Alle Artikel von Philip J. Dingeldey

Der Spaß am Lesen

Spätestens seit seinem Mammutwerk, dem Roman Unendlicher Spaß, gilt der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace auch in Deutschland als literarischer Gigant. Sukzessive sind seine Werke posthum übersetzt worden, und nun ist in der deutschen Editionsgeschichte seines Œuvres ein Höhepunkt erreicht: Denn jetzt liegt auch die umfangreiche Sammlung sämtlicher Essays vor – ein vielseitiges, stilistisch hochwertiges und durch und durch humorvolles Werk, das Einblick in verschiedene Schaffensphasen und Topoi gibt. Der Spaß an der Sache heißt das von Ulrich Blumenbach herausgegebene Buch.


Vorab sei erwähnt: Editorisch gesehen ist der Band schon eine Besonderheit, denn er fasst die Übersetzungen von drei amerikanischen Essaybänden, und ist damit als einbändige komplette Sammlung ein großes Stück Editionsgeschichte – im Grunde ist diese Gesamtausgabe sogar den amerikanischen Fassungen überlegen.

Der Spaß an der Sache wiederum ist nicht chronologisch, sondern thematisch von Blumenbach untergliedert: in die Rubriken Tennis, Ästhetik, Sprache und Literatur, Politik, Fernsehen, Film und Radio, Unterhaltungsindustrie und alltägliches Leben. Damit ist dies wohl eine der vielseitigsten Sachtextsammlungen. Diese zeigt auch, dass David Foster Wallace über 20 Jahre hinweg ein wahrer Tausendsassa des New Journalism war, ob es sich nun um Auftragsarbeiten von Magazinen handelt, um Reden, Reportagen, Portraits oder eigenständige Reflexionen über den Wert literarischer Arbeit.

Der Autor hat beispielsweise für den Rolling Stone den Vorwahlkampf von John McCain im Jahr 2000, aber auch Radiomoderatoren, die als Hassprediger und Verschwörungstheoretiker fungierten, begleitet, hat ausführliche Rezensionen zum Verfall von Blockbusterfilmen verfasst, sich, schon bevor das Thema fancy wurde, zur Komik von Kafka geäußert, oder auch eine Luxuskreuzfahrt gemacht. All diese Texte weisen eine eigentümliche Ambivalenz auf: Einerseits versucht Foster Wallace wirklich ernsthaft, teilweise absurde Phänomene zu verstehen, nachzuvollziehen und gegen sie zu argumentieren – etwa bezüglich des Bedürfnisses der Superreichen auf einem Kreuzfahrtschiff mal zu entspannen, oder den seltsamen PR-Techniken und moralischen Abgründen von McCains und George W. Bushs Wahlkampfteam –, andererseits ergießt er sich häufig nur so vor höhnischem Witz und Biss.

Zwischen Philosophie und Atmosphärenerzählung

Gerade die Ironie, die sich hinter einer sehr atmosphärischen und bildhaften Erzählweise oder seinem Festklammern an kleinen optischen und eigentlich nebensächlichen Details verbirgt, sorgt dabei jedoch dafür, dass man zwar die Abneigung gegen bestimmte Akteure bemerkt, aber Foster Wallace dabei nie ausfallend oder beleidigend wird. Stattdessen muss man bei Der Spaß an der Sache häufig schmunzeln. Dennoch ist seine Ironie keinesfalls eine postmoderne Ironie, die sich von den beschriebenen Absurditäten abschotten und (pseudo-)cool bleiben will. Denn Foster Wallace nimmt immer Anteil und ist immer mitten im Geschehen. Alles macht er mit, alles wird beobachtet, erfasst und aufgenommen. Er berichtet mit Witz und Charme, ohne kulturrelativistisch, distanziert oder engagiert zu werden. Er hat einfach ein sehr glückliches Händchen, was es heißt, starke Positionen humorvoll und kritisch zugleich zu vertreten oder zu analysieren.

Und gerade durch seinem Fokus auf das Alltägliche, auf die kleinen Details seiner Erlebnisse, gelingt ihm eine enorme stilistische Vielfalt, die zu einer literarischen Aufwertung der Absurditäten des Alltags führt. Angereichert wird dies durch altmodische Gags, von denen er sich den einen oder anderen hätte sparen können, und unzähligen Gedankenschlaufen in Marginalien, Fußnoten und Fußnoten von Fußnoten. Gerade Letzteres hat bei seinen Texten ja Methode. Damit laviert Foster Wallace, wie auch Blumenbach im Vorwort bemerkt, stilistisch irgendwo zwischen komplexen philosophischen Diskussionen, anhand konkreter Objekte und präzisionsfrenetischen, oft auch unübersichtlichen Satzkonstruktionen. Einen größeren Wermutstropfen hat diese Methode dennoch: Indem er sich über zig Seiten hinweg etwa über Kollegen lustig macht, anstatt über das zu schreiben, worüber er und diese Journalisten eigentlich berichten, verliert er häufig den Überblick für das Wesentliche. Jegliche Filterfunktion – die doch, als die Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Informationen, ein, wenn nicht das entscheidende Element eines guten Journalismus‘ ist – ist bei Foster Wallace zugunsten der flüssigen Erzählung deaktiviert. Ab und an gehen so zentrale Thesen, sofern es diese überhaupt gibt, in der Detailliebe unter.

Auch wenn ich ihn, anders als der Mainstream der Literaturkritik, damit nicht für ein Literaturgenie halte (auch Unendlicher Spaß erscheint mir persönlich kaum zugänglich, geschweige denn spaßig), beziehungsweise solche Attribute zeitgenössischen Autoren ungern verleihe, so hat Foster Wallace immerhin mit seinen Essays und Reportagen bewiesen, dass er ein großer Könner des Unterhaltungs- und Kulturjournalismus‘ ist, einer, der aus dem Einfachen gute Literatur machen kann. Bei jemandem, der posthum dermaßen (und teilweise zu Recht) gefeiert wird, sind die Abgründe natürlich nicht weit weg: Schon 2009 warf ihm seine Ex-Partnerin, die Schriftstellerin Mary Karr, vor, er habe sie gestalkt und sei gewaltbereit gewesen. Das tut natürlich seinem literarischen und journalistischen Werk keinen Abbruch, seiner Person jedoch sehr wohl – ein Unterschied, der in Zeiten von #Metoo auch den führenden Feuilletons gerne abhandenkommt.

Der Spaß an der Sache enthält alle Essays von David Foster Wallace in Übersetzung von Ulrich Blumenbach, der den Band auch herausgegeben hat, und Marcus Ingendaay. Die Sammlung erschien am 16. August 2018 bei Kiepenheuer & Witsch und hat 1.087 Seiten.

Coverbild: © Kiepenheuer & Witsch

„Was ist ein Bankraub gegen die Gründung einer Bank?“

Aus der Verfilmung der Dreigroschenoper, dem besten Theaterstück bzw. „Musical“ der Welt, vom großen Bertolt Brecht ist nie etwas geworden – zu sehr unterscheiden sich die Grundlagen des epischen Theaters, das zum kritischen Denken und Hinterfragen einladen soll, und die der Filmindustrie, die Gefühle zeigen und von der Realität ablenken will. 90 Jahre nach der Uraufführung des Stücks hat sich nun der Brecht-Kenner und Regisseur Joachim A. Lang daran gemacht, den Dreigroschenfilm endlich zu drehen. „Mackie Messer. Brechts Dreigroschenfilm heißt jetzt das Werk. Daraus wurde der beste Film der vergangenen Jahre, vielleicht sogar der beste Film überhaupt. Eine Liebeserklärung!


Gemeinsam mit dem Komponisten Kurt Weill (dargestellt von Robert Stadlober) will Brecht (gespielt von Lars Eidinger) das Werk für die Leinwand überarbeiten. Das Stück ist im 19. Jahrhundert angesiedelt. Der Räuber Macheath, genannt Mackie Messer (Tobias Moretti), brennt darin mit Polly Peachum (Hannah Herzsprung), der Tochter des Bettlerkönigs Jeremiah Peachum (Joachim Król), durch. Daraufhin veranlasst Letzterer mit der Drohung eines Bettleraufstandes und der Bestechung von Prostituierten, Mackie festzunehmen und zu hängen. Macheath kann nur durch einen Verfremdungseffekt gerettet werden: einer königlichen Begnadigung. Das Werk nach Brechts Vorstellungen zu verfilmen, scheitert aber schnell an den unterschiedlichen Absichten von Autor und Produktionsfirma: Während Brecht den außergewöhnlichsten Film aller Zeiten machen will, verfolgen die Produzenten von Nero-Film rein wirtschaftliche Interessen, wollen daher die Konventionen der filmischen Verblödung pflegen und haben Angst vor politischer Zensur. Die Parteien ziehen sogar vor Gericht.

Foto: © Stephan Pick

Lang ist etwas Großartiges gelungen, etwas, das man dem Film kaum noch zugetraut hätte – ganz besonders einer deutschen Produktion, gilt der deutsche Film heute doch als seichte und redundante Bespaßung einer vergreisten Gesellschaft. Der Regisseur liefert tatsächlich die filmische Adaption eines epischen Theaterstücks, das es an Graden der Verfremdung – seltsamer Elemente, die den Zuschauer darauf hinweisen, dass es sich um ein Stück handelt, der daraufhin auf Distanz zum Gezeigten geht und erkennen soll, dass die Realität änderbar ist – mit dem epischen Theaters aufnimmt. Der experimentelle und gesellschaftskritische Film hat hiermit einen Höhepunkt gefunden.

Denn Lang hat nicht einfach das Drehbuch des Dreigroschenfilms auf die Leinwand gebracht. Vielmehr zeigt er, wie Brecht und seine Freunde sich das Werk erarbeiten und um mit Nero Film kämpfen und prozessieren. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Film im Film, sondern um eine ständige Interaktion und Verwischungen der Fiktionsebenen, bis hin zum kompletten Umfallen der vierten Wand und Appellen an das Publikum. Gerne unterbrechen sich etwa die Filmebenen gegenseitig, vor allem während des Singens, damit die Lieder auch ja nicht zum Einfühlen und Schunkeln einladen, wie es leider bei so mancher Aufführung der Dreigroschenoper in den vergangenen Jahren der Fall war.

Dabei wird sogar der Gerichtssaal schließlich zur Theaterbühne und soll den Verfall der Kunst zu einer Ware im kapitalistischen Prozess der Kulturindustrie zeigen. Brecht wollte damit die Wirklichkeit inszenieren, und Lang liefert mit einiger Verspätung die dramaturgische Darstellung dazu. Durch die zahlreichen Verfremdungseffekte und indem Lang die Hintergründe des Dreigroschenfilms darstellt und zeigt, wie die Protagonisten selbst zeigen und inszenieren, hat er das geschafft, was bisher als unmachbar galt: dass der Film im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit an die künstlerische Qualität und Kritikfähigkeit des modernen Theaters heranreicht. Das erfordert vom Zuschauer natürlich mehr als nur zu glotzen. Es erfordert eine Reflektionsfähigkeit, die Fähigkeit zu sehen, kurz: Es erfordert den Spaß an einem Lernprozess statt banaler Unterhaltung. Es erfordert also genau das, was Brecht wollte. Chapeau! Übrigens ist es dazu nicht einmal nötig, die Dreigroschenoper tatsächlich schon gesehen zu haben, da Handlung und Unterschiede zum Film in Mackie Messer herausgearbeitet werden.

Foto: © Stephan Pick

Der Film wäre natürlich nicht so gut, ohne die zum größten Teil grandiose Darstellung der Protagonisten möglich gewesen. Eidinger beispielsweise spielt den Brecht nahezu perfekt. Optisch scheint er ein Spiegelbild des Brechts der 1920er und 1930er zu sein. In gewisser Weise wirkt er also authentisch. Auch sein Text ist nicht ausgedacht: Lang hat aus dem Werk Brechts und überlieferten Zitaten den Text des filmischen Protagonisten Brecht zusammengeschnitten. Alle Aussagen Eidingers sind also Brecht-Originale. Die haut der Schauspieler in einem ruhigen, mal ernsten, mal vor Ironie beißenden Ton heraus und sorgt so für eine Pointe nach der anderen: etwa wenn er die Filmgesellschaft, Journalisten oder das Gericht vor den Kopf stößt, teils auch mit Obszönitäten, die die Wirklichkeit seiner Leser widerspiegeln sollen. Eidinger gelingt es dabei, ein originalgetreues Bild zu zeichnen. Denn Brecht wird bei ihm einerseits zu einem marxistischen Macho, andererseits zu einem sehr empfindsamen Denker, der versucht, sich in einer Ära der Kulturreaktion zu behaupten.

Andererseits wird die Rolle selbst verfremdet, wenn Eidinger versucht, wie Brecht zu singen, mit schwäbischen Akzent und einem rollenden R, was einfach nur gelungen seltsam klingt. Hervorzuheben ist auch Herzsprung als Polly. Sie durchläuft im Film, anders als Polly in der Dreigroschenoper, eine starke Wandlung: vom verliebten und naiven Mädchen voller Sinnlichkeit und zarter Gesangsstimme zur knallharten Bankerin, die anstatt Räuberbraut zu werden, eine Bank kauft und mit dem Kapital Mackie freikauft. Gerade Herzsprung hat damit eine anspruchsvolle Rolle, denn sie muss sich nicht nur als Polly im Dreigroschenfilm wandeln, sondern spielt auch noch in der Rahmenhandlung die Schauspielerin Carola Neher. Ähnliches gilt für Moretti, der aus dem Räuber Mackie Messer schließlich den bourgeoisen Banker Macheath macht.

Foto: © Stephan Pick

Die neue Wende des Films ist, wie alles andere auch, eine beachtliche Leistung Brechts, wenn er den Film umschreibt und die Räuber sich in Banker verwandeln lässt. Der kapitalismuskritische Satz von Mackie am Ende der Dreigroschenoper, was denn ein Bankraub schon gegen die Gründung einer Bank und ein Mord im Vergleich zu einer Aktie sei, wurde für den Film wörtlich genommen. Die Grenzen zwischen Bourgeois und Räuber verwischen. Zum Finale hat Lang diesen Wandel erfolgreich in einer Analogie dargestellt, indem die Räuber über eine Brücke gehen und als Banker im neoliberalen 21. Jahrhundert ankommen. Hier schließen Staat und Räuberbank Frieden und sperren das soziale Elend ins Dunkel.

Der Film wäre natürlich ein Flopp, wenn die Musik nicht gut gespielt wäre. Das SWR-Symphonieorchester ist jedoch in Höchstform, schon beginnend mit einem eindringlichen Zweiten Dreigroschenfinale, aus dem der bekannte Satz „Erst kommt das Fressen, und dann kommt die Moral“ stammt. Dies singt Moretti übrigens überwältigend. Doch auch die meisten anderen Schauspieler (außer Król, der als Peachum nicht akzentuiert genug singt) stehen ihm im Gesang in nichts nach: zum Beispiel Britta Hammelstein als die Prostituierte Seeräuber Jenny. Die Basis für die große musikalische Leistung liefern die Komponisten Walter C. Mair und Kurt Schwertsik. Denn das musikalische Finale, wenn sich die Räuber in Banker verwandeln, liegt von Weill nicht vor. Es gibt nur den Text von Brecht. Also haben die Filmkomponisten im Stile Weills die Noten dafür geschrieben. Doch man merkt kaum den Unterschied zwischen ihrer Komposition und den Schlagern Weills, die durch ihre Leichte, abgewechselt von schroffen Akkorden und tonalen Brüchen, ein bizarres Verhältnis zu den derben Liedtexten eingehen.

Foto: © Stephan Pick

Es wäre also fast eine große Ironie, wenn dieser experimentelle, bunte und vielschichtige Film tatsächlich einen Oscar (also den Preis der Kulturindustrie schlechthin) als bestes fremdsprachiges Werk gewinnen würde. Auf der deutschen Auswahlliste steht er zumindest schon einmal. Lang und sein Team haben in mehrfacher Art das geliefert, was Brecht-Fans nicht zu hoffen wagten: erstens, den deutschen Film in einer großen Produktion künstlerisch zu retten, zweitens, den Film Brechts in epischer Form zu drehen, und drittens, dabei Brecht selbst zu inszenieren. Die Arbeit dieser Nachgeborenen ist gelungen, das Meisterwerk ist vollendet! Denn – und das habe ich bisher noch nie über ein dramatisches Werk von jemandem gesagt, und werde es wohl so schnell nicht wieder tun –: Dieser Film reicht an das Werk Brechts heran.

Mackie Messer. Brechts Dreigroschenfilm kam am 13.9.2018 unter der Regie von Joachim A. Lang in die Kinos, wurde von Zeitsprung Pictures, dem SWR und Velvet Films realisiert und hat eine Spieldauer von 131 Minuten. Eine zweiminütige Kurzfassung ist online verfügbar:

Quelle: YouTube
Beitragsbild: © Stephan Pick

Billers Britney-Banalität

Manchmal fragt man sich, wie es ein Roman in die Feuilletons der Mainstream-Presse und auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises schafft, außer dass dahinter ein prominenter Autorenname steht. Ein solcher Roman ist auch Maxim Billers Sechs Koffer.

Die Welt fragt, ob es sich dabei um eine autobiographische jüdische Version der Buddenbrooks handelt. Noch vollmundiger titelt Die Zeit, es handle sich um einen kafkaesken Familienroman. In Wahrheit ist das Buch zu Familiengeheimnissen und der Frage, wer Held und wer Verräter ist, eine konventionelle Banalität an die andere gereiht.


Sechs Koffer handelt von der Geschichte einer jüdischen Familie in Tschechien zur Zeit des Kalten Krieges. Aus sechs Perspektiven erzählt der Roman von einer Familiendenunziation, nämlich der Frage, wer 1960 den Großvater an die Sowjetunion verraten hat, um selbst zu überleben. War es einer seiner Söhne oder die traurige Schwiegertochter oder der Familienpatriarch und Schwarzhändler, der einen Kopf aus der Schlinge ziehen wollte? Einer dieser ex-post-Perspektiven wird von Biller selbst als Enkel eingenommen.

Durch die sich langsam, aber nicht komplett aufklärenden Abgründe einer Familie zwischen zwei Systemen, soll sich angeblich dem Leser die Frage stellen, wie er sich selbst in solchen moralischen Dilemmata verhalten würde. Doch damit so etwas gelingen könnte, bräuchte es einen viel besseren, tiefgehenden und distanzierteren Roman als Billers Geschwurbel. Auf dem sehr knappen Raum von 200 Seiten will der Autor uns über sechs Menschen aus drei Familiengenerationen berichten. Und das Ganze liefert zwar eine schöne Beschreibung der Atmosphäre, von Lebensgefühlen und Wünschen sowie der Kulturen des zeitgenössischen Prag, Zürich oder Hamburg; aber diese Ergüsse der konventionellen Einfühlung unterminieren ein Hineindenken in die Handlung und nehmen wertvollen Platz für die inhaltliche Auseinandersetzung.

Eine solche Auseinandersetzung entsteht auch nicht, da die Perspektiven immer und sehr unübersichtlich wechseln. Motive zu durchschauen oder gedanklich nachverfolgen zu können, bleibt so kaum möglich – vielleicht weil Biller sie selbst nicht ganz versteht. Das einzige Positivum an dem Büchlein ist tatsächlich, dass es den Leser bis zuletzt rätseln lässt, wer der Verräter ist.

Ichzeit versus Essayzeit

Auch stilistisch ist Sechs Koffer eher konventioneller Durchschnitt – nicht unbedingt schlecht, aber ganz sicher keine Besonderheit oder Rarität in der deutschen Literaturlandschaft, auch wenn der Roman gerade als solche gefeiert wird. Den durchaus flüssigen und anständigen Schreibstil an jeweilige Protagonisten anzupassen, gelingt Biller nicht immer überzeugend. Und die angestrebte Tiefe der atmosphärischen Beschreibung kann der Autor so nicht erreichen – zu sehr hängt er an der Optik und dem Konsumismus der Protagonisten fest. So wird ein Roman über menschliche Abgründe und moralische Fragen im Angesicht der politischen und ökonomischen Macht weitgehend eine optische Beschreibung. Die sonst so gelobte schonungslose Selbstkritik in den autobiographischen Büchern von Biller, sie fehlt hier größtenteils.

Schon 2011 hat Biller in einem Essay die gegenwärtige Literaturepoche großspurig als Ichzeit tituliert. Das soll heißen, der heutige Schriftsteller solle distanzlos und autobiographisch über das Ich und dessen Abgründe schreiben und zwar in Schockmomenten – Literatur müsst also weniger wie Balzac und mehr wie Britney Spears bei der Kopfrasur sein, der niveauvolle auktoriale Erzähler habe nichts mehr in der Prosa verloren. Eine solche Distanzlosigkeit und der Fokus auf die Britney-Banalität und das rein Äußerliche in solchen Erschütterungen scheint er auch in diesem Werk praktisch umzusetzen. Immer wieder habe ich dieser Literaturtheorie widersprochen – zuletzt hier. Was übrig bleibt in solch einer Ichzeit, ist eine Einfühlung, die ergreifen kann, aber das Denken und die Kritik im Spektakel aberzieht. Genau deswegen kann die moralische Frage, die in Sechs Koffer dem Leser gestellt werden soll, nicht wirklich gestellt werden – zu sehr bleibt er in der Atmosphäre, den Gefühlen der Protagonisten und den oberflächlichen Betrachtungen zu tschechischen Filmen, Sexshops oder Zigarettenmarken gefangen. Es ist also im Grunde schon ein Sakrileg, wenn eine Figur wie Biller sich immer wieder in Sechs Koffer auf den großen Bertolt Brecht bezieht, der doch nichts mit einer solchen lahmen literarischen Methode am Hut hat.

Biller bietet also nichts anderes als Kulturindustrie, die als Verblendungszusammenhang einen auf tiefsinnig macht. Um Kritik und Denken in der Literatur nicht obsolet werden zu lassen, war mein Gegenmodell die Essayzeit, ein Genrehybrid, in dem der Protagonist verfremdet wird und der Leser überraschend in eine Distanz zur Handlung gestellt wird. Doch mit Denken und Distanz hat Sechs Koffer nicht viel zu tun. Biller fehlt dabei aber sowohl die tiefe Melancholie von Thomas Manns Buddenbrooks als auch die absurde bürokratische Komik und Verfremdung eines verständnislosen Subjektes, wie man es bei Franz Kafkas Œuvre findet. Wenn Medien aber Billers Roman mit solchen Klassikern des Literaturkanons vergleichen, so feiern sie mit dieser falschen Ehrung nichts als ein Element des literarischen Verfalls in der Postmoderne, in der es um Identitäten und Gefühle geht statt um Kritik und Wahrheit.

Sechs Koffer von Maxim Biller erschien im Verlag Kiepenheuer & Witsch, hat 200 Seiten und steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018.

Beitragsbild: © Kiepenheuer & Witsch.

Der widersprüchliche Humorist

Meistens bringen Jubiläen zu Geburtstagen von öffentlichen Personen oder historischen Großereignissen für den Buchmarkt nur die massenweise Aufwärmung biographisch und wissenschaftlich bereits gut aufgearbeiteter Themen. Doch hin und wieder werden dadurch auch großartige neue Standartwerke geschaffen. Zu letzterem gehört Stephan Parkers Biographie Bertolt Brecht anlässlich des 120. Geburtstags des Schriftstellers. Dies ist ein umfangreich recherchierter großer Wurf.


Als britischer Germanist war Parker bislang als Spezialist für die Literaturzeitschrift Sinn und Form bekannt. Mit seinem neuen, über 1.000 Seiten dicken Buch legt er eine vollständige Biographie des großen Bertolt Brecht vor, ohne sich in ideologischen Spielereien zu verlieren. In fünf Teilen geht Parker von Brechts Jugend in Augsburg und ersten Gedichten, über frühe dramatische Versuche im Stile des experimentellen oder epischen Theaters, das auf Vernunft und Kritik statt auf Emotion und Katharsis setzt, über sein marxistisches Engagement, seine Flucht vor den Nazis, über Finnland und die USA und seine späteren Probleme mit einer die Kunst zensierenden DDR. Doch Parker bleibt nicht nur bei Brechts literarischen, theoretischen und politischen Arbeiten stehen: Dazwischen geht es auch immer wieder um gesundheitliche Probleme, Frauengeschichten, Anekdoten und Streitereien mit zahlreichen anderen Intellektuellen.

Parkers Ziel ist es nämlich nicht, den literaturwissenschaftlichen Fokus auf Brecht als (unorthodoxen) Marxisten beizubehalten, sondern diese Einseitigkeit aufzubrechen, und damit die Darstellung einer so vielschichtigen Figur plastisch und kontextualisiert darzustellen – zugegeben, ich habe selbst Brecht vornehmlich als politischen Autor behandelt. Damit gelingt es ihm, dass er weder politische noch literarische Ambitionen und Arbeiten herunterstilisiert, noch Brechts Persönlichkeit als manischer Dichter zwischen Appetit, Lust, Askese und schwacher Gesundheit, zwischen Machotum, Sarkasmus, Aggressivität und Sensibilität zu kurz kommen.

Zwischen Revolution und Humanismus

Dabei zeigt der Biograph, dass er fähig ist, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen, das meist affirmativ, aber hin und wieder auch kritisch ist – etwa bezüglich Brechts krassen Reaktionen auf Konkurrenten oder ihn ablehnende Frauen. Dabei stellt Parker Brecht als einen widersprüchlichen Humoristen und Gesellschaftskritiker dar. Und all das passiert in einem flüssigen, verständlichen Stil, der gleichzeitig breite Kenntnisse und wissenschaftliche Integrität beinhaltet.

Bertolt Brecht, widersprüchlicher Humorist.

Als einziges Manko des Buches, abseits weniger Kleinigkeiten, gilt eigentlich nur, wie Parker Brechts literarische Schaffensphasen einteilt. Er geht davon aus, dass mit Brechts Theaterstück Mutter Courage und ihre Kinder eine Wende in seinem Werk stattfinden würde; nämlich weg von einem revolutionären Marxismus, der Gewalt als Notwendigkeit begreift (wie in früheren Werken wie Die Maßnahme) hin zum pazifistischen Humanismus. Zwar stimmt es, dass Brecht stets gegen den Krieg war, aber nicht gegen die Revolution (die zwangsweise Gewalt inkludiert). Denn das nach der Mutter Courage erschienene Stück Der gute Mensch von Sezuan, auf das Parker erstaunlicher Weise kaum eingeht, ist dann doch wieder in einem kritisch-revolutionären Duktus geschrieben.

Bis auf solche Vereinfachungen, hinter der durchaus Parkers Wunsch stehen kann, den von ihm verehrten Brecht zum Humanisten zu machen, ist das Buch doch eine der besten Biographien, die je über den großartigen Schriftsteller geschrieben wurde. Das ist etwas, das viele deutsche Germanisten und Experten stören könnte, kommt dieses Buch doch von einem Briten. Ein großartiges Werk über einen großartigen Dichter.

Bertolt Brecht. Eine Biographie von Stephen Parker erschien in Übersetzung von Ulrich Fries und Irmgard Müller im Suhrkamp Verlag und hat 1.030 Seiten.

Beitragsbild: Berliner Ensemble, © Moritz Haase.

Lyrik des Prekariats

Die deutsche Lyrik wird inzwischen dominiert von lieblichen Heile-Welt-Schilderungen oder banalen konsumistischen Poetry-Slams. Schluss damit! Fabian Lenthes Gedichte über das urbanisierte Prekariat liefern einen gelungenen Gegenentwurf, was Lyrik sein kann und soll.


Auch abseits des Poesie-Mainstreams um die wenigen prominenten Lyriker herum, erscheinen ab und an Dichter, die einem kaum beachteten Genre neue Perspektiven verleihen können, oder verlorengegangene Blickwinkel wieder eröffnen. Die sehr düstere Perspektive eines meist abgehalfterten lyrischen Ichs bietet uns beispielsweise Fabian Lenthes Debüt In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel. Ganz anders als die populäre pseudotiefsinnige Wohlfühllyrik geht es in diesem Band um wahre gesellschaftliche Abgründe. Und genau das ist erfrischend für die sonst so brave deutsche Gedichtelandschaft.

Einhundert unterschiedliche lange und nichtbetitelte Gedichte liefert Lenthe in seiner neuen Sammlung. Ansonsten kommt deutsche Lyrik entweder gerne daher mit vermeintlich feinsinnigen Beobachtungen, überschätzten Naturbeschreibungen oder den mehr oder weniger banalen Darstellungsformen bei Poetry Slams, in der selbst die abstrakteste Literaturform noch in den Häppchen der Kulturindustrie konsumierbar gemacht wird (en passant sei bemerkt, dass all dies nach Auschwitz in der Lyrik, zumal der deutschen, eigentlich nichts verloren hat). Doch in selten beachteten Gedichtbänden wie In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel geht es ums Ganze, um die harten Probleme des urbanisierten Prekariats: sei es die Einsamkeit in einer überfüllten Stadt, seien es materielle und finanzielle Nöte, sei es das schwierige Zusammenleben in heruntergekommenen Gegenden, seien es Alkoholismus, Beziehungsprobleme, Motivationslosigkeit und Depressionen oder das Gefühl, schlicht abgehängt zu sein.

Schonungslos reflektiert jeweils das lyrische Ich über die Abgründe des eigenen Lebens. Gewiss, die Vulgarität und Härte der Gedichte von Charles Bukowski, in dessen Tradition der Band inhaltlich und stilistisch in großen Teilen zu stehen scheint, erreicht Lenthe nicht. Doch das ist auch nicht nötig, um den braven Lyrikkonsumenten mit der sozialen Rohheit aus dem Schönheitsschlaf zu wecken.

Ein schöner Tag in der Hölle

Ausgangspunkt ist meistens eine alltägliche Beobachtung, die räumlich und zeitlich recht beschränkt ist: Es kann sich dabei um eine Warteschlange im Supermarkt des Problembezirks handeln, um die Einsamkeit in einer spärlich eingerichteten Wohnung, einen Mangel an Bier, oder eben eine verdreckte Pfütze, die in dieser Welt immer noch als Hoffnungsschimmer geilt. Solche kleinen Schimmer, die Lenthe immer wieder einmal aufblitzen lässt, markieren die Dialektik einiger guter Momente von kurzer Dauer zwischen langen Phasen der Verzweiflung – Momente, an die sich nostalgisch geklammert wird, aber die freilich nicht nachhaltig helfen. Es gibt eben kein Richtiges im Falschen!

Auch Lenthes Stil wirkt auf den ersten Blick nicht aufsehenerregend, abgeklärt, manchmal auch hilflos. Doch genau so sind auch die lyrischen Ichs. Anders könnte es nicht sein. Die gewählten Metaphern sind auch meist offensichtlich. Spannend ist dabei aber, wie er einem finsteren, stinkenden Alltag mit einem Dreh erforscht. Meist hängt Lenthe nämlich ein Gedicht plastisch an einer dominanten Metapher auf und denkt das mal mit einem tragikomischen Witz, mal mit einer banalen, aber auch rohen Beobachtung zusammen. Das einfache und harte Leben braucht eine einfache und harte Sprache. Dem Autor gelingt somit zweierlei: Erstens, seine Verse sind verständlicher und weniger chiffriert als die vieler anderer Gedichte; und zweitens, konstruiert er aus dem Ideal der sprachlichen Einfachheit meist eine tiefere doppelbödige Momentaufnahme eines „schöne[n] Tag[es] in der Hölle“, wie es in einem der Gedichte heißt.

Zu lange wurden materielle Fragen und die Probleme der Unterschicht im Kultursektor marginalisiert; nehmen sie schon in der Prosa keine sonderlich prominente Rolle ein, so werden sie in der Lyrik als erhabene Literaturgattung noch weniger beachtet – und wenn doch, dann eher anhand des jammervollen, selbstmitleidigen Blickes auf einen Schicksalsschlag. Dennoch gibt und braucht es eine materielle und damit auch fassbare Lyrik. Eine solche findet man ab und an bei Kleinverlagen. Und ein solches Projekt ist Lenthes Buch.

„In den Pfützen der Stadt wächst ein Stück Himmel“ von Fabian Lenthe erschien 2018 bei Rodneys Underground Press und hat 116 Seiten.

Beitragsbild: © Rodneys Underground Press

Der Kitsch der Exzentrik

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Manchmal scheint es schon auszureichen, um für einen Film eine Auszeichnung in Cannes zu bekommen, wenn man einen künstlichen (dafür weniger künstlerischen) Roadmovie produziert, um sich selbst zu feiern, anstatt zu informieren und zu unterhalten. Denn genau mit dieser Strategie haben der junge französische Streetart-Künstler und Fotograf JR und die 90 Jahre alte Regisseurin Agnés Varda zusammen einen Film gedreht, der auch noch für einen Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert war. Augenblicke: Gesichter einer Reise heißt der einschläfernde Film, der jetzt in die deutschen Kinos kommt und der die beiden Figuren und ihre Werke durch ganz Frankreich begleitet.


In Augenblicke macht sich das ungleiche Duo auf die Reise, um filmisch zu begleiten, wie JR die Gesichter von verschiedenen Franzosen fotografiert und dann im überlebensgroßen Format an Fassaden klebt. Dazu geben die beiden Künstler den Abgebildeten die Möglichkeit, etwas über sich, ihre Arbeit und ihr regionales Umfeld zu erzählen. Abgerundet werden die einzelnen Etappen entweder von unzähligen Selfies irgendwelcher Touristen, arrangierten Partys oder dem angeblichen Reflektieren der beiden Künstler. Insgesamt tut es einem Land wie Frankreich, das kulturell sehr stark von Paris dominiert wird, natürlich gut, wenn einmal auch kleine Dörfer und selten betrachtete Perspektiven und Menschen zum Zuge kommen. Denn von der letzten Bewohnerin einer früheren Minenstadt, über ausgestorbene Dörfer, einsame Bauernhöfe, verarmte Hippierentner, Frauen in Männerberufen, bis zu Fabrikarbeitern, bildet der Roadmovie alles ab. Über dem Film schwebt dabei stets das traurige Schicksal Vardas, die langsam erblindet und mit dem jungen, exzentrischen JR konfrontiert wird.

Die Fotografierten werden zu Objekten

Was zunächst wie ein recht abwechslungsreiches Portrait der Franzosen wirkt, ist doch nur eine einzige Banalität, sowohl in inhaltlicher als auch künstlerisch-stilistischer Hinsicht. Es macht zwar durchaus Sinn, will man in so großem Stil Leute portraitieren, wie JR es tut, auch deren Geschichten einmal filmisch aufzuzeichnen, aber um dies auf einer tieferen Ebene zu tun, fehlt die Zeit in dem nicht ganz anderthalb Stunden langen Stück. Jeder Protagonist bekommt lediglich die Möglichkeit, einige Sätze zu seinem Leben und seiner Arbeit zu sagen, ohne dass dabei etwas besonders Erwähnenswertes, Lernenswertes, Interessantes, Neues oder Unerwartetes offenbart wird. Primär werden hier Stereotype reproduziert, von Figuren, die in irgendeiner Weise, freiwillig oder unfreiwillig am Rand der Gesellschaft stehen. Wie genau diese Menschen sich damit auseinandersetzen, wird bestenfalls gestreift, was durch die gelegentliche Absurdität des Schnittes und den unkommentierten Widersprüchen in den Reden der Akteure nicht einer gewissen Komik entbehrt. Es scheint, als ob für die Filmemacher die Portraitierten bis zum Schluss nur Objekte ihrer Kunst bleiben, Objekte, denen sie keine Plastizität, kein Leben einhauchen wollen oder können. Denn viel wichtiger scheint den Filmemachern zu sein, wie sehr die Fotografien gefeiert werden, denn dies wird stets ausführlich dargestellt. Und wem diese Tour der Oberflächlichkeit und Selbstgerechtigkeit noch nicht reicht, der bekommt noch tautologische Kommentare bei pseudotiefsinnigen, aber allzu affektiert und arrangiert wirkenden Dialogen der beiden Künstler serviert, wobei sie dann immer sitzend dezent von hinten gefilmt werden, um ihren nachdenklichen Blick in die Ferne zu unterstreichen. Der Höhepunkt dieser Lächerlichkeit ist, dass die Regielegende Jean-Luc Goddard, früherer Freund von Varda, sich nicht mit ihr im Film treffen will, worüber sie sich echauffiert und stark verletzt zeigt. Wow, inhaltsloser und überheblicher geht es kaum – dabei wollen die beiden doch unbedingt in ihrer Kunst aufgehen.

Doch auch die künstlerischen Elemente von Augenblicke vermögen die Plattheit des Filmes nicht auszugleichen. JRs Fotographien in schwarz-weiß sind nicht gerade die hochkulturelle Kunst, bestenfalls eine riesige Fassadendekoration. Die Lebensbejahung der Bilder, besonders wenn dabei Menschen gezeigt werden, die sich sogar ihre Hoffnung noch einreden müssen, ist dabei doch nur Kitsch – also ein Kitt, der alles Kritische, der all die Risse, die durch die gezeigte Gesellschaft gehen, überdeckt. Raum für Kritik und Sorgen würde der Film nämlich genug geben, aber die Form des Werkes zerstört auch diese Chance. Denn viel wichtiger ist dabei, dass JR seine exzentrischen Spleens kultiviert, etwa immer seine Sonnenbrille aufbehält (man fragt sich, wen genau das eigentlich interessieren muss), oder die Pseudotragik der Erblindung von Varda, die doch durch Bildkunst lebte. Auch der Stil des affektierten Formats zeigt, dass es bei der Tour fast nur um die beiden Künstler geht und nicht um die festgehaltenen Augenblicke und die abgebildeten Personen.

Eine vermeintliche Avantgarde beschäftigt sich in der französischen Filmkunst wieder einmal mit sich selbst, unter dem Vorwand, etwas Fein- und Tiefsinniges zu produzieren, wenn sie Film und Fotografie mischt – so als ob dies noch eine innovative Idee wäre. Und dann glauben die Selbstgerechten auch noch, das Publikum müsste sie feiern, wie es die Jury in Cannes 2017 tat.


Beitragsbild: Street-Art-Künstler JR und Regisseurin Agnès Varda vor einem Fotokunstobjekt im Dokumentarfilm Augenblicke: Gesichter einer Reise

Im wirren Strudel der Ideen

Nachdem bereits der im Januar dieses Jahres in Deutschland erschienene erste Band von Haruki Murakamis Roman Die Ermordung des Commendatore für Furore sorgte, ist nun der zweite Band mit dem Untertitel Eine Metapher wandelt sich herausgekommen. Schon der erste Band war im Vergleich zu sonstigen Werken des gefeierten japanischen Schriftstellers recht banal und langatmig. Es blieb zu hoffen, dass der zweite Band die Buchreihe retten würde. Doch auch diese Hoffnung hat Murakami enttäuscht.

Zur Erinnerung: Philips Besprechung des ersten Bands findet ihr hier.


Band zwei schließt direkt an die Begebenheiten des ersten Parts – diese Ereignisse zu nennen, wäre zu viel des Guten, denn im Grunde hatte sich bislang nicht viel ereignet – an. Der Ich-Erzähler, ein namenloser Porträtist, der in einer japanischen Provinz im Haus des Vaters eines früheren Kommilitonen wohnt und dessen Scheidung gerade am Laufen ist, soll die 13 Jahre alte Marie porträtieren und das Mädchen dabei dem reichen Exzentriker Menshiki näherbringen, der vermutet ihr Vater zu sein. Daneben versucht der Künstler, gebannt von dem Bild Die Ermordung des Commendatore, das Tomohiko Amada, der Vater des Freundes, in dem Haus gemalt und versteckt hat, der Biographie Amadas nachzuspüren sowie dessen traumatischer Vergangenheit im erfolglosen Widerstand gegen das NS-Regime während seiner Zeit in Wien.

Daneben erscheint ihm immer wieder eine groteske kleine Figur, eine Miniatur des Commendatore aus dem Bild, die eine Idee darstellt und rätselhafte Tipps gibt. Schließlich entstehen natürlich diverse Komplikationen und der Ich-Erzähler wird von diesen, in deren Mitte er sich durch Passivität befindet, mitgerissen, was ihn, wie so oft bei Murakami, in Parallelwelten führt, um Marie, die vermeintlich in Schwierigkeit ist, zu retten. Der Porträtist gelangt so in die dunkle und enge Welt der Ideen und Metaphern, voller unterbewusster Gefahren und Fallen.

Murakami, der doch auch ein Meister der Kurzprosa und des pointierten und gleichzeitig melancholischen Schreibens ist, kommt leider auch in Band zwei nicht zum Punkt. Das und die Belanglosigkeit vieler Handlungsstränge waren schon im ersten Band ein Problem. Allzu lange beschäftigt er sich mit den Bemerkungen eines nicht besonders willensstarken und fast schon flachen Charakters des Ich-Erzählers und seinen Wahrnehmungen der anderen Protagonisten. Die Auflockerungen durch das unregelmäßige Erscheinen des Commendatore, die wohl bizarr sein sollen, wirken dabei auch nur lächerlich.

Zwischen Nationalsozialismus und Ehebruch

Im Grunde plätschert ein Großteil des Romans vor sich hin, während sich die verschiedenen Erzählstränge ziemlich berechenbar und ohne sonderliche Wendepunkte fortentwickeln. Besonders absurd wirkt dabei das Ende. Der Porträtist muss, um ein Schicksal zu erfüllen und Marie zu retten, den Commendatore vor den Augen des geistig umnachteten Amada ermorden, um das Bild nachzuvollziehen und in die Ideenwelt zu gelangen. Dadurch soll er Marie retten, die verschwunden ist, aber im Endeffekt nur in einer sehr misslichen Lage ist, da sie Menshiki hinterherspionierte. Die Ideenwelt hält dabei Reminiszenzen an Murakamis Roman Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt bereit, und die Ereignisse um die Geliebte des Ich-Erzählers schließen nahtlos an seinen grandiosen Roman Afterdark an. Im Vergleich zu diesen beiden Werken, die man getrost zumindest als höchst lesenswert bis meisterhaft titulieren kann, bleiben die Schilderungen des Mysteriösen und Fantastischen verhältnismäßig blass, passend zum langweiligen und willensschwachen Hauptprotagonisten. Getoppt wird diese Blässe nur noch durch Murakamis Vorliebe für große weibliche Brüste, etwas das immer wieder und nicht so subtil wie in seinen anderen Büchern eine dominante Rolle spielt.

Das einzig Spannende, aber auch Spekulative an Die Ermordung des Commendatore bleibt die Frage, inwiefern die Ereignisse, etwa der Abstieg in die Ideenwelt und Maries Rettung durch den Commendatore, zusammenhängen und was überhaupt in den Bänden geschehen ist, was erzählenswert wäre, außer dass der Porträtist technisch-künstlerisch Fortschritte gemacht hat. Der Ich-Erzähler ist gefangen in einem wirren Strudel, den die Ideen und Figuren, die ihn umgeben, die er aber nicht ausreichend versteht, konstruieren. Immerhin regt dies, wenn man schon die vielen hundert Seiten der beiden Bücher durchgelesen hat, zum weiteren Nachdenken an, und die Lösung ist wohl irgendwo zwischen dem Nationalsozialismus, bildender Kunst, klassischer Musik und unehelichem Sex zu finden – es hätte wohl doch ein bisschen präziser und pointierter sein können.

Sprachlich und stilistisch ist Band zwei gelungen, ähnlich wie Band eins, dennoch scheint Murakami auch hierbei momentan nicht auf seinem sonstigen Niveau zu sein. So gelingt es ihm nicht mehr, Romantik, Sehnsucht, Mystik und existenzielle Fragen der Freiheit zusammenzudenken und poetisch, verdichtet zum Ausdruck zu bringen. Realistisch und feinsinnig beobachtet schildert er zwar die Wahrnehmungen des Ich-Erzählers, die natürlich von seinen künstlerischen Fähigkeiten definiert sind, aber der sprachliche Tiefgang, etwa zu den eigentlichen Bedeutungen der auftretenden Metaphern und Ideen, fehlt. Murakami hat sich in den sehr beschränkten Verstand und den nahezu nur äußerlichen und oberflächlichen Beobachtungen des Ich-Erzählers gefangen.

Was ergo als großer Künstlerroman intendiert ist, reicht so leider auch nicht zum Entwicklungsroman oder zur Hommage an die Kunst in Zeiten politischer Katastrophen oder existenzieller Krisen. Vielleicht hätte es Murakamis Lesern besser getan, anstatt dieses langatmige und langweilige Werk zu schreiben, eine neue vielseitige Erzählungssammlung zu schreiben.


Haruki Murakamis Die Ermordung des Commendatore, Bd. II: Eine Metapher wandelt sich, übersetzt von Ursula Gräfe, erschien am 14. April 2018 beim Dumont Verlag Köln.

Titelbild: © Dumont-Verlag

Der tragikomische Kampf ums Überleben

Floß der Medusa

Unzählige bloße Nacherzählungen historischer und natürlicher Katastrophen definieren viele Kunstwerke jeder Art. Zunächst könnte man meinen, bei Das Floß der Medusa. Roman nach einer wahren Begebenheit des österreichischen Schriftstellers Franzobel handle es sich um einen solchen historischen Roman, der sich meist durch Einfallslosigkeit und wenig literarische Leistung definiert. Doch weit gefehlt: Franzobel macht aus dem Schiffbruch der Medusa im Jahr 1816 vor der Küste Mauretaniens ein tragikomisches Meisterwerk über den Mensch im Ausnahmezustand.


Die Medusa war im Juni 1816 mit vier anderen Schiffen im restaurierten Frankreich ausgelaufen, um Soldaten, Beamte und Siedler in die Kolonie Senegal zu bringen. Durch die Navigationsfehler und die Passivität des inkompetenten Kapitäns strandete das Schiff aber am 2. Juli auf der Arguin-Sandbank vor der afrikanischen Küste. Da es, ähnlich wie auf der Titanic etwa 100 Jahre später auch, zu wenig Rettungsboote gab, flüchtete die Elite auf die Boote. Die übrigen 147 Menschen bauten sich aus dem Schiff ein viel zu kleines Floß, um mit viel zu wenig Proviant die Küste zu erreichen. Damit begann ein brutaler Kampf ums Überleben, den nur 15 überleben würden.

Franzobel, der mit bürgerlichen Namen Franz Stefan Griebl heißt, macht aus diesem historischen Fall eine Allegorie des Überlebens. Dazu setzt er jedoch nicht erst bei der Strandung der Medusa an, sondern mit dem Ankommen von Besatzung und Passagieren am Schiff. Schon hier bietet sich ein bizarres, oft groteskes Bild der vermeintlich zivilisierten postnapoleonischen Gesellschaft. Es herrschen krasse Klassenstrukturen und ständiges Misstrauen vor. Es treffen sich allerlei ungleiche Protagonisten, die stets gegeneinander opponieren, vom führungsschwachen Kapitän, über Intriganten und Putschisten, Monarchisten mit Guillotine-Fetisch, versteckte Jakobiner, leichenfleddernde Schiffsärzte, nervige Matronen mit ebenso nervigen Kindern von hoffnungslosen Kaufmännern, abenteuerlustige und naive Idealisten bis hin zu sexuell dauerregten Jungfern und brutalen Matrosen. Diese aufgeklärte Gesellschaft offenbart ihr wahres Gesicht, der Lust am blutigen Spektakel und der Brutalität zur Zementierung der Hierarchien schon von Anfang an. Dies demonstriert Franzobel en détail an diabolischen Köchen, die ihre Untergebenen schinden, ekligen Initiationsritualen, von der die Gorch Fock nur träumen kann, und drakonischen Strafen, die tödlich enden. Die erste Hälfte des Romans beschäftigt sich alleine mit dieser Gesellschaft, bis Katastrophe und Wendepunkt in eins fallen.

Monstrositäten und Bewusstseinsströme

Die pure Brutalität und das Recht des Stärkeren, die schließlich auf dem Rettungsfloß herrschen werden, wenn die letzten Grenzen des Schams, des Gewissens und des royalen Rechts fallen, ist nur eine Steigerung der sozialen Erscheinungen, denen der Leser von Anfang an auf der Medusa folgte. Damit wird Franzobels Roman zu einem epochalen Kunstwerk über die Abgründe des Menschen und dem Schein der Zivilisation, wenn es um den Kampf um Ressourcen und das Überleben geht. Der Ausnahmezustand macht nur deutlicher, was dem vergesellschafteten Mensch schon inhärent ist – nämlich das Huldigen eines Gottes des Gemetzels, wie es im gleichnamigen Theaterstück von Yasmina Reza heißt.

Das Floß der Medusa ist schon durch die detaillierten Schilderungen der Rücksichtslosigkeit und Brutalität kein Buch für sanfte Gemüter. Doch Franzobel suhlt sich nicht, wie manch anderer, in monströsen Szenen, sondern verfremdet sie. Er fabuliert breit und kombiniert verschiedene Stile in wilder Manier. Die blanke Gewalt des nackten Lebens wechselt sich ununterbrochen mit surrealen Alpträumen, dem beißenden Sarkasmus eines allwissenden Erzählers, den traumatischen Perspektiven und der Angst vieler Täter und Opfer, Rachegeistern und irren Bewusstseinsströmen ab.

Genau das verleiht dem Roman seine literarische Tiefe, sein Fieber, seine tragikomischen Verfremdungsmomente. Das führt dazu, dass es sich hierbei um keinen historischen Roman, sondern ein Epos mit anthropologischen Prämissen über den Menschen in Not handelt. An diesem Meisterwerk ist dabei zusätzlich erstaunlich, dass es sich um ein literarisch komplexes Mischwerk handelt, das dennoch – oder eher gerade deswegen – einen gut zugänglichen philosophischen Lesegenuss bietet.

Titelbild: Das Floß der Medusa (Théodore Géricault)

Franzobel: Das Floß der Medusa

Erscheinungsdatum: 30.01.2017

592 Seiten

Zsolnay

26€

ISBN 978-3-552-05816-3

Ein literarischer Meisterkoch wärmt Altes neu auf

Normalerweise ist man von dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami, der seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gilt, Meisterwerke zu zwischenmenschlichen Beziehungen und psychischen Abgründen gewöhnt. Sein neuer Roman Die Ermordung des Commendatore, dessen erster Band Eine Idee erscheint nun in deutscher Sprache vorliegt, ist dagegen leider eine Enttäuschung. Denn zu sehr spielt Murakami mit etablierten Motiven, sein Buch bringt nur wenig Neues.


Der Erzähler des Romans ist diesmal namenlos und Porträtmaler. Nachdem seine nichtssagende Ehe in eine Scheidung mündete, reist der Protagonist ziellos durch Japan, bis er schließlich in die Berge zieht, in eine Hütte des Vaters eines früheren Kommilitonen. Isoliert in den Bergen, sich unfähig zu jeder Art von Malerei fühlend, ergeben sich hier nun mehrere Handlungsstränge, die noch nicht ersichtlich miteinander koinzidieren. Zum einen beauftragt ihn der exzentrische und dubiose IT-Millionär Wataru Menshiki für ein besonderes Porträt, jedoch mit anderen Zielen im Hinterkopf. Ebenso versucht der Erzähler seine sexuelle Vergangenheit und seine eigentümliche Beziehung zu seiner toten Schwester in Rückblenden aufzuarbeiten. Und, vielleicht am wichtigsten, auch wenn dies eher so nebenbei geschieht, findet der Maler auf dem Dachboden ein altes Gemälde: Die Ermordung des Commendatore. Dieses Bild, das eine Szene aus der Oper Don Giovanni adaptiert, zieht ihn fortan in den Bann und bringt ihn in Kontakt mit einer unklaren materialisierten Idee aus einer anderen, zeitlosen Welt.

All diese Motive, ein farbloser Ich-Erzähler, ein Einzelgänger, der gerne ein Künstler wäre, Parallelwelten, schlechter Sex und nicht aufgeklärte mystische Geheimnisse, sind dem Murakami-Leser keinesfalls neu. Auch der enttäuschte Künstler, der sich in die Natur zurückzieht, ist nicht gerade eine kreative Idee. Generell ist vieles in dem Roman berechenbar. Es scheint, als ob der Meisterkoch der Literatur nur ein altes Gericht wieder aufgewärmt hätte. Frisch ist daran nur sehr wenig: etwa, dass der männliche Erzähler, diesmal fasziniert ist von einem Mann, nämlich Menshiki, aber auch überfordert, und dass er diesmal kein erfolgloser Schriftsteller oder Architekt ist, sondern Porträtist, der gerne freie Kunstwerke zeichnen und malen würde.

Insgesamt scheinen dieses Mal die Figuren farblos gestaltet zu sein. Während es in seinen früheren Romanen charakteristisch war, dass der Ich-Erzähler farblos war oder sich so empfand – so etwa in seinem melancholischen Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki –, sind nun alle Figuren mehr oder weniger farblos. Das könnte einerseits dazu dienen, ihnen bei der Auflösung im zweiten Band, der im April erscheinen soll, Tiefe zu verleihen und sie nun geheimnisvoll zu gestalten; andererseits hat der Künstler prinzipiell Probleme Gesicht oder Charakter von Menshiki auf einer Metaebene zu malen. Es scheint, dass nur der Commendatore als Idee und die Vergangenheit des Hausbesitzers literarische Plastizität besitzt.

Doch selbst wenn dies Methode und womöglich einen Sinn hat, den der Leser noch nicht durchschaut, so ist es doch über einen ganzen Roman hinweg ziemlich langatmig. Daher ist es wohl auch keine gute Idee, das Projekt zweibändig zu gestalten, denn dadurch entstehen lästige Längen, und auch spannende Cliffhanger zählen – das zeigt auch sein an sich epochaler dreibändiger Roman 1Q84 – nicht zu Murakamis Stärken. Dafür ist sein Stil im neuen Werk modifiziert: Er beschreibt nun, seinem Erzähler angemessen, seine Umwelt wesentlich bildhafter, plastischer, farbiger, und in seiner literarischen Verarbeitung von Gemälden und Opern, generiert er eine künstlerische Kombination auf einer Metaebene.

Tatsächlich ist das Abdecken verschiedenster Kunstformen die größte Stärke von Die Ermordung des Commendatore, Bd. 1. Denn natürlich bleibt Murakami ein genialer Stilist. Jedoch scheinen ihm die Ideen für Neues auszugehen, so als ob ihm (hoffentlich nur zwischenzeitlich) die Luft während der Produktion ausgegangen ist. Darum ist auch im ersten Teil dieses Werkes noch kein großer Gehalt ersichtlich. Kreativ, innovativ, tiefsinnig und grandios sind eher seine anderen Romane und Erzählungen.


Haruki Murakamis Die Ermordung des Commendatore, Band I: Eine Idee erscheint, übersetzt von Ursula Gräfe, erschien am 22. Januar 2018 beim Dumont Verlag Köln.

Titelbild: © Dumont Verlag

Weihnachtlicher Warenfetisch

Es war einst ein beliebtes Thema innerhalb des philosophischen Intellektualismus’: die Kritik an der weihnachtlichen Konsumkultur und dem Warenfetisch. Inzwischen ist eine solche Kritik zahlreich rezipiert und zu hohlen Phrasen verunglimpft worden. Warum sich also noch mit dem Zusammenhang von Konsumkultur und Weihnachten beschäftigen? Ganz einfach: Weil diese Verquickung per se besteht.


Das Problem sowie seine Kritik gestalten sich keineswegs so simpel oder einseitig, wie so mancher es gerne hätte. Oft vertreten natürlich öffentliche, kirchliche Akteure die Position, dass Weihnachten als Geburt Jesu das Fest der Liebe und der Besinnlichkeit sei (das mit heidnischen Phallussymbolen, wie dem Christbaum, belebt wird) und der pejorative Konsumismus dieses eindeutig positiv konnotierte Weihnachtsfest entfremde und missbrauche, da der Blick auf das Wesentliche, das Religiöse, die Katharsis, durch den Warenfetisch verdeckt würde.

Eine solche Position ist philosophisch und kulturtheoretisch betrachtet eben viel zu kurz gedacht: Denn erstens kann das illusorische, naive Gerede von Besinnlichkeit eben nicht mit dem vermeintlichen Konkurrenten, den Konsumbedürfnissen der Menschen, mithalten; zweitens ist Weihnachten per se kein erstrebenswertes Fest, also kaum als positiver zu bewerten als die Konsumkultur selbst, die es forciert; und drittens bedingen Konsumismus und religiöse Festivitäten sowie Riten einander – kurz gesagt, Konsumismus und Warenfetisch sind dem System Weihnachten inhärent.

Warum das Christentum im Kampf mit dem Konsumismus nur verlieren kann, ist einfach erklärt: Das Christentum verkehrt freiwillig in einem (kapitalistischen) Warensystem. Wenn es innerhalb dieser ökonomisch-ideologischen Matrix agiert, braucht es sich nicht wundern, wenn es bei Negierung dieser Matrix – also dem Wettbewerb zur Bedürfnisbefriedigung des Konsumenten auf dem Markt – verliert. Zwar lehnt zumindest der Katholizismus von Zeit zu Zeit den Kapitalismus ab. Er favorisiert aber dafür nicht explizit andere sozioökonomische oder politische Alternativen – obgleich immerhin das Neue Testament partiell eine idealistische Art des Liebeskommunismus´ in der Phase zwischen der Auferstehung Jesu und dem Erscheinen des Heiligen Geistes forciert. Das Christentum ist also keinesfalls heute ein radikaler Kritiker bestehender Verhältnisse, sondern weitgehend systemimmanent.

Warum Weihnachten kein erstrebenswertes Fest ist, ist fast ebenso rasch und einfach erklärt: Gefeiert wird dort die Vermutung, dass eine historisch nicht erwiesene Persönlichkeit in einer Krippe geboren wird, dann auch noch ein Gott ist und mehrere Tage dort in der Wiege liegen bleibt. Kurz gesagt, man bläst eine reine Spekulation überbordend zu einem sakralen Fest auf und begründet damit eine Religion, die historisch auf Lügen und Blut gebaut wurde, und verkauft dies dann als Fest der Liebe. Man muss nicht erst Ludwig Feuerbach oder Karl Marx bemühen, um schlicht zu begreifen, dass es sich bei dieser Spekulation um eine Projektion irdischer Wünsche nach Erlösung handelt. Bereits bei dem Versteifen auf solch ein übermäßiges Zelebrieren von Religion, an dem an Weihnachten sogar die religiös eher Desinteressierten partizipieren, liegt ein religiöser Fetisch begründet. Sicherlich sind Werte wie Liebe, Großzügigkeit etc. erstrebenswerte ethisch-normative Parameter, jedoch lässt sich die Notwendigkeit dazu besser absolut säkularhumanistisch für einen moralphilosophisch denkenden Menschen legitimieren – mit dem Verzicht auf schädliche, scheinheilige und fetischistische Religiösitäten.

Sakraler Konsum

Der Fakt des sakralen Fetischs führt uns auch zum prinzipiellen Konnex zwischen Konsumismus und Weihnachten: Der Fetischismus ist, wie der Kulturphilosoph Hartmut Böhme festgestellt hat, ein religiöser Mechanismus, der in die Ökonomie translationiert wird, doch innerhalb dieser nur in seiner eigenen Logik operiert, da nach den Prinzipien Immanenz und Transzendenz agiert wird, zur Regulation des Verhaltens der Gläubigen, sodass ein obskurer Verkehr und Austausch mit dem Transzendenten entsteht und zur Erlösung führen soll. Marx hat dies ja bereits in die säkulare Warenanalyse implementiert, wodurch der Fetisch im Kapitalismus nach den Prinzipien Zahlen und Nichtzahlen operiert. Das Religiöse wird natürlich nicht vollständig in das Ökonomische übertragen; aber dadurch bedingen sich beide, im Zuge des religiösen Warenfetischs, zwecks Warenzirkulation.

Durch das Verblassen des Religiösen im weihnachtlichen Konsumprozess werden nun die religiösen Kultobjekte in etwas anderes verwandelt: in schlichte Waren, die meist mit Kitsch übertüncht werden. Andererseits konserviert und tradiert die Konsumkultur damit die Riten des Weihnachtsfestes. Marx hat ja auch nicht umsonst die aufgeklärt-moderne Gesellschaft als implizit religiöse Gesellschaft entlarvt; und Theodor W. Adorno und Max Horckheimer haben darauf aufbauend den universellen Verblendungszusammenhang von Konsumismus und Kulturindustrie – zu dem innerhalb des Sozioökonomischen und -kulturellen auch Religion und Weihnachten gehören – offengelegt. Der religiöse Fetisch forciert also noch eine Performanz respektive Theatralität der übermäßig mit metaphysischen Botschaften gefüllten Waren.

Warum wird nun gerade an Weihnachten dieser kapitalistisch-sakrale Fetisch so heftig ausgelebt, vor allem im Vergleich zum Rest des Jahres oder anderen religiösen Festen, Ereignissen und Veranstaltungen? Erstens sind Weihnachten und Ostern die wichtigsten christlichen Feste; zweitens entstand vor allem an Weihnachten eine Kultur des weitgehend reziproken Schenkens als Zeichen von Liebe und Freude, aber auch dem egoistischen Bedürfnis der himmlischen Erlösung durch gute Taten wie großzügigen Schenkungen; und drittens gelang es einigen ökonomischen Akteuren, das Weihnachtsfest zu profanisieren und ergo die Konsumkultur im Dezember allen Religionen und sogar den Atheisten und Areligiösen zu ermöglichen.

Santa Claus: Genussexperte

Der letzte Punkt verdient mehr Aufmerksamkeit. Das allseits bekannte Beispiel ist die Ablösung des Christkinds als religiöses Symbol des Schenkens durch den Weihnachtsmann, der am Nordpol lebe und durch den Kamin in die Wohnungen eindringe. Der Weihnachtsmann macht es möglich, Kulturgrenzen leicht zu überspringen und damit einer wesentlich größeren Kulturindustrie Weihnachten als Kaufanreiz zur Verfügung zu stellen. Brillant hat dies bekanntlich Coca-Cola genutzt, indem es in den 1930er Jahren, zur Zeit der Wirtschaftskrise, Santa Claus als Reklame für ihre Cola nutzte. Zum einen gelang damit eine Kultur der US-Amerikanisierung in nichtamerikanischen Weltregionen, und zum anderen wurde Coca-Cola somit zum Kultobjekt, da es behaupten konnte, der mythische Experte für Geschenke, Waren und Qualität würde ihr Produkt in seiner Freizeit gegenüber anderen Limonaden präferieren.

Außer dass durch die Gestalt des Weihnachtsmannes und seiner Instrumentalisierung die Konsumkultur, partiell entchristianisiert, angekurbelt wurde – so dass primär und fast ausschließlich im Weihnachtsstress zählt, was man kaufen möchte und welchen materiellen Wunsch man welchem Mitmenschen als Geschenkvorschlag vorlegt –, ist die Darstellung des Weihnachtsmannes exemplarisch für die Unterfütterung des weihnachtlichen Warenfetischs per Kitsch. Kitsch sorgt meiner Definition nach, stark angelehnt an Adorno, gerade dafür, dass das Ästhetische zu etwas Hässlichem wird; und die Kulturindustrie zementiert damit pseudokünstlerisch soziale Verhältnisse. Denn Kitsch verrät gerade jeden ästhetischen Wahrheitsanspruch, es neutralisiert alles Künstlerische durch seine biedere Tünche und dient der apolitischen Ablenkung von politischen, sozialen und kulturellen Missständen. Gerade darum begann die Instrumentalisierung des Weihnachtsmannes durch den kapitalistischen Großkonzern Coca-Cola in Zeiten der Wirtschaftskrise und dem Aufschwung des Totalitarismus, da der kitschige Weihnachtsmann perfekt von solchen Problemen ablenkte und semireligiös die nötige Erlösung von all diesen Missständen bot, zumindest für die Weihnachtszeit. Der Kitsch macht und das Unverträgliche verdaulich. Auch die Soziologin Eva Illouz hat darauf hingewiesen, dass gerade nichtmaterielle Phänomene, wie die Romantik, im Kapitalismus konsumierbar gemacht werden, sprich, Produkte werden verkauft und beworben, um ein Gefühl, eine Stimmung zu generieren, was meist mit Kitsch passiert. Wie das romantische Liebesideal, wird auch das Ideal eines Festes der Liebe so kommerzialisiert. Da es sich aber um Werbung und Kitsch handelt und nicht um ein authentisches Gefühl, kann es niemals das sein, was es seinem Anspruch nach sein soll.

Der Weihnachtsmann ist dabei natürlich die ideale Verquickung von kapitalistischer Konsumkultur, Kitsch und Weihnachten; denn er ist nicht nur selbst ein eifriger Konsument und Genießer, sondern leitet am Nordpol auch noch eine Fabrik, bestehend aus Rentieren und Weihnachtselfen, gilt also dem Märchen nach selbst als kapitalistischer Akteur. Der Kitsch zeigt sich hierbei auch nicht nur optisch, sondern auch darin, dass in einem solchem kitschigen Märchen man freilich nie von realer Sozialkritik hört, wie der Existenz von Gewerkschaften der Weihnachtselfen, deren Ausbeutung und Entfremdung der Arbeit oder, dass sich auch die Rentiere als Nutztiere nie beschweren und nie unter der Last des vollen und schweren Schlittens bei einer Fahrt rund um die ganze Welt zusammenbrechen.

Hauptsache Glühwein

Außer beim Weihnachtsmann gibt es natürlich noch unzählige weihnachtliche Kitschartikel, die es auf jedem Weihnachtsmarkt zu kaufen gibt, von Teelichtern und Glühweintassen über Weihnachtsbaumdekoration bis hin zur kompletten Inneneinrichtung der Wohnung. Die kitschige weihnachtliche Konsumkultur fungiert also auch als Verschleierung und Negierung von Problemen in der diesseitigen Realität. Auch dies teilt die Konsumkultur mit der religiösen Ablenkung durch hohle Predigten, Gebete und Lobpreisungen an einen imaginierten und projizierten Gott.

Inzwischen haben sich viele Medien dieser weihnachtlichen Konsumkultur gebeugt, indem sie diese nicht mehr erwähnen oder kritisieren, sondern andere vermeintlich weihnachtliche Themen herausarbeiten, indem sie entweder kirchlichen Würdenträgern eine Bühne geben, zum Weltfrieden aufrufen, das Feuilleton mit schmieriger Charles-Dickens-Romantik verkleben, den Mangel an Nächstenliebe in Politik und Privatheit kritisieren oder über Weihnachten als Familienfest berichten.

Was kann man also tun? Der Zusammenhang zwischen Konsumkultur und Weihnachten besteht prinzipiell durch den sakralen Warenfetisch, der von echten Problemen ablenkt und an Weihnachten besonders präsent ist. Durch diese starke Präsenz gelingt es niemandem, dem Konsum oder diesem spießbürgerlichen Fest der erzwungenen Familienharmonie wirklich zu entgehen. Was können kritisch und philosophisch Denkende und Intellektuelle schon tun? Der Zusammenhang von Konsumkultur und Weihnachten kann zwar immer neu interpretiert und kritisiert werden, aber reale Auswirkungen auf die Hegemonie der kitschigen und banalen Weihnachtskultur hat dies kaum. Viele Möglichkeiten bleiben nicht – und manche muten schon fast absurd an: Entweder man wird also radikal und bekämpft diese Weihnachtskultur und agiert als säkular-humanistischer Denker und Bürger, statt als Konsument (das wäre heute ja schon fast revolutionär), mit geringer Aussicht auf Erfolg, da dies bestenfalls bei einem individuellem Lifestyle bleibt; oder man taucht bis sechsten Januar unter und isoliert sich, so gut es geht, was sicherlich erfolglos ist; oder man versucht, wie zahlreiche Medien, systemimmanent ein bisschen etwas zu produzieren, das Adorno Richtiges im Falschen nennt und somit negieren würde, und auf die säkularen, nichtkonsumkulturellen Ideen hinter Weihnachten zu verweisen (Nächstenliebe etc.), freilich ohne diese in jenem Kontext von Weihnachten und missionarischem Monotheismus lösen zu können; oder, das ist wohl das Wahrscheinlichste, man erfreut sich wenigstens am Glühwein.


Verwendete Literatur:

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt a. M. 1990.

Adorno, Theodor W./ Horckheimer, Max: Dialektik der Aufklärung (= Gesammelte Schriften, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1990.

Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 32012.

Hasse, Edgar S.: Weihnachten in der Presse (= Studien zur Christlichen Publizistik, Bd. 19), Erlangen 2010.

Haug, Wolfgang F.: Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen (= Berliner Beiträge zur kritischen Theorie, Bd. 12), Hamburg 2011.

Hauschild, Thomas: Weihnachtsmann. Die wahre Geschichte, Frankfurt a. M. 2012.

Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, übersetzt von Wirthensohn, Andreas, Frankfurt a. M. 2003.

Žižek, Slavoj: The Puppet and the Dwarf. The Perverse Core of Christianity, Cambridge 2003.

Titelbild: © Mateusz Dach/Pexels