wenn Chuckamuck bald wieder in meine Stadt kommen, werde ich hingehen und mir einige große Schlücke Berliner Luft trinken, bevor ich mich auf den Weg nach Nashville mache.
Kunst spricht über Kunst. Und manche Kunst spricht mehr über Kunst als andere Kunst. Das kann schnell etwas verwirrend werden. Dieser Artikel legt sein Ohr an das Meta-Diskurs-Rauschen und versucht zu hören was die Hip-Hop/Electronic-Band The Avalanches, Goethes Evergreen Die Leiden des jungen Werther und die Traumfabrik Hollywood dazu zu sagen haben.
Gefangen im Netz I
Tierfreunden ist die Meta bekannt als eine Kategorie der echten Webspinnen. Wer so eine Meta sucht, findet sie irgendwo im Zwielicht am Ausgang einer dunklen Höhle, wo sie in der Hoffnung auf Beute ihr radförmiges Netz aufgespannt hat. Ab und zu verirrt sich auch ein Insekt hier hinein und erwartet sein Unheil, während es so nach und nach eingewoben wird.
Stellen wir uns vor, Kunstwerke wären ebensolche Insekten, eingewoben in den Meta-Diskurs. Denn das Reden, das über Literatur, Musik und Filme jeden Tag stattfindet – vom Kneipengespräch bis zum Feuilleton-Artikel – spannt ein Netz um all die Werke, die darin vorkommen. Nun ist das nicht nur der Preis, sondern auch der einzige Weg um dazuzugehören. Zudem hat Kunst gegenüber Insekten den einen Vorteil, dass sie nicht stumm ist. Ganz im Gegenteil. Da spricht jede Gattung eine unterschiedliche Sprache. Literatur und Film haben explizitere Ausdrucksmöglichkeiten als Musik. Darum ist der Plan in den nächsten zehn Minuten an drei Stellen des Meta-Netzes reinzupieksen und zu schauen, was die Werke über sich zu sagen haben und wie sie es tun. Dabei ist klar, dass so ein Artikel, auch wenn wir ihn nicht zu wichtig nehmen sollten, ebenfalls zum Meta-Netz beiträgt. Daher habe ich die Werke vor allem als Fan ausgewählt und versuche mich ihnen äußerst behutsam zu näheren. Wichtig für die Auswahl ist nur, dass sie Kunst über Kunst sind und insofern eine Aussage treffen, die auch mit vorsichtiger Interpretation verständlich ist.
Werther – und warum sich verliebt, wer dieselben Bücher kennt
Vielleicht wäre es sinnvoll in der Schule nur schlechte Bücher zu behandeln. Schließlich vermiest der Unterricht oft genug die Werke, die wirklich was zu erzählen haben. Die Leiden des jungen Werther ist genau so ein Buch, obwohl es zuweilen schwierig ist, sich mit Werthers weinerlichem Verliebtsein zu identifizieren. Denn diese eine schicksalhafte Szene, die emeritierten Professoren bis heute Tränen in die Augen treibt, ist beispielhaft für Situationen in denen Kunst und Liebe aufeinandertreffen.
Doch der Reihe nach: Werther lernt Lotte kennen, kurz danach tanzen sie gemeinsam, sie ist bereits verlobt, ein Gewitter zieht herauf und entlädt sich mit seiner ganzen Naturgewalt. Wirklich interessant wird es aber danach. Denn als sich das Gewitter verzogen hat, legt Lotte ihre Hand auf Werthers und sagt nur ein Wort: „Klopstock“.
Der Name des Dichters hält der bedeutungsschweren Situation sogar stand. Schließlich war Klopstock zu seiner Zeit der Hero aller jungen, kunstbegeisterten Bohemians. Bei Werther und Lotte geht nun gleichzeitig das Kopfkino los, wie sie zu zweit an einem lauen Frühlingstag die Natur genießen und sich gegenseitig Gedichte vorlesen. Werthers aufkeimende Liebe und die aller Literaturprofessoren wird dadurch endgültig entflammt. Schließlich glaubt er nach diesem einen Wort, dass Lotte die Liebe erwidert und sieht all die zukünftigen Stunden vor sich, die sie knutschend im Park über der zerfledderten Klopstock-Ausgabe verbringen. Ungefähr so muss sich 1991 ein Teenager gefühlt haben, dessen Schwarm ihm gestand, dass sie auch gerne Nirvana hört.
Die Meta-Aussage über den gemeinsamen Lieblingsschriftsteller bringt die Liebenden zusammen. Literatur, die über die Wirkung von Literatur berichtet und sie darstellt. Sozusagen Kunst über die Wirkung von Kunst.
The Avalanches und wie Scheiße zu Gold wird
Der legendäre, wie gnadenlose Musik-Rezensent Robert Christgau hatte 2001 wohl einen schlechten Tag. Vielleicht schmeckte der Kaffee bei der Village Voice wässriger als sonst oder ein arroganter Praktikant lästerte in Hörweite über die Rolling Stones. Irgendwas muss ihn jedenfalls dazu gebracht haben, dass ihm zu Since I left you von The Avalanches nur „smart crap“ einfiel.
Die längere Geschichte dazu geht so: Das Debütalbum der Band aus Australien besteht aus bis zu 3.500 Samples, die von quasi überall stammen. Allerdings, und darauf bezieht sich Christgau, herrscht ein Übermaß an trashigen und obskuren Discosongs. Für sich genommen wäre keiner dieser Songs besonders interessant. Erst in der Neubearbeitung und Reduktion auf den einen guten Moment durch die Band bekommt jedes Sample auf einmal Zweck und Funktion, den es alleine oder in einem anderen Kontext nicht hätte. Das Ergebnis ist wohl eher Kunst aus Kunst als Kunst über Kunst, wobei der Übergang da sicher fließend ist.
Natürlich existiert auch für dieses Sub-Sub-Genre ein eigener Begriff, der überaus clever gewählt ist: Plunderphonics. Zunächst das englische Wort für „plündern“ von alter Musik und alten Songs. Doch mit einem deutschen Ohr am Wort klingt zudem der „Plunder“ durch, also der Schrott aus dem die Künstler sich bedienen um ihre Musikskulpturen zu erschaffen („smart crap“ eben). Am offensichtlichsten macht das der, wenn nicht beste, doch zumindest lustigste Track des Albums: Frontier Psychiatrist. Die verschiedenen Voice-Samples ergeben tatsächlich ein psychotisches Stimmengewirr bis hin zum komödiantischen Höhepunkt, dem Scratch mit einem Papageiensample.
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Nun haben The Avalanches 2016 ihr zweites Album Wildflower veröffentlicht. Wieder ist es zum Großteil auf Sample-Basis entstanden, doch mit einem wesentlichen Unterschied. Die größere Bekanntheit erlaubte Tony di Blasi und Robbie Chater nun verschiedene Gastsänger mit an Bord zu holen. Da sich die Tracks mit Sänger nun etwas kohärenter um eine Frontstimme aufbauen können, klingt das gesamte Album auch weniger roh als Since I left you. Gut ist es trotzdem.
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And the Oscar goes to … Hollywood!
Hollywood liebt nichts so sehr wie sich selbst. Ein Blick auf die Oscar-Gewinner der letzten Jahre offenbart, dass in diesen unsicheren Zeiten ein Film vor allem dann als wertvoll erachtet wird, wenn er von Hollywood selber handelt. Das erste offensichtliche Beispiel war The Artist, dem überraschenden Gewinner der Academy Awards von 2012. Handwerklich eine durchaus valide Hommage und Neuinterpretation von Stummfilm, wurde der Film mit dem Beigeschmack serviert, dass hier vor allem die eigene Branchengeschichte gefeiert wird. Ohne in Köpfe und Besprechungen der Jury blicken zu können, scheint es nicht abwegig, dass das Wiederkennen der eigenen Branche mit ausschlaggebend war.
Im Jahr darauf gewann Argo, der natürlich vordergründig das Thema Iran und die tapferen amerikanischen Botschaftsmitarbeiter mitten im Umbruch zum totalitären Religionsstaat behandelt. Gefangen in der Residenz des kanadischen Botschafters, fingiert die CIA einen Filmdreh, um die Botschaftsmitarbeiter außer Landes zu schleusen. Eine nette kleine Story, ein solider Film, doch ob es wirklich nötig ist, dafür einen Oscar zu geben? Vielleicht gefiel der Jury die Meta-Botschaft über eine befreiende Wirkung von Filmen gegen Terrorregimes einfach zu gut.
Und schließlich Birdman, der viele Sachen spektakulär richtig macht. Soundtrack und Kameraführung waren denkbar frisch. Leider kanalibalisiert sich der Film sich in seinen Hollywood-Meta-Referenzen. Das beginnt mit Michael Keaton als mittelmäßigem Hauptdarsteller und endet noch lange nicht, als er nackt über den Times Square getrieben wird. Trotzdem ist Birdman der beste einer Reihe von Filmen, die ich als Kunst über den Ort, an dem Kunst entsteht, bezeichnen würde.
Gefangen im Netz II
Zurück in der Spinnenhöhle, werden uns mehrere Dinge bewusst:
Das Schlagwort Kunst über Kunst ist zwar ein verbindendes Element drei Werke, aber ansonsten nur ein vager Oberbegriff für all das Getier, das sich im Meta-Diskurs mit der Zeit ansammelt und abstrampelt. So bleibt es vorerst einer der Begriffe, die zwar irgendwie gut sind, aber auch das Verlangen nach passenderen Worten wecken.
Eine reine, idealistische Sicht, die Kunstwerke „selber sprechen zu lassen“, wie wir es am Anfang mal vorgeschlagen haben, ist nur ein idealistischer Traum. Denn wenn niemand über Kunst redet, bedeutet das schließlich, dass auch niemand da ist, den sie interessiert. Und dann ist Interpretation ja eigentlich ganz cool, solange sie das interpretiert, was wirklich da ist. Trotzdem bleibt sie, wie der Höhleneingang der Spinne, eine etwas zwielichtige Angelegenheit.
Eine andere Auswahl an Werken hätte wohl auch andere Ergebnisse geliefert: Ist zum Beispiel eine Serie wie Rick & Morty erst möglich gewesen, als sich ein Haufen an möglichen Referenzen angesammelt hatte? Die schnelle wäre Ja, die durchdachte wahrscheinlich auch.
Es drängt sich der Gedanke auf, dass wir nur an der Oberfläche eines ganzen Referenz-Universums gekratzt haben. So eine Erkenntnis muss nicht unbefriedigend sein. Kunst ist schließlich eine komplizierte Angelegenheit.