Alle Artikel von Moritz Bouws

Gurr: „In My Head“

Die Taube lieber auf der Hand als auf dem Dach. Gurr aus Berlin veröffentlichen ihren ersten Longplayer „In My Head“ und bringen First Wave Gurrlcore in die herbstliche Stube.


Andreya Casablanca und Laura Lee – die Namen der zwei Wahlberlinerinnen von Gurr sind zweifellos bühnentauglich und bei Bedarf sicherlich auch öffentlichkeitswirksam verwertbar. Ist aber nicht notwendig, denn man kann getrost davon ausgehen, dass es den beiden vorran-gig um positiv verankerten Hedonismus und den eskapistischen Charakter des Musizierens geht. Darauf lässt sich aus ihrem Debütalbum „In My Head“ schließen, das ab dem 14.10. über die Ladentheken geht.

Zu den personellen Hintergründen von Gurr lässt sich aufgrund der vergleichsweise noch jungen Historie nicht allzu viel berichten. Andreya spielte zuvor in der Nürnberger Kombo „No Fun“ und lernte Laura an der Uni in Berlin kennen. Temporär mit ins Boot geholt wurde Bassistin Jill. Durch ein Auslandssemester in den USA, das sie auch musikalisch prägte, versuchten sie sich bereits an einer kleinen Tour im dortigen Mittleren Westen. Letztes Jahr noch zu dritt, brachten sie eine mit „Furry Dream“ betitelte EP heraus. Die darauf zu hörenden zweiminütigen Tracks machen eindrucksvoll klar, welche Richtung die Band einschlägt: schmissige Gitarrenriffs und losgelöst punkiger Gesang.

Unweigerlich kommen Assoziationen zum Sound von Bikini Kill oder dem Riot-Grrrl-Movement im Allgemeinen auf, auch wenn Andreya deren Einfluss als untergeordnet einstuft. Das nun erscheinende Debütalbum „In My Head“ verdeutlicht dies. In den Vordergrund drängt sich Garage Rock, der eine Brücke von den 1960er bis in die 2010er Jahre schlägt. Lo-Fi und Ungezwungenheit wie bei den Spanierinnen der Hinds runden das Bild ab. Exemplarisch steht hier die Zeile „Wir nehmen teil an der Belanglosigkeit“, die sich in der deutschsprachigen Version der bilingualen Singleauskopplung „Walnuss/Walnuts“ wiederfinden lässt.

Quelle: YouTube

Letztendlich wird es den Gurrls egal sein, welchen Kategorisierungen wir sie unterwerfen. Denn trotz der Tatsache, dass sie zu ihren musikalischen Einflüssen stehen, ziehen sie unbestreitbar ihr eigenes Ding durch und machen dabei eine gute Figur. Dies brachte sie in den vergangenen Wochen immerhin in das Vorprogramm von Jimmy Eat World und Kakkmaddafakka. Deswegen brauchen sie sich nicht vor der im November anstehenden Tour durch die europäische Klublandschaft scheuen. Mögen es die Spatzen von den Dächern pfeifen.

Quelle: YouTube

 

Pascal Pinons “Sundur” – Die Entzweiung unzertrennlicher Herzen

Das isländische Duo Pascal Pinon stellt mit “Sundur” trotz des jungen Alters der beiden Schwestern bereits das dritte Album auf die Startrampe und zeigt sich dabei puristisch und gereift  – ganze zwei Tage benötigten sie für die Aufnahmen.


Sundur og saman – entzwei und beisammen. Mit Blick auf den vorangegangenen Longplayer “Twosomeness” von 2013 nähert sich bereits vor dem ersten Hören eine erste Ahnung, worauf der jetzt erscheinende Nachfolger “Sundur” abzielt. Tatsächlich bestätigt sich dieser Eindruck durch melancholisch und sehnsuchtsvoll anmutende Kompositionen, die versuchen, die aufmerksamen Zuhörer*innen aus dem rasant vorbeiziehenden Alltag davonzutragen.

Dies ist ganz im Sinne der beiden Bandmitglieder, denn über einen gähnend leeren Terminkalender brauchen sich Ásthildur and Jófríður Ákadottir wahrlich nicht den Kopf zerbrechen. Während erstere in den letzten Jahren mit ihrem Studium des klassischen Klaviers in den Niederlanden ausgelastet gewesen sein dürfte, veröffentlichte Jófríður erst im Juni mit ihrem folkloristisch-elektronischen und vom Trip Hop beeinflussten Projekt Samaris das Album “Black Lights” und wird zudem im September als Mitwirkende auf Sin Fangs Neuveröffentlichung “Spaceland” erscheinen.

So verwundert es kaum, dass das Album innerhalb von zwei Tagen aufgenommen wurde. Zwar sind die einzelnen Stücke bereits im Laufe der vergangenen Jahre entstanden, eine eindeutig nachvollziehbare Verknüpfung in der Abfolge der Titel ist jedoch schwer auszumachen. Es scheint nicht im Interesse der Band gewesen zu sein, ein konzeptuelles Werk auf die Beine zu stellen. Doch ungeachtet dieser differenziert anzumerkenden Charakteristik entwickelt “Sundur”, nachdem es während des ersten Hörens in Teilen noch schwer zugänglich zu Tage tritt, eine durchaus gefällige Dynamik.

 

 

Quelle: Youtube

Was den Sound betrifft, setzen Pascal Pinon auf Understatement, das sich wohl am ehesten mit den Prädikaten Lo-Fi und Minimalismus beschreiben lässt. Ergebnis ist eine ausgesprochen ästhetische Klarheit, die das Geschaffene zum einen äußerst authentisch sowie glaubwürdig und zum anderen spezifisch erscheinen lässt. Spezifisch vor allem deswegen, da die klar erkennbare klassisch-musikalische Ausbildung der Zwillingsschwestern, die unter anderem durch multiinstrumentalen Einsatz Ausdruck findet, immer wieder von experimentellen Texturen untermalt wird. So kommen nicht nur vermeintliche Low-End-MIDI-Keyboards zum Einsatz, sondern gar Percussions in Form von Metallschrott und alten Flugzeugteilen, die von Áki Ásgeirsson, dem Vater und Studioassistenten der beiden Musikerinnen, beigesteuert wurden. Diese unkonventionellen Einsätze verschaffen dem Werk eine zunächst ungeahnte Tiefe. Während des Großteils des Albums steht jedoch die charmante Harmonie zwischen Ásthildurs pianistischer Interpretationen sowie des sanften und mystisch erscheinenden Timbres Jófríðurs im Vordergrund.

Quelle: SoundCloud

Musikalisch ohnehin, verhält sich “Sundur” nicht nur von der Betitelung, sondern auch narrativ als Antagonist zum juvenilen Vorgänger “Twosomeness”, der in allen Belangen freudiger und heller daherkommt. Gleich mit dem ersten Song “Jósa & Lotta” wird deutlich, dass Pascal Pinon persönliche Trennungserfahrungen verarbeiten, die zuallererst die beiden selbst betreffen. In diesem Zusammenhang erzählt Jófríður von der räumlichen Entzweiung der beiden Geschwister, die sich 2013 durch Ásthildurs Studium zwangsläufig ergab und eine neuartige emotionale Herausforderung darstellte. Darüber hinaus kommen andere Dimensionen der zwischenmenschlichen Trennung wie der Tod zur Sprache, was sich im wohl eingängigsten und bittersüßen Titel “53” widerspiegelt.

Quelle: SoundCloud

Dass mit “Sundur” trotz der sich durch das Werk ziehenden Thematik alles andere als ein klar strukturiertes Konzeptalbum vorliegt, wird auch dadurch dokumentiert, dass die einzelnen Titel scheinbar willkürlich mal in englischer, mal in isländischer Sprache interpretiert werden und für sich stehende Instrumentals das Bild komplettieren. Das erscheint vollkommen legitim, denn all dies tut dem positiven Anschein keinen Abbruch, da Pascal Pinons neues Album durch Authentizität, die verspielten Arrangements und doch reife Ausstrahlung sowie insbesondere den subtilen Gesang Jófríðurs beeindruckt. Das Zusammenspiel des Duos selbst lässt jedenfalls nicht auf die thematisierte räumliche Distanzierung schließen. Man darf also auch auf die weitere Entwicklung der beiden vielseitigen Schwestern gespannt sein.

Titelbild: © Magnus Andersen

Music, Iceland, poetry, and sisterly love. An interview with Jófríður Ákadóttir

Together with her sister she forms the band Pascal Pinon. Furthermore she is part of the musical project Samaris and performs solo as JFDR as well. Because of the upcoming Pascal Pinon album “Sundur”, we seized the opportunity of having a chat with her during Jófríður’s Berlin stay. In Morr Music’s kitchen she explained both her new work and the world.

an interview by Gregor van Dülmen and Moritz Bouws

and postmondän’s first blog post in English (feels like the beginning of something)


Pascal Pinon consists of you and your twin sister Ásthildur. Have you been making music all your life together or was there a certain point in your musical life where you said, “Let’s start a band!”?

Yes, there was a certain point when we were eleven years old. Our mom or our dad lent us their laptop and introduced us into the music software GarageBand. We found it amazing and just started recording even though we had no idea how to do that. We didn’t even have headphones, but we recorded anyway and produced two albums under the name “Við og Tölvan”, which means “We and the computer”. At that time we said, “We’re gonna start a band now.” Then we got a sound card, a microphone, and a midi keyboard for a christmas present. We still have this midi keyboard. No, sorry, my sister left it in Amsterdam where she lived to study. When she moved away from Amsterdam she left all of her things. She still hasn’t come back to pick them up. That’s already two or three years ago.

Where does she live now?

In Reykjavík. She only left Reykjavík twice since that time. One time was to go to London to visit me and to go to Berlin once for a couple of meetings.

You are following a nomadic kind of lifestyle at the moment, don’t you?

Yeah, I can’t sit still, I can’t stay anywhere. Also I’m really thrifty, I don’t want to spend much on rent when I’m not there most of the time anyway. I think you just really have to go hardcore doing one thing like travelling all the time or settling down – or live somewhere cheap. I don’t know, I’m working on this.

We would like to talk to you about your upcoming album “Sundur”. Your father helped producing your new album. Did he play an important role in the whole process?

Yes, he helped us. I would say my sister actually is the producer, because she is the one who had the most issues with everything. She was the one who actually kept everything super real, super raw, and she decided how we roll this album. I even would have put reverb on the mastering, like it’s my vibe that everything is in reverb. So for me it was really hard to say, “Okay, we’re just gonna do this.” And my dad was the one who said, “Just relax, I’ll come with you, I’ll help you out, I’ll set the microphones for you and I’ll be there and push the buttons.”

And he helped you to not get into a fight with one another?

Exactly, that’s the thing. Because the issue is I wouldn’t have minded if somebody else had done that for us. I wanted to pay a person to do that for us, just because I didn’t want to do that. But she said, “No way. We’re not going to hire anybody. It’s just a waste of money and we can do everything ourselves.” And I replied, “No, because you don’t know how to do that and then I’m going to be the one and I don’t want to.” That argument was for months. So our father was the one who said, “You go ahead and book a studio. I’ll be the one to engineer.” So both of us kind of got what we wanted. She didn’t even want to book a studio, but I told her, “There are people who want to hear this album and there’s a certain kind of pressure on this. They don’t want to listen to your bedroom recordings.” But at the same time I felt like, “Maybe they do, I don’t know.” So we met somewhere in between.

Das neue Album der Schwestern "Sundur" erscheint am 19. August.

The sister’s new album “Sundur” will be released on 19th august

So it was just the three of you in the studio?

Yes.

Were you and your sister also the only ones playing music on your last album?

We got a guitar player for a couple of tracks, so we met and improvised a few different songs. But yes, generally it was pretty much the two of us. And a producer in addition.

But you started your bands with four members. What happened to the other two?

We were so young and actually kind of doing a lot: We released the first album ourselves before it got re-released by Morr Music. But up onto that point we were doing everything ourselves. We ordered CDs in a manufactory and we walked to the shops when we were fifteen and asked, “We have ten CDs. Do you want to sell them?” – and they all consented. But it was a lot of pressure, because somebody had to take care of the accounting and somebody had to take care of actually going to the shops to see whether it’s sold out or not.

The thing is, it’s just too much to be friends – and we were really good friends to begin with – and to run a business at the same time when you are fifteen. It didn’t really go hand in hand very well and it became this kind of division between the two other girls on the one hand and Ásthildur and me on the other hand. There accidentally was a tension between those two groups. I was sad about it and it really wasn’t pleasant. So together we decided that they would leave the group and we would continue. We rather wanted to stay friends than letting this completely seperate us. That was the reason. And then a couple of month later we got the record deal, which was great. It was easier for us to continue with this. But then the guitar player went on tour with us a few times. She was in the tour band for three years. So that issue didn’t actually make a big difference.

Pascal Pinon as a quartet:

source: youtube

Regarding your name: We think it’s really interesting, because Pasqual Piñón is a historic person – a Mexican guy who worked on a circus. What’s the connection, why did you choose his name for your band?

The four of us sat in a café together and we just opened this book and there was a picture of him and we were like, “The name is Pasqual Piñón, let’s go for that, that sounds weird!” We just liked the name.

And he neither seemed to be a bad guy, did he?

No, he seems to have been misunderstood, the poor thing.

Pasqual Pinon - The Two-Headed Mexican

Pasqual Pinon – “The Two-Headed Mexican” (Source: Wikimedia Commons)

He was in kind of a freak-show in the beginning of the twentieth century.

Yeah, I wouldn’t have wanted to be in his position of being laughed and stared at. It must be hard if the whole purpose of your existence is to creep people out. But there’s something beautiful about it, embracing being a little bit different and to make that your something. So the name is for everyone who is different.

And concerning your home, Iceland: We got the impression that there’s always the question of an affiliation due to the isolation. On the one hand you feel connected to Europe, on the other hand to the U.S.A., right? If you agree with that impression, could you describe these influences?

It’s right. And I think Iceland is ridiculous in so many ways. One of the things is exactly what you’re talking about. We’re influenced both by America and Europe. And we are a part of Europe and we’re also kind of a part of America. We had the U.S. Army base for many years and that was right at the time when we gained our independence and caught up with the rest of the world. Before that we were such a poor country and that was the time when there was actually a lot of prosperity and really good changes in the economy. So that was thanks to the U.S. Army. And the crazy thing is that this happened during World War II. Everywhere else in the world things were just blown up and destroyed, but in Iceland things went as well as never before. There was a celebration. That’s why people in Iceland are not sensitive about anything that has got to do with the war and the terrible things that happened there, because they’re used to think of the time period as such a positive thing. And this just doesn’t make sense to the rest of the world. It was a world war and almost everywhere there was chaos and in Iceland there was growth. That’s kind of the American influence.

And then we are in Europe but we keep fighting it, thinking we are independent. There are so many ads and anti-EU campaigns. And there are people who generally just feel like we’re losing our independence. They think because we’re an island we can be totally sufficient for ourselves. But the world doesn’t work like that. Such a stated idea. We are a small community and the different parts of the earth should work together more closely. People don’t see that. And Iceland is a joke compared to that. We are about 300.000 people. And if we weren’t in the EEA I wouldn’t be able to be here. It wouldn’t be that easy for me to travel. But enough about politics, let’s go back to music!

Okay, but let’s do this switch with one more Iceland question: Like many Icelandic artists you’re signed at Morr Music. Would you say the Berlin-based label or, let’s say, labels like Morr Music in general play a significant role for Iceland’s indie scene to become recognized internationally? Because from a German point of view it seems that there has been a particular development during the last years.

Definitely. The people see that they can travel more, that they can go abroad and that there is interest. But this is happening everywhere in the music industry anyway. Everywhere there’s a lot of music being made and there’s a lot of interesting things happening. Something is always getting through and something’s always staying under the radar. Same for Iceland. But now we have this Music Export Office that was founded only a couple of years ago. They’re doing great things, give out grants and care about new artists. It’s definitely becoming more common that bands go abroad and that they are signed at an earlier stage in their careers. For instance, have a look at the work of Seabear for so many years.

So is it a motivation for young musicians to be able to go abroad with their own music?

Absolutely. That’s what they try to do. But it takes time. And you don’t really go abroad unless you have a label that is putting money into your marketing. I remember that with Pascal Pinon we wouldn’t go abroad until we started working with Morr Music. Before that we went to Sweden once which was a joke although it was great nevertheless. But otherwise we didn’t go abroad the first two years and now we play more shows in other countries than we do in Iceland. I actually think it plays such a big role in the whole thing.

With respect to the language in which you are singing: Do you prefer Icelandic or English? As you know worldwide there are millions of people, listening to Icelandic music even though they don’t understand the lyrics.

It’s really hard to say. Because first of all, I make music for myself. I have something in my head, like, “I need to make this one and it needs to be in Icelandic.” Just because the word and the poetry make sense that way to me. I could translate it, but it wouldn’t be the same. I think some people do it for the market or for the people they’re communicating with. And I understand and respect that. It’s really cool, too, when people understand you, when you have something to say. Then you give it another layer of depth, like the feeling and the emotion of the music. But for us, I mean, there are two songs on Sundur that don’t even have any words. They’re just instrumental. So we just don’t give a fuck. We just do whatever we want. I like to sing in English as well.

Your new album’s title is “Sundur” which is the Icelandic word for “apart”, right? Is that the main theme of your album, standing apart from each other?

It’s definitely the main theme in the whole process of making this album. When we started doing it Ásthildur had already left to Holland and before that we used to have such an easy access to each other. We were sharing a bedroom most of the time growing up. We are twins and we always had a super tight relationship, whether we wanted to have or not. Making music was such an easy thing to do because we always were around each other. But then she was away and things went up in the air. We realised it’s even a struggle merely to see each other.

And did songs come up in that process? Did you send demos to each other?

The first song of the album we wrote together. And it’s kind of an introduction to that situation. But I wrote all songs apart from the first one on my own. It was more like bringing a song to her and seeing if she likes it and if she wants to collaborate and just do something with it.

Your last album was called “Twosomeness”. Do both tell a story together?

They do. It’s a contrast. It’s like this vs. this. But it’s a natural kind of next chapter. The first album, “Pascal Pinon”, was just composed of home recordings. For the second album we worked with a producer for the first time. We were just messing around and exploring different things we can do in the studio, things that we had never done before. This album is kind of a going back to the beginning, this tight unit of going separate ways. And this is the result. In my mind it was such a chaotic piece of music, because the sound is just all over the place. I thought people might find it scattered and crazy. I’m so surprised that people seem to be so open-minded about it. That shows me that you just have to stay true to yourself and then people will respond. If you’re real, they will recognise it. And that’s great thing to be reminded of.

impressions of Twosomeness:

source: youtube

For the people who don’t know your new album yet: How would you describe its sound compared to the sound of the one before?

I would say that this is a ridiculous album. But listen to it if you want to! I’m so sorry to the label, I hope they didn’t hear this. (She’s laughing)

Because listening to it for the first time it sounded more melancholic than the last one. It sounds more raw and diverse. It’s not like a concept, but it sounds very real and natural.

Yeah, that’s actually kind of the best way to describe it. Saying it’s ridiculous is such a cheap way of describing. I’m so sorry, I’ll try a little bit harder. It’s just I had something in my head that I wanted to create. We started that journey and the result is not what we wanted to make at the beginning. But it’s obvious that you can’t ever think you have something in your mind and go out doing exactly that. It doesn’t work that way. Things change and that’s great. It’s worth celebrating. So this album is probably kind of fucked up as much as it possibly can be. But within that space it’s folk-cute music, it’s not fucked up music. If we were a little bit angrier as people we’d probably be making punk music and the concept would still be the same.

So if this is going to become the most popular of your albums so far. What will you do in the future?

I don’t know at all. Things are going to happen and I’m just learning.

So one last question: Will there be a tour after the release? Will you come back to Germany?

Yes. We have a tour coming in November. It’s from 10th to 20th November. Berlin, Münster, Tecklenburg and Cologne. Some shows are with Peter Broderick. The dates will be announced, but the Berlin show is on 11th November.

O cool, so we’ll meet again there. Thank you very much for the interview!

Thank you, guys!

 

One show missing in the list is the one at Alínæ Lumr Festival on 26th August in the internationally well-known metropolis of Storkow. Fair enough, since we only asked her for tour dates. But after the interview we feel prepared for a “Sundur” review which will follow in a few days. But then we’ll switch back to German again. Sorry for that, such a cheap way of writing a review.

cover photo: © Magnus Andersen

Kosmonaut: Wenn das Unwetter keine Lust auf die Headliner hat

Ein Donnerwetter geht um in Europa, so auch in Karl-Marx-Stadt. Ein Tagebuch zum Kosmonaut Festival.


Am frühen Freitagmorgen der Schock aus sechs Buchstaben: Brexit, die Briten wollen nicht mehr. Dachte sich das Kosmonaut Festival: wir auch nicht. So wurde in Chemnitz am vergangenen Wochenende nahezu gänzlich auf den Import britischer Acts verzichtet und stattdessen der heimischen Musik gefrönt. Erwartete uns deswegen eine Veranstaltung, die sich ohne Umschweife dem aktuellen Trend des wiederentdeckten Nationalismus innerhalb Europas verschreibt? Durchaus naheliegend, schließlich sind in Chemnitz, wie wir ja alle bereits wissen, sonst nur Nazis, Rentner und Hools unterwegs. Glücklicherweise schlägt das Kosmonaut Festival in eine andere Kerbe.

Tag 1

Dementsprechend machen wir unerschrockenen Festivalreporter von postmondän uns hoffnungsvoll auf den Weg Richtung südwestliches Sachsen, dort, wo das Erzgebirge seine ersten Wellen schlägt. Am Chemnitzer Hauptbahnhof angekommen, erwartet uns bereits freudestrahlend der Shuttlebus, der uns gerne zum Gelände fahren möchte. So nehmen wir das Angebot an und bekommen obendrein eine kleine Stadtrundfahrt, die uns immerhin aus der Stadt herausführen soll. Ein städtebaulicher Wahnsinn versetzt uns alsbald in eine andere Welt, was ja durchaus im Sinne eines Festivals ist. Pittoreske Straßenzüge stehen hier in einem mehr oder weniger symbiotischen Verhältnis zu sozialistisch-klassizistischen Bauwerken. Quasi ein Melting Pot aller architektonischen Vorlieben, von Mendelsohn über Stalin bis hin zu Erika Mustermann. Marx‘ sieben Meter großes Konterfei  drückt jedoch alles andere als Begeisterung aus, also schnurstracks zum Stausee Oberrabenstein am Stadtrand, wo sich zum vierten Mal die Kosmonauten versammeln.

Kosmonaut Festival 2016 Zeltplatz

Mit Blick über grüne Wiesen und die Dächer der Stadt steht mittlerweile das Zelt, sodass die Umgebung erkundet werden kann. Schnell fällt auf, dass Helga auch mal wieder mit am Start ist. Wir freuen uns selbstverständlich über ihre vermeintliche Anwesenheit. Schließlich ist es ihr angesichts der Tatsache, dass Festivals in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, inzwischen unmöglich geworden, sämtliche Veranstaltungen zu besuchen. Folglich wurde bereits das Rufen ihres Namens das ein oder andere Mal schmerzlich vermisst. Da wir uns schon mit dem Thema Rumgegröle beschäftigen: Ein bisschen britisch wird es dann doch. Als Konsequenz der Fußball-EM wird während des gesamten Wochenendes der nordirische Nationalspieler Will Grigg besungen. Eingewechselt wird er hier jedoch ebenso wenig wie in Frankreich.

Zwei lauwarme Cervisiae aus der Blechbüchse später wird nun endlich die erste Bühne erreicht. Den von abstrusen Verschwörungen schwadronierenden Prinz Pi haben wir leider versäumt. Also schauen wir uns den Auftritt der beiden Girls von Boy an. Dabei knistert es so sehr in der Luft, dass die Technik versagt und der Gig unterbrochen werden muss. Derweil spielen auf einer der Nebenbühnen Mule & Man, einem Hybrid aus Kid Simius und Bonaparte. Die Bühnenshow ist zwar nicht ganz so stark von faszinierender Absurdität geprägt, wie man es seit vielen Jahren von der zweitgenannten Band gewohnt ist. Dennoch lassen die elektronischen Arrangements Kid Simius‘ und die alten Schlager von Bonaparte das Publikum mit Enthusiasmus erfüllt zurück.

Kosmonaut Festival 2016 BOY

Anschließend kommt es zur ersten, von vielen Besuchern heiß ersehnten, Aufführung eines Headliners. Der Bielefelder Kasper namens Casper gibt seinen einzigen inländischen Auftritt in diesem Festivalsommer und neben bedeutenden Teilen seines Œuvres gar einen neuen Song zum Besten. Das versetzt nahezu das gesamte Festival in Ekstase, denn gefühlt 93,47 % der Besucher tragen uniform ein weißes T-Shirt des bemützten Rappers. Das darauf stehende mysteriöse Datum sowie der obskure Hashtag „#lldt“ (lang lebe der tod) ließen uns zuvor rätseln, ob es sich dabei um eine Neuberechnung des Maya-Kalenders durch Nostradamus handelt. Es stellte sich jedoch heraus, dass es unwesentlich schlimmer kommen soll. Denn das Datum verweist auf das Release seines neuen Albums, das uns nun droht. Die Shirts hatte der bescheidene Geschäftsmann Casper in einer Stückzahl von 7.000 eigenständig unter das Volk gebracht.

So endet der erlebnisreiche erste Tag auf dem Kosmonaut Festival und sogleich wird feiernd der zweite eingeläutet. Während auf dem Gelände noch an verschiedenen Bühnen aufgelegt wird, kommt auch der Backstage-Bereich bis zum frühen Morgen nicht zur Ruhe. Boy haben sich die Laune nicht vermiesen lassen und zeigen mit ihren adrett-flotten Tanzbewegungen zu Gang of Four, dass es ihnen einerlei ist, am Nachmittag bereits das nächste Festival bespielen zu müssen.

Tag 2

Am nächsten Morgen (bzw. Mittag) dann der nächste Donnerschlag, dieses Mal aber verbaliter. Schwarze Wolken, grummelnder und flackernder Himmel lassen die Veranstalter an die unschönen Ereignisse während des diesjährigen Rock am Ring denken. Da gerade zeitgleich das Geschwisterpaar Hurricane und Southside stattfindet und bereits ähnliche Meldungen verkündet, werden verständlicherweise umgehend die Zeltplätze sowie das Festivalgelände abgesperrt. Möglichst viele Besucher werden in ihre Autos bzw. in die Shuttlebusse gestopft, wo sie dann für drei Stunden ausharren dürfen und mit ihrer unerschütterlich guten Laune dem miesen Wetter die Laune vermiesen.

Mit etwas Verspätung können daraufhin die ersten Bands ihre geplanten Gigs spielen. Den Anfang macht Dota, f.k.a. Die Kleingeldprinzessin. Auch sie hat mit technischen Problemen zu kämpfen, muss den letzten Titel unterbrechen und beschließt das Konzert nach Absprache mit dem Publikum durch das Spielen der letzten 30 Sekunden des Songs, sodass alle zufrieden sind. Zu DIE NERVEN haben sich leider nur wenige Leute eingefunden, dabei bestechen sie mit ihrer eigenen Auffassung von Noise-Rock. Drummer Kevin rächt sich später jedoch gekonnt am Publikum für die ausbaufähige Aufmerksamkeit, indem er lediglich mit einem durchsichtigen Regenponcho bekleidet über das Gelände streift.

Quelle: Facebook

Das Unwetter hat inzwischen endgültig die Lust verloren, sodass sämtliche Acts wie geplant über die Bühne gehen können. Feine Sahne Fischfilet, seines Zeichens vom unfehlbaren Verfassungsschutz als linksextrem eingestuft, vertritt gemeinsam mit Frittenbude das beim Festival beliebte Audiolith-Label und berichtet von der interessanten Erfahrung des Wasted-Seins im vorpommerschen Jarmen. Drangsal holt uns zurück in das Jahrzehnt unserer ersten Lebensjahre und Wanda singen von den Flaschen von gestern. Dabei dürften sie durchaus etwas mehr Selbstwertgefühl besitzen, ihren großen Durchbruch hatten sie schließlich erst im vergangenen Jahr. Abgesehen davon hat man aber das Gefühl, dass sich ihr Werk schnell abgenutzt hat. Dieser Eindruck, der bereits beim Hören ihres zweiten Albums aufkam, wird auf gewisse Weise in der Live-Performance bestätigt.

Die bei postmondän erwiesenermaßen beliebte Band Turbostaat befindet sich in dieser Hinsicht auf einem anderen Pfad. Während die fünf Herrschaften aus dem hohen Norden einige Songs ihres mittlerweile sechsten Albums präsentieren, hat es den positiven Anschein, dass sie in diesem Leben ihre Instrumente wohl nicht mehr an den Nagel hängen. Anschließend geht es weiter mit Alligatoah. Der feine Herr Gatoah singt mir von einem regenbogenfarbenen Heißluftballon, dass ich schön sei, dafür aber nichts könne. Ich nehme es dennoch wohlwollend zur Kenntnis. Um den Altersdurchschnitt zu heben – was uns beim Blick in die große Runde absolut entgegenkommt – hat der mittlerweile auch aus Rundfunk und Fernsehen bekannte Singer-Songwriter Olli Schulz seine Stunde Ruhm am Stausee Oberrabenstein. Passenderweise erzählt er den Heranwachsenden, dass es gar nicht so schlimm sei, älter zu werden. Mit diesen tiefgehenden Worten neigt sich der zweite und letzte Tag des Kosmonaut Festival dem Ende entgegen.

Kosmonaut Festival 2016 Gelände

Ach ja, einen geheimen Headliner gibt es auch noch. Der trägt den Namen Die Fantastischen Vier. Das Lüften des sagenumwobenen Geheimnisses hat ambivalente Reaktionen zur Folge. Zwar bleibt es vor der Hauptbühne recht voll, doch andererseits treibt es Scharen von enttäuscht dreinblickenden Menschen vom Gelände. Sie ahnen bereits, dass anstelle des folgenden lustlosen Auftritts der Hip-Pop-Veteranen eventuell mehr hätte gehen können. Die Veranstalter werden es für das nächste Jahr auf dem Zettel haben. Apropos, was machten eigentlich die Gastgeber von Kraftklub? Sie begnügten sich dieses Jahr damit, am offiziellen Flunkyball-Turnier teilzunehmen.

We had to leave. Geschichten von Monstern, Gejagten und schäumendem Sauerstoff

Am gestrigen Abend stellten We had to leave. im Bremer Tower ihr erstes Album A Rather Confident Thought vor. Während sie in ihrer Heimatstadt längst weitaus mehr als ein Geheimtipp sind, wollen sie nun auch in anderen Städten von ihrer Definition des Indie reden machen.


Aus dem kleinsten Bundesland ist seit jeher eine überschaubare Anzahl von positiven Nachrichten zu vermelden. Das Bildungssystem liegt brach, der einst so stolze örtliche Fußballverein blickt wehmütig auf seinen avantgardistischen Charakter der Nullerjahre zurück und das Viertel als kulturelles Zentrum droht der Bourgeoisie anheimzufallen. Nicht gerade erbaulich.

Doch es ist Hoffnung in Sicht. Etwas an der prekären Situation ändern könnte die hier ansässige junge Szene an Musikschaffenden, die sich ihrer Kreativität in vielfältiger Weise genreübergreifend bedient. Ein Beispiel für diese positive Entwicklung ist die dreiköpfige Band We had to leave., die vergangene Woche ihren ersten Longplayer A Rather Confident Thought veröffentlichten. Die Combo definiert sich vorrangig als Liveband, die ihren Ursprung in Gigs in anderer Leute Wohnzimmer sieht und bereits über Bühnenerfahrung auch im Ausland verfügt, da sie bereits mehrmals bei Festivals und Konzerten in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und der Schweiz auftrat. Die neuen Aufnahmen sollen jedoch zunächst in heimischen Gefilden wie Bremen, Hamburg, Kiel oder Oldenburg dem konzertaffinen Publikum vorgestellt werden. Mitte Mai gilt es dann, Hörer٭innen in etwas weiter entfernten Gebieten zu überzeugen, wenn Auftritte im Kukulida in der Dresdener Neustadt (14.05.) und schließlich im Auster Club in Berlin-Kreuzberg (15.05.) folgen.

Was aber macht We had to leave. aus und wie präsentiert sich deren erstes Album? Sie selbst beschreiben sich als Indie-Electro-Trio, das „mit progressivem Geschrammel und subtiler Arroganz so ziemlich jeden Club in eine seriöse Spielwiese [verwandelt]“ (Quelle: Pressetext). Klingt vielversprechend. Tatsächlich kann von Geschrammel aber kaum die Rede sein. Wer sich an der 2014 erschienenen EP Awake Asleep orientiert, auf der der Titel Branches heraussticht, wird sich ob des stringenten Arrangements auf A Rather Confident Thought überrascht zeigen.

Quelle: YouTube

Während die EP äußerst experimentell daherkommt und sich durchaus gefällig, aber unvorhersehbar zwischen elektronischen Elementen, melodischem Songwriting, aber auch härteren Gitarrenriffs und damit irgendwo zwischen Dream Pop und Shoegaze bewegt, ist nun ein klar nachvollziehbarer Stil zu erkennen. Im Vergleich zum Vorgänger erscheint das Album einerseits weitaus poppiger, andererseits deutlich reifer und wohldurchdacht, was gleich die erste Singleauskopplung Small Voices illustriert.

Quelle: YouTube

Unüberhörbar greift die Band auf verschiedene Einflüsse zurück. Bemerkbar macht sich dies in der Betrachtung der einzelnen Stücke. So erscheint Understanding In A Heartcrash wie eine Reminiszenz an die früheren Foals. Das instrumentale R.S. lässt mit seinem Glockenspiel an Alt-J denken und das Interludium Transitional Arrangement vereint Merkmale von Sigur Rós. The Hunted erinnert in einigen Elementen an Deerhunters Halcyon Digest.

 

Quelle: YouTube

Eine Besonderheit entwickelt sich zudem aus den diversen Wirkungskreisen, die sich ohnehin aus der Zusammensetzung der Mitglieder ergeben. Sänger und Gitarrist Julian kommt laut eigener Aussage eher aus der Indie-Ecke, Drummer Torben hingegen erkennt seine Herkunft im Post-Hardcore und Bassist Christian spielte vormals in einer Metalcore-Band, kann darüber hinaus auf ein Studium der klassischen Musik verweisen. Ein für drei Bandmitglieder vergleichsweise großer Melting Pot also. Dennoch kommt während des Hörens nie der Eindruck auf, dass bei der Komposition der Konsens fehlte. Man scheint sich auf die Gemeinsamkeiten geeinigt zu haben.

Ergebnis ist, dass sich A Rather Confident Thought als ein variantenreiches Werk zeigt, durch das sich trotz der erwähnten vielfältigen Inspirationen eine erkennbare Linie zieht, und sich die Band einen für sich stehenden Stil mit Wiedererkennungswert zu eigen gemacht hat. Es gibt also auch in der Hansestadt allen Grund für eher zuversichtliche Gedanken, die sich auch in anderen Städten der Tristesse ausbreiten dürfen.

Titelbild: © We had to leave.

Über Liebe, staatlichen Terror und eine Sekte – Colonia Dignidad

In “Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück” erleben Emma Watson und Daniel Brühl das Grauen. In einem pathetischen Film, der sein Potential leider nicht ausschöpft, wagt sich der Oscar-prämierte Regisseur Florian Gallenberger an ein dunkles Kapitel der lateinamerikanischen Militärdiktaturen und deutschen Auslandsbeziehungen.


Ein ländliches, dünn besiedeltes Gebiet. Wälder, Wiesen und im Hintergrund die schneebedeckten Berge der mächtigen Gebirgskette der Anden. Am Straßenrand ein Eingangstor, das Besucher mit „Bienvenidos“ und dem bayerischen Wappen willkommen heißt. Dahinter eine Parkanlage, am Ende der Auffahrt ein Hotel, ein Restaurant, ein Veranstaltungsgebäude. La Villa Baviera – das bayrische Dorf, in dem unter anderem das Oktoberfest gefeiert wird. Wo Familien dazu eingeladen werden, sich in einem „authentischen deutschen Dorf der Sinne zu erfreuen“, wie es auf der eigenen Website heißt. Wer heute nach Chile reist und unvoreingenommen einen Fuß auf dieses einige hunderte Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile gelegene Areal setzt, wird sehr wahrscheinlich nichts von der Dramatik ahnen, die sich hier über Jahrzehnte vollzog.

Colonia Dignidad: Die Schaffung eines Ortes des Horrors

1961 gründete der evangelische Jugendbetreuer und Prediger Paul Schäfer nahe der chilenischen Stadt Chillán die Colonia Dignidad (dt. Kolonie der Würde). Zuvor war er aufgrund des Verdachts sexuellen Missbrauchs aus Deutschland geflohen. Mit sich brachte er eine Anhängerschaft, die seinem christlich-fundamentalistischem Weltbild folgte und errichtete eine abgeschottete Enklave, in der ein urchristliches Leben geführt werden sollte. Bereits kurz nach der Gründung begann er mit der systematischen Entführung von Minderjährigen, die unter strenger Bewachung Zwangsarbeit leisteten. Der Personenkult um Schäfer innerhalb der Gemeinde erlaubte es ihm außerdem, seine pädophilen Neigungen uneingeschränkt ausleben zu können. Ein Entkommen aus dieser abgelegenen Siedlung war praktisch unmöglich. Laut Gallenberger gelang in fast 40 Jahren lediglich fünf Personen die Flucht aus der Kolonie.

Als am 11. September 1973 der chilenische General Augusto Pinochet einen Staatsstreich organisierte, der den Sturz der weltweit ersten sozialistisch gewählten Regierung Salvador Allendes zur Folge hatte, wurde das südamerikanische Land für knapp zwei Jahrzehnte dem staatlichen Terror unterworfen. Anhänger Allendes und Personen, die sich nicht dem Willen der ultrakonservativen, von der Elite gestützten Militärdiktatur beugten, wurden verfolgt, verhaftet, gefoltert, verschwanden spurlos bzw. wurden ermordet. Der Colonia Dignidad kam in dieser Epoche eine nicht unwesentliche Rolle zuteil. Zum einen unterstützte sie den Putsch, indem sie durch ihre Verbindung zu rechtsextremen Gruppierungen Waffenlieferungen aus Deutschland erleichterte. Zum anderen diente die Siedlung fortan als Stützpunkt von Pinochets Geheimdienst DINA, sodass dort in der Folge politische Gegner festgehalten, ermordet und verscharrt wurden.

Das Schweigen der politischen Akteure

Das Ende der Diktatur im Jahr 1990 überlebte die Colonia Dignidad. Es dauerte bis 1996, bis die chilenische Justiz begann, sich mit Paul Schäfer auseinanderzusetzen. Dieser tauchte daraufhin unter. Erst als er im März 2005 in Argentinien festgenommen wurde, unterstellte man die Kolonie der Zwangsverwaltung. Die Anklage gegen Schäfer und seine Mittäter brachte weitere grauenhafte Details zu den Praktiken innerhalb der Sekte zu Tage. Es stellte sich heraus, dass es dort neben der Kollaboration mit einem Regime, das zahlreiche Menschenrechtsverletzungen beging, zu massiven Folterungen und psychiatrischen Prozeduren an Kindern kam. Bis heute kämpfen Überlebende und ehemalige Bewohner um gerichtliche Anerkennung und Entschädigung ihres jahrelangen Leidens.

Die deutsche Regierung hegte für die Aufklärung der Ereignisse in der Colonia Dignidad kein sonderliches Interesse. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sie in der deutschen Politik, allen voran in der CDU und CSU, eine Lobby besaß. CSU-Politiker um Franz Josef Strauß besuchten die Kolonie persönlich und zeigten sich danach von den dortigen Zuständen positiv beeindruckt. Heute ist die Siedlung ein Ort des Tourismus, der sich kaum mit der dunklen Vergangenheit auseinandersetzt. Ein Affront gegen die Opfer.

Gallenbergers Fiktion

Eine mehr als heikle Thematik also, die der Regisseur für die Schaffung einer fiktiven Geschichte nutzt. Daniel (Daniel Brühl), ein deutscher Fotograf, hat sich in Santiago de Chile der sozialistischen Studentenbewegung angeschlossen und unterstützt diese als Redner und Gestalter von Plakaten. Daniels Freundin Lena (Emma Watson) ist Stewardess und stattet ihm während ihres mehrtägigen Aufenthalts in Chile einen Besuch ab. Kurz vor ihrer Abreise gerät das junge Paar in den Strudel der Ereignisse. Nachdem Pinochet zum Staatsstreich aufgerufen hat, Präsident Allende gestürzt wurde und Suizid begangen hat, beginnt das Militär umgehend mit der Repression jeglicher politischer Gegner. Auf offener Straße werden Menschen willkürlich untersucht, verhaftet und bei Gegenwehr mit Schlagstöcken malträtiert oder sogar erschossen.

Daniel versucht, das Chaos mit seiner Kamera festzuhalten, wobei ihn ein Soldat entdeckt. Daraufhin werden er und Lena in Gewahrsam genommen und in das Nationalstadion, das damals für einige Monate als Konzentrationslager für politische Gefangene genutzt wurde, gebracht. Nachdem ein Kollaborateur des neuen Regimes Daniel als politischen Aktivisten Allendes ausmacht, wird dieser schließlich an einen zunächst unbekannten Ort entführt und dort gefoltert. Lena, die der gewaltsamen Verschleppung ihres Freundes tatenlos zusehen muss, findet heraus, dass Daniel in die Colonia Dignidad gebracht wurde und entscheidet sich dazu, in die berüchtigte Sekte einzutreten, um ihren Geliebten zu retten.

Gute Intention

Gallenbergers Intention, mit seinem Film auf die Verbrechen in der Colonia Dignidad und deren Verquickung mit der Militärdiktatur aufmerksam zu machen, ist lobenswert, da die Aufarbeitung weder in Chile noch in Deutschland als abgeschlossen betrachtet werden kann und das Thema daher nach wie vor von Aktualität geprägt ist. Dem Regisseur gelingt es, die Perfidität Schäfers, der von Mikael Nyqvist verkörpert wird, eindrucksvoll nachzuzeichnen, ohne das Grauen ständig direkt zu präsentieren. Da das Latente, nicht Gezeigte dem Zuschauer dennoch offensichtlich erscheint, werden die Qualen und die Angst der Sektenmitglieder nachvollziehbar. Das trist gestaltete Szenenbild einer zutiefst konservativen und fundamentalistischen Umgebung unterstreicht die Stimmung und bildet somit einen krassen Kontrast zu der farbenfrohen und endlos weiten Landschaft, die sich unmittelbar außerhalb der Kolonie in Freiheit präsentiert.

Mangelhafte Umsetzung

Dennoch kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Film zuvorderst auf die Unterhaltung des Publikums abzielt und dabei die zunächst verfolgten Ansätze verloren gehen. Die zu Beginn der Handlung noch sinnig erscheinende Romanze, ist rechtzeitig nur noch von untergeordneter Bedeutung, drängt sich letztendlich aber wieder in den Vordergrund. Zudem werden die Protagonisten von einem beständig vorhandenen Pathos umwoben. Die übermäßige Konstruktion der fiktiven Momente des Films sowie die Heroisierung der Charaktere verleiten den Zuschauer hin und wieder zu Belustigung, was im Zusammenhang der Hintergründe unpassend wirkt. Die schauspielerischen Leistungen erscheinen passabel, allenfalls Emma Watson weiß gelegentlich wirklich zu überzeugen.

Was Gallenberger jedoch allem voran vermissen lässt, ist die Konsequenz in der Durchführung seiner durchaus guten Annäherungen an dieses dunkle Kapitel. Damit verpasst er die Chance, auf weiterreichende Missstände hinzuweisen als letztlich die Vorkommnisse in der Kolonie selbst. Viele Faktoren, die beispielsweise auf einen politischen Skandal verweisen, werden nur angedeutet. Zwar wird gezeigt, dass die deutsche Botschaft in Santiago mit dem Regime kollaborierte, jedoch steht sie mehr oder weniger als unabhängiger Akteur da. Dass offensichtlich auch weitere politische Vertreter aus der Bundesrepublik von den Zuständen gewusst haben mussten, wird außen vor gelassen. Außerdem macht der Film den Zusammenhang zwischen Kolonie und Diktatur ersichtlich, geht jedoch nicht näher darauf ein, wie dieser zustande kam oder wie er sich für beide Seiten auswirkte. Zu der Ideologie Schäfers und den Hintergründen seiner Gefolgschaft werden ebenso nur wenige Informationen geliefert.

Vielleicht wird man Gallenberger mit Hinblick auf das Format des Spielfilms nicht gerecht, zu verlangen, auf all diese diversen Problematiken einzugehen. Dem Regisseur gelingt immerhin ein durchaus unterhaltsamer und sehenswerter Film. Allerdings nutzt er sein Potential nicht, eine größere Reichweite zu erlangen.

 

Titelbild: Copyright: Majestic / Ricardo Vaz Palma

Der Nachbarsjunge aus Compton

Kendrick Lamar wird aller Voraussicht nach der große Abräumer bei der diesjährigen Grammy-Verleihung sein, die morgen Abend im Staples Center von Los Angeles stattfindet. Seine elf Nominierungen werden lediglich von Michael Jacksons Thriller im Jahr 1984 übertroffen. Wer steckt hinter dieser Persönlichkeit, die in der US-amerikanischen Öffentlichkeit nicht nur für ihr musikalisches Wirken, sondern auch ihre politische Stimme gefeiert wird? Und wird er diesem Ruf überhaupt gerecht?


Ein einschneidendes Erlebnis, das laut eigener Aussage richtungsweisenden Einfluss auf seine Entscheidung hatte, sich der Musik zuzuwenden, war der von ihm als Teenager beobachtete Videodreh zu California Love seiner Idole Tupac Shakur und Dr. Dre nahe seines Elternhauses. Geboren wurde Kendrick Lamar Duckworth im kalifornischen Compton, einem Vorort von Los Angeles. Jenes Compton ist neben der wegbereitenden Hip-Hop-Crew N.W.A (Straight Outta Compton) vor allem dafür bekannt: Armut, Bandenkriminalität, hohe Mordraten, Perspektivlosigkeit. Geprägt durch diese Wirren und inspiriert durch seinen Englischlehrer beginnt der leistungsstarke High-School-Schüler, der von einer Profikarriere als Basketballer in der NBA träumt, sich mit der Lyrik auseinanderzusetzen. Diese hilft ihm, seine eigenen Gefühle und das auf den Straßen Comptons Erlebte niederzuschreiben und somit zu verarbeiten. Etwa 15 Jahre später gilt Kendrick Lamar als der Superstar des Hip-Hop, der spätestens seit seines 2015 veröffentlichten Albums To Pimp A Butterfly in Fachkreisen für sein narratives Talent sowie musikalischen Variationsreichtum Anerkennung findet und das Genre laut Meinung vieler somit auf eine neue Stufe gehoben hat.

Der große Durchbruch innerhalb der Szene gelang Lamar 2012 mit dem Konzeptalbum Good Kid, M.A.A.D City, auf dem er in einer Art episodischen Kurzfilm von seinen Teenagerjahren im drogenverseuchten und von Gangs geprägten Compton berichtet. Auf To Pimp A Butterfly ändert sich die Thematik nicht grundlegend, der Kontext hingegen weitet sich darauf aus, gesellschaftliche Phänomene wie eben Rassendiskriminierung in literarischer und durch rhetorische Mittel geprägte Weise in den Blick zu nehmen. Hinsichtlich der in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückten unverhältnismäßigen Polizeigewalt gegenüber der schwarzen Bevölkerung trifft Kendrick Lamar damit ein Gefühl, das die US-amerikanische Nation bewegt. In der Folge übernahmen Aktivisten der Black Lives Matter-Bewegung die Textpassage „we gon‘ be alright“ aus dem Song Alright, um ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zum Ausdruck zu bringen. Schnell wurden Bezüge zu anderen Protestliedern wie etwa We Shall Overcome hergestellt. Das Video zu diesem Titel glänzt durch seine Metaphorik und schier grenzenlosen Optimismus, der sich trotz der Frage durchringt, inwiefern tatsächlich Fortschritte in Bezug auf Rassengleichheit in den vergangenen Jahrzehnten gemacht wurden.

Quelle: YouTube

Selbst Barack Obama erklärte How Much A Dollar Cost aus dem im letzten Jahr erschienenen Album zu seinem persönlichen Song des Jahres. Doch die zahlreichen Reverenzen und die Tatsache, dass To Pimp A Butterfly sehr schnell als Klassiker und Meilenstein der Musikgeschichte eingeordnet wurde, rief kritische Stimmen im Hinblick auf Lesart und Interpretation von Lamars Werk hervor. Zu diesen gehören äußerst fragwürdige Aussagen wie von Geraldo Rivera, seines Zeichens Journalist bei Fox News, der Lamar und dem Hip-Hop bescheinigte, einen größeren Schaden an der afroamerikanischen Jugend angerichtet zu haben, als es der Rassismus in den vergangenen Jahren tat. Nicklas Baschek gibt in der ZEIT einen zumindest im Ansatz interessanten Gedanken wieder, indem er Lamar die politische Wirkkraft abspricht und ihn in dessen konkreten Aussagen hinterfragt. In gewisser Weise ist Bascheks Argumentation nachvollziehbar, wenn er in Lamars Texten Gottvertrauen als großen Hoffnungsträger ausmacht und zu dem Schluss kommt, dass der Künstler den schwarzen Protest delegitimiere, da er sich primär gegen die Differenzen innnerhalb der black community wendet und somit die Gewalt gegen schwarze Jugendliche relativiere.

Dementsprechend darf hinsichtlich aller Euphorie, die Kendrick Lamar entgegengebracht wird, durchaus hinterfragt werden, welcher politische Wirkungskreis dem Musiker letztendlich zugestanden wird. Allerdings besteht ohnehin die Frage, inwiefern er, der seine Rolle als Stimme der schwarzen Bürgerrechtsbewegung immerhin annimmt, bei der Schaffung seines Albums überhaupt die Intention verfolgte, kein moralisches, sondern vielmehr politisches Werk zu produzieren. Unbestreitbar erreicht Lamar in künstlerischer Perspektive nicht zuletzt mit To Pimp A Butterfly ein stilistisch wertvolles Resultat. So errichtet er vielschichtige Parabeln, die sich mit der Unterhaltungsindustrie, seiner ihn prägenden Reise auf den afrikanischen Kontinent oder schlicht den eigenen Selbstzweifeln in Bezug auf Ruhm, Herkunft und Sehnsüchten auseinandersetzen. In dieser Hinsicht bleibt Lamar authentisch und nicht selten wird der Eindruck erweckt, dass seine Erzählungen als Spiegel der jungen afroamerikanischen Gesellschaft gesehen werden kann, der die Zerrissenheit zwischen Wut und Hoffnung reflektiert. Dieser Zweispalt zeigt sich unter anderem durch die teils widersprüchlichen Stücke auf seinem Album. The Blacker The Berry ist aggressiv, zeugt von Selbsthass und spielt mit Stereotypen. Den Titel bezieht Lamar aus dem gleichnamigen Roman Wallace Thurmans von 1929, das unter dem Eindruck der Harlem Renaissance die Rassendiskriminierung innerhalb der schwarzen Community behandelt.

Quelle: Vimeo

Der vom Funk geprägte Titel i wiederum erscheint mit positiver Energie und zielt auf das Selbstbewusstsein des Schwarzseins sowie das Betonen der eigenen Identität ab. Im Kontext von To Pimp A Butterfly erweist sich dieser vorletzte Song des Albums als Symbol der selbstinitiierten Befreiung.

Quelle: Vimeo

Der Antagonismus dieser beiden Songs wurde mit dem seit Jahrhunderten bestehenden doppelten Bewusstsein, einerseits der rassistisch konstituierte Selbsthass und andererseits das Feiern der eigenen Identität, in Verbindung gesetzt. In dieser Hinsicht liegt ein Vergleich mit der unterschiedlichen Herangehensweise an die Rassentrennungsproblematik durch Malcom X und Martin Luther King in gewisser Weise nahe. Im Allgemeinen sollte man sich jedoch bei allem Hype um die Person Kendrick Lamars und die Interpretation seines Werkes fragen, ob der Diskurs nicht eine zu große Dimension angenommen hat und man sich nicht einfach über ein Stück musikalische Innovation freuen sollte, die sich auch in Teilen des Mainstreams manifestieren kann. Umso positiver ist es zur Kenntnis zu nehmen, wenn diese Kreativität eines Jungen aus Compton, der im Grunde genommen schlichtweg seine eigene Geschichte erzählt, darüber hinaus ein größeres Selbstbewusstsein für eine diskriminierte Bevölkerungsgruppe bewirken kann.

 

Quelle Titelbild: YouTube

Eine Erinnerung an zu Erinnernde – Paco Roca: Die Heimatlosen

Der Comicautor Paco Roca erzählt die Geschichte eines Freiheitskämpfers. Was macht dieses Werk so wertvoll?



„Jede Generation hat ihre eigenen Kämpfe und sie waren mit dem Moment konfrontiert, in dem man mit Waffengewalt gegen den Faschismus kämpfen musste. Vielleicht liegt es heute in unseren Händen, das zu verteidigen, was sie erreichten, eine gewisse Form des Lebens, die wir bisweilen zu verlieren drohen.“

Paco Roca

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährte sich vor wenigen Monaten bereits zum siebzigsten Mal. Dies bedeutet, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Möglichkeit erlischt, das Geschehene und Erlebte auf Grundlage von Zeitzeugenberichten festzuhalten. Dem spanischen Comicautor Paco Roca ist das bewusst und er präsentiert mit seiner 2015 im Reprodukt Verlag erschienenen Graphic Novel Die Heimatlosen (sp. Los surcos del azar) ein lesenswertes Werk, das heute fast vergessenen Akteuren im Kampf gegen den europäischen Faschismus zu neuer Anerkennung verhilft.

Zu Beginn der Handlung ist es Roca selbst, der den nun im französischen Exil alleine und zurückgezogen lebenden Bürgerkriegs- und Weltkriegsveteranen Miguel Ruiz aufsucht, um dessen Geschichte in Erfahrung zu bringen und dokumentieren zu können. Der kauzig wirkende alte Herr begegnet diesem Vorhaben zunächst mit Ablehnung und Wortkargheit.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 31

© Reprodukt/Paco Roca

Als er jedoch erkennt, dass es dem Autoren ein ernstes Anliegen ist und dieser sich aufrichtig für dessen Vergangenheit interessiert, lässt er sich schließlich darauf ein. Somit wird dem Leser die bewegte Geschichte eines ehemaligen spanischen Soldaten dargeboten, der als Republikaner nach dem Sieg der faschistischen Franquisten im Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) seine Heimat verlor und fortan von Idealismus getrieben einen nicht unerheblichen Teil dazu beitrug, dass Europa weitestgehend vom nationalsozialistischen Deutschland befreit werden konnte. Ruiz steht hier stellvertretend für eine beachtenswerte Zahl von Spaniern, die sich nach der Flucht vor Francos Repression trotz des schlechten Umgangs in den französischen Auffanglagern der Résistance anschlossen und 1944 wesentlich an der Befreiung von Paris beteiligt waren.

Die Erzählperspektive bewegt sich im Laufe der Handlung zwischen der Gegenwart, in der Paco Roca den alten Ruiz interviewt und darüber hinaus im recht schlichten Alltag begleitet, und der Vergangenheit, die auf dem von Ruiz Berichteten basieren. Dieses Stilmittel ist gewiss nicht neuartig. In diesem Zusammenhang und in Bezug auf die Thematik im Allgemeinen fällt die Ähnlichkeit zu Javier Cercas‘ erfolgreichem Roman Soldados de Salamina auf, der 2003 verfilmt wurde und von einem Journalisten (Buch) bzw. einer Journalistin (Film) handelt, der/die sich ebenfalls auf die Suche nach einem vermeintlichen Helden des Spanischen Bürgerkriegs macht und schließlich in Frankreich fündig wird.

Insofern hat Paco Roca mit Die Heimatlosen sicherlich das Rad nicht neu erfunden. Dennoch sind ihm einige Aspekte hoch anzurechnen. Zum einen greift er in eindrucksvoller Weise auf das zumindest in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit historischer Thematik immer noch unkonventionell erscheinendem Genre des Comics zurück, auch wenn Künstler wie Art Spiegelman oder Joe Sacco in dieser Hinsicht bereits Pionierarbeit leisteten. Dass Roca in diesem Fall geradezu ein – wenn auch teils fiktives – Paradebeispiel von Oral History liefert, macht die Lektüre umso spannender. Trotz der dramatischen und bedrückenden Ereignisse sorgt beispielsweise die kapriziöse Erscheinung des alten Ruiz immer wieder für humoristische Situationen.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 126

© Reprodukt/Paco Roca

Des Weiteren wagt sich Paco Roca an eine Materie, die in seinem Heimatland pikant anmutet. Denn der spanische Erinnerungsdiskurs ist nach wie vor von Emotionalität und Polarität geprägt. Grund dafür sind die fast 40 Jahre währende Militärdiktatur Francos, die nur die Version der Siegerseite zuließ und der anschließende, gelinde gesagt, vorsichtige Umgang mit der Aufarbeitung der nationalen Vergangenheit. Roca behandelt das Geschehene aus der Perspektive der antifaschistischen Freiheitskämpfer, die sich dem vergeblichen Aufbäumen gegen die Franquisten anschlossen und daraufhin für den Rest ihres noch jungen Lebens die Heimat verloren. Dennoch ist eine unkritische Glorifizierung und Heroisierung der Protagonisten nicht zu erkennen. Der Autor verzichtet gänzlich auf Euphemismen und stellt die Ereignisse schonungslos dar.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 227Paco Roca Die Heimatlosen S. 228

© Reprodukt/Paco Roca

So räumt auch der alte Ruiz ein, dass er Taten begangen habe, die er heute bereue.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 229

© Reprodukt/Paco Roca

Paco Roca muss zugestanden werden, dass er mit Die Heimatlosen ein Werk geschaffen hat, das trotz der alltäglichen Konfrontation mit den Ereignissen in den 1930er und 1940er Jahren spannend und unterhaltsam bleibt. Die äußerst menschlich dargestellte Erzählung leistet einen wichtigen Beitrag für Verständigung und Geschichtsverständnis. Der zentrale Wert dieser Graphic Novel liegt aber darin, dass sie die Geschichte einer Gruppe von Menschen beleuchtet, die wahrscheinlich bis heute nicht die Anerkennung erhalten hat, die sie verdient und droht, dem Vergessen anheimzufallen.

Lassen wir somit abschließend den alten Ruiz das Fazit ziehen:

Paco Roca Die Heimatlosen S. 320

© Reprodukt/Paco Roca