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„Uncategorisable Outsiders in Pop“ – Markus Acher im Interview

Bevor vielleicht noch dieses Jahr ein neues Notwist-Album erscheint, steckt Markus Acher tief in der Label-Arbeit: In Kooperation mit Morr Music veröffentlicht sein Label Alien Transistor am 1. Mai das Sampler-Album Minna Miteru, ein Szeneportrait japanischen DIY-Pops. Darauf tummeln sich, so sagt er selbst, einige „unkategorisierbare Außenseiter des Pop“ aus dem Umfeld der Band Tenniscoats, die teilweise so tief im Underground zuhause sind, dass tatsächlich viele Stücke trotz Zeiten von Streaming-Diensten und scheinbar unbegrenzter Verfügbarkeit von Musik erstmals wirklich international verfügbar werden.

Dass dabei ein stilistisch entgrenztes, intensives Hörerlebnis entstanden ist, ist ein zweiter positiver Effekt und Anlass, Markus Acher ein paar Fragen zu stellen. Zum Beispiel darüber, was diese vielseitige Compilation eigentlich zusammenhält, warum sie ausgerechnet in Deutschland erscheinen musste, weshalb die Musik so wichtig ist, wie einflussreich sie für seine eigene Kunst ist – und wie hart der aktuelle Pandemie-Shutdown die Künstler٭innen, Kulturstätten und internationale Beziehungen der Independent-Musik trifft.

von Moritz Bouws und Gregor van Dülmen


Gemeinsam mit Morr Music veröffentlicht dein Label Alien Transistor die japanische Compilation Minna Miteru. Eingangs stellen wir uns die Frage, wie deine inzwischen ja doch sehr intensive Verbindung nach Japan überhaupt entstanden ist.

Einerseits haben es mir das Land, die Kultur und die Menschen natürlich gleich beim ersten Besuch sehr angetan. Aber die bleibende Verbindung kam über die Musik. Da habe ich einfach immer wieder so viel faszinierende und innovative Musik gehört, dass das Interesse nie abriss. Und über die Tenniscoats habe ich jetzt nochmal viele Musiker und Künstler kennengelernt, die ich sonst nie gefunden hätte.

In unserem letzten Gespräch hast du den Japan-Indie-Sampler Songs for Nao (Chapter Music 2004) erwähnt. Er brachte dich unter anderem auf Tenniscoats, mit denen du später die Band Spirit Fest gegründet und nun Minna Miteru kuratiert hast. Inwiefern würdest du sagen, dass der Sampler dein musikalisches Verständnis geändert hat?

Auf dem Sampler habe ich das erste Mal Musik der experimentellen Indie-Folk-Szene rund um die Tenniscoats gehört, und die hat mich sehr berührt. Sie haben keine Angst vor Melodien, aber auch keine Angst vor dem Ausprobieren und Scheitern. Die Beatles, Syd Barrett, Charles Mingus, TV Personalities, Bach, die Residents – da kann man so vieles heraushören, ohne dass es konstruiert klingt. Es gibt keine Berührungsängste, und doch ist es auch kein wildes, stilistisches Durcheinander. Erfahrene Musiker spielen ganz selbstverständlich mit Bekannten, die erst seit zwei Wochen ein Blasinstrument besitzen. Freunde machen zusammen Musik, um sich zu treffen, und die Bands covern sich gegenseitig. Trotzdem wissen sie alle genau, was sie wollen und vor allem auch nicht wollen. D.I.Y. ist sehr wichtig: Sie sind unabhängig und haben ein eigenes Netzwerk aus Freunden geschaffen. Das ist alles extrem inspirierend. Und wie gesagt, die Stücke – so viele unglaubliche Kompositionen und Melodien.

Spirit Fest (v. l. n. r.): Takashi und Saya Ueno, Cico Beck, Mat Fowler und Markus Acher, Foto: © Morr Music.

Beide Sampler umkreisen eine Tokioter DIY-Pop-Szene um das Majikick Label herum. Dennoch gibt es zwischen den Künstler٭innen auf Songs for Nao und Minna Miteru nur wenige Überschneidungen und deutliche Unterschiede in der Songauswahl. Siehst du die neue Auswahl eher als Fortsetzung oder Erweiterung?

Minna Miteru ist eigentlich beides. Songs for Nao hat sich ja zu großen Teilen auf Saya und Uenos Label Majikick und damit verbundene Bands konzentriert. Inzwischen ist viel passiert, und die Szene hat sich auch mehr aufgefächert. Musikalisch hat sich natürlich auch viel getan. Saya wollte bei ihrer Auswahl nicht nur ihre Freunde und eigenen Projekte vorstellen, sondern auch Musik, die sie gerne mag, interessant findet oder sie inspiriert hat. Während Songs for Nao eher der Blick eines Außenstehendem auf diese Szene war, ist Minna Miteru ganz Sayas musikalische Welt. Die Zusammenstellung erzählt genauso viel über sie und ihre Idee wie über die japanische Indie-Szene. Der rote Faden durch die Compilation ist ihre Offenheit und Neugier, die Suche nach Musik, die nicht einzuordnen ist, keine Grenzen kennt und keine Klischees bedient.

Viele der Songs klingen gleichzeitig experimentell und verspielt. Wie würdest du insgesamt das Hörerlebnis von Minna Miteru beschreiben?

Ich finde, Saya hat den Sampler wie ein langes zusammenhängendes Stück zusammengestellt, bei dem man nie weiß, was als nächstes kommt, aber trotzdem alles ganz logisch ineinanderfließt. Ich finde immer noch faszinierend, wie Elektronik, Blasinstrumente, akustische Gitarren und Stimmen zusammenspielen, und am Ende ein großes Ganzes ergeben. Da ist eine Freiheit in der Musik, die ich auch immer suche. Die Musik ist das Wichtigste, gleichzeitig nimmt sich niemand zu ernst. Alles ist Popmusik.

Welche٭r der Künstler٭in hat zuletzt ein Album herausgebracht, das man sich anhören sollte?

Oh…alle natürlich! 🙂 Also, von den Tenniscoats selbst gibt es natürlich viele wunderbare CDs, z. B. ihre Reihe Music Exists mit fünf Alben. Zuletzt haben sie ein Album nur mit ihrer Version von Jazz-Standards aufgenommen, als nächstes kommt ein Album mit elektronischen Beats. Die Band Yumbo ist eine ähnlich tolle Band mit vielen Mitgliedern, die sehr vielseitige experimentelle, unkategorisierbare Popmusik macht. Eddie Marcon ist auch eine wichtige Band, mit allen möglichen Seitenprojekten, die sehr aktiv ist. Da gäbe es noch viel mehr zu nennen.

Es ist nur leider schwierig, die CDs hier in Europa zu bekommen, das ist auch ein Grund, diesen Sampler zu machen. Er soll der Start für eine Reihe von Wiederveröffentlichungen und Compilations der Bands und Projekte sein.

Für einige beteiligte Künstler٭innen muss es eine Besonderheit sein, über zwei in Deutschland ansässige Labels vertrieben zu werden. Wie ist die Resonanz der Künstler٭innen auf eine Veröffentlichung in Europa?

Nach dem, was ich so mitbekomme, sind alle sehr glücklich darüber und freuen sich sehr. Einen vergleichbaren Sampler gab es ja auch in Japan lange nicht mehr. Er führt viele Leute zusammen, in Japan und außerhalb, und das ist eine schöne Sache.

Warum erschien Minna Miteru nicht bei einem japanischen Label?

Das war auch kurzzeitig angedacht, aber da die Idee ja war, diese japanische Szene nach außen zu tragen und außerhalb Japans vorzustellen, ist es so besser.

Minna Miteru erscheint am 1. Mai 2020, Kuratorin: Saya Ueno, Artwork: Takashi Ueno, Coverbild: © Morr Music/Alien Transistor.

Die Auswahl auf Minna Miteru basiert auf einem Songbook mit Stücken befreundeter Musiker٭innen der Tenniscoats. Könntest du uns mehr dazu erzählen: Fand das Songbook in Japan bereits den Weg an die Öffentlichkeit oder handelt es um ein privates Stück?

Das Songbook hat sich Ueno ausgedacht. Da er oft mit befreundeten Musikern zusammensaß und sie angefangen haben, mit der Gitarre Lieder zu singen, hatte er die Idee, ein Indie-Songbook mit den Liedern befreundeter Bands zu machen. Er hat die Liedtexte mit Gitarrenakkorden und eigenen Zeichnungen gesammelt und als Risoprint-Heft in kleiner Auflage veröffentlicht und verkauft. Ich fand das super und da ich einige Lieder nicht kannte, habe ich gefragt, ob ich eine CD davon haben kann. So kam die Idee zu dem Sampler zustande.

Korrespondiert das Artwork der Platte mit dem illustrierten Druck?

Das Risoprint-Heft und der Sampler jetzt haben nur noch ein paar wenige Bands gemeinsam, und dass Ueno die Illustrationen gemacht hat. Sonst sind die Lieder und Bands andere, auch das Artwork ist komplett anders.

Wie würdest du die Rolle der Tenniscoats in der japanischen Indie-Landschaft beschreiben? Kann dort von einer stark vernetzten Subkultur gesprochen werden?

Saya und Ueno sind Teil eines großen Freundeskreises, der sehr aktiv ist. Es gibt viele kleine Plattenläden, Cafés, Galerien und Clubs, in denen winzige Konzerte stattfinden, Ausstellungen, Performances und so weiter. Die Grenzen sind dabei nicht so streng gesteckt wie bei uns. Da können ein Folksänger, elektronischer Noise und ein Tanzperformance an einem Abend stattfinden, einfach weil die Musiker٭innen untereinander befreundet sind. Meistens wird dann auch noch sehr gut gekocht, selbstgenähte Kleidung, CD-Rs in Mini-Auflagen oder Siebdruckhefte verkauft. Tolle und inspirierende Orte. Leider werden auch in Japan viele die Auswirkungen der Corona-Krise wirtschaftlich nicht überleben, da die Regierung bislang keine Unterstützung für Künstler٭innen und Veranstaltungsorte bereitstellt.

Etwas später im Mai erscheint ja auch dein neues Album mit Spirit Fest, Mirage Mirage – alles Gute für den Release! Mit dem Album tauchst du natürlich auch selbst tief in die japanische Indie-Szene ein. Wann und wo ist das Album entstanden?

Wir haben die Platte letzten Sommer in München aufgenommen, ein paar Stücke auch schon im November davor, an ein paar freien Tagen während der Spirit-Fest-Tour in Tokio in Sayas Studio.

Mirage Mirage erscheint am 15. Mai 2020, Coverbild: © Morr Music/Alien Transistor/AFTERHOURS.

Auf Mirage Mirage sind diesmal auch einige Gastmusiker zu hören. Ihr arbeitet darauf außerdem verstärkt mit Field Recordings und Samples. Ist diese Offenheit voreinander und allem anderen typisch für eure Arbeitsweise?

Alle bei Spirit Fest sind sehr offen für alle seltsamen Ideen. Deswegen passt das auch immer sehr gut zusammen. Am Ende aber kommen dann doch oft Pop-Songs dabei heraus, das überrascht uns dann selbst. Mat Fowler (von Jam Money und Spillane Fete) macht ständig Field Recordings, auch um die Umgebung und den Aufnahmeprozess mit in die fertigen Stücke einbringen zu können. So kann man auf der Platte jetzt den Klavierstimmer, ein Kind im Treppenhaus und eine Unterhaltung mit einem alten Mann auf dem Hofflohmarkt vor dem Studio hören.

Es ist bereits das dritte Album in vier Jahren. Was denkst du, wie viele Spirit-Fest-Platten ihr noch veröffentlicht, bevor das neue Notwist-Album erscheint?

Spirit Fest hat ja eine ganz andere und viel spontanere Arbeitsweise, deswegen kann das, wenn wir mal zusammen sind, sehr schnell gehen. Leider wird das durch die Corona-Krise jetzt über einen längeren Zeitraum schwierig werden.
Aber eine neue Notwist-Platte ist auch so gut wie fertig. Sie müsste eigentlich, wenn alles klappt, dieses Jahr irgendwann noch rauskommen.

Glaubst du, wenn man genau hinhört, wird man auch bei den aktuell entstehenden Notwist-Songs Elemente von Minna Miteru heraushören können wird?

Ich denke, man hört das nicht eins zu eins. Aber das Verspielte und der Mut dieser Stücke haben mich schon sehr beeindruckt. Und das fließt bestimmt mit ein.

Vielen Dank für das Interview.


Titelbild: © Morr Music/Alien Transistor

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„Ich muss sie erfinden, die moderne Kunst!“ – Picasso und die Bohème am Montmartre

Tod, Sex, Opium und ein Esel im Flur. Als junger Künstler führte Pablo Picasso ein bewegtes Leben. Julie Birmant und Clément Oubrerie widmen sich in ihrer Graphic Novel „Pablo“ dessen Pariser Anfangsjahren. Kontrastreich und aus feministischer Perspektive.


Sein gewaltiges Gesamtwerk hat deutliche Spuren in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Nicht zu Unrecht gilt Pablo Picasso als Symbol der Klassischen Moderne. Zu Beginn seiner internationalen Karriere war das kaum zu erwarten. „Sicher, Picasso ist ein Genie, aber auch wenn ich so viel Opium rauche wie er, ich verstehe seine Malerei einfach nicht.“ Diese Bemerkung, die die Autor٭innen dem jungen deutschen Maler Karl-Heinz Wiegels im Jahr 1908 zuschreiben, lässt Picassos steinigen Weg zu Anerkennung und Ruhm erahnen.

Wiegels, der sich im Umfeld Picassos bewegte und heute nahezu vergessen ist, nahm sich nach erheblichem Drogenkonsum noch im selben Jahr das Leben. Dieses Schicksal blieb dem jungen Spanier, vermutlich auch durch diese Tragödie bedingt, glücklicherweise erspart. Seine Vorliebe für geisteserweiternde Mittel schränkte er in der Folge ein. Begreifbar war seine Kunst dennoch vielen Menschen zunächst nicht.

Konglomerat der Superstars

Im Jahr 1900 kam Pablo Picasso – talentiert, aber relativ erfolglos – anlässlich der Weltausstellung in die Stadt, die ihm das Tor zur Weltkarriere öffnete und ihm zugleich viel Schmerz zufügte. Mit ihm nach Paris kam sein enger Freund Carlos Casagemas, der sich nicht viel später aus Impotenz und Liebeskummer eine Kugel in den Kopf schoss. Ein großer Schock für den damals 19-Jährigen, den Picasso in seinen Gemälden verarbeitete und der die Blaue Periode initiierte.

In ärmlichen Verhältnissen lebend und sich in Liebesaffären stürzend machte er die Bekanntschaft zahlreicher Vertreter der damaligen Pariser Bohème, die sich aus Schriftstellern, Malern, Galeristen und Mäzenen zusammensetzte. Persönlichkeiten wie Max Jacob und Guillaume Apollinaire wurden zu seinen Bewunderern und Freunden und der Verleger Ambroise Vollard setzte sich mit seinen Kontakten für Picasso ein. Sehr bald wurden Gertrude und Leo Stein auf ihn aufmerksam und sorgten letztendlich für ein rapides Ansteigen seines Bekanntheitsgrades. Auf diese Weise näherte er sich der etablierten Avantgarde, zu der auch die Fauvisten André Derain und Henri Matisse gehören und zu der er anfangs ein ambivalentes Verhältnis aus Bewunderung und Verachtung hegte.

Bis zu seinem Durchbruch, der ihm schließlich 1907 mit dem damals skandalträchtigen Gemälde „Les Demoiselles d’Avignon“ gelang und mit dem Kubismus (gemeinsam mit Georges Braque) nicht weniger als eine neue Stilepoche begründete, waren Picassos Lebensverhältnisse stets spärlich und von Selbstzweifeln geprägt. Das verfallene Haus Bateau-Lavoir auf dem Montmartre, in dem Picasso etwa fünf Jahre lebte und arbeitete, wurde später – auch durch das Bankett für Henri Rousseau – zum Inbegriff der Pariser Kunstszene.

Bunte Gestalten

Dieser fundamental prägenden Lebensphase Picassos wenden sich die Comicautor٭innen Birmant und Oubrerie mit ihren Zeichnungen und Texten zu. Handwerklich greifen sie dabei auf die klassischen Werkzeuge der Graphic Novel zurück. Ein im Ansatz naiver Zeichenstil verbindet sich mit variantenreicher Farbgebung und Motivwahl, die sich an die jeweilige Schaffensphase Picassos anpassen. Die Protagonist٭innen und Nebendarsteller٭innen präsentieren sich zu einem erheblichen Teil als äußerst eigenwillige, aber auch humorvolle Gestalten, deren Charakterzüge überzeichnet und somit herausgestellt werden.

Bizarre Szenen, wie der im Hausflur stehende (übrigens historische) Esel des Kabarettbetreibers Frédéric Gérard, fügen sich nahtlos ein. Das sich wiederholende Rufen von Parolen à la „Nieder mit den Fauvisten! Es lebe der Kubismus!“ kommt zwar pathetisch daher, da sie erst aus der Retrospektive und kaum zeitgenössisch Sinn ergeben. Andererseits gesellen sie sich zu den selbstbewussten Formulierungen der damaligen Avantgarde. Die Darstellung von Überhöhungen und Lächerlichkeiten sind nun einmal ein legitimes und weithin verbreitetes Mittel dieser literarischen Gattung.

Muse der Emanzipation

Die eigentliche Leistung von „Pablo“ liegt jedoch in der erzählerischen Perspektive. Die Jahre 1900 bis 1908 in Pablo Picassos Leben werden nicht etwa aus dessen Sicht beschrieben, sondern aus dem Blickwinkel Fernande Oliviers, gemeinhin als Muse des Künstlers bezeichnet und über mehrere Jahre mit diesem liiert. Ihr Leben bildet den Rahmen der Erzählung und legt somit Zeugnis von Emanzipation und Selbstbehauptung ab.

Olivier, zunächst zwangsverheiratet und unter den Misshandlungen ihres Ehemanns leidend, floh nach Paris, um ein lebenswerteres Umfeld zu suchen. Dieses fand sie, trotz der widrigen und teils prekären Umstände, im Umfeld der künstlerischen Avantgarde. Jene wiederum entlarvt sich ungeachtet ihres vermeintlich weltoffenen und progressiven Charakters als chauvinistisches Terrain, in dem Frauen zwar oberflächlich mehr Respekt entgegengebracht wird, in den Augen ihrer männlichen Zeitgenossen meist aber nicht über eine dekorative und luststillende Funktion hinauskommen. Olivier gelingt es gelegentlich, aus diesen Strukturen auszubrechen und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, auch wenn es sie am Ende zum selbstbezogenen Picasso zurücktreibt.

Durch diese narrative Methode öffnen Birmant und Oubrerie einen dezent feministischen Blick auf die Szene. Wenn bedacht wird, dass das Bild der Kunstgeschichte bis in das 21. Jahrhundert hinein allen voran von männlichen Akteuren bestimmt wird und Vertreterinnen der Bildenden Künste im allerbesten Fall nebenläufig Beachtung finden, ist dies erwähnenswert. Nicht zuletzt dieser Ansatz macht die Lektüre von „Pablo“ zu einer unterhaltsamen, aber eben auch instruktiven Erfahrung.

Die Gesamtausgabe „Pablo“ ist jetzt bei Reprodukt erschienen und hat 352 Seiten.

Titelbild: © Moritz Bouws

Musikalisches Axtschlachten

„Höllenjazz in New Orleans“ ist Ray Celestins Debütroman, der jetzt in der deutschen Übersetzung erschienen ist. Ein kriminalistisches Stück über einen Serienmörder, das ein blutiges und vielschichtiges Bild des von Umwälzungen betroffenen New Orleans zeichnet und uns die Lebenswelt des jungen Louis Armstrong näher bringt.


Wir schreiben das Jahr 1919. Auf dem gesamten Globus erschüttern gravierende Veränderungen die Menschheit. Die Wirrungen des Ersten Weltkriegs, der die vermeintliche, aber instabile, Weltordnung über den Haufen geworfen hat. Die überall grassierende Spanische Grippe, die in unerkanntem Ausmaß Millionen von Leben auslöscht. New Orleans indessen wäre froh, wenn es dabei und bei zerstörungswütigen Hurrikans bliebe. Neben der von Rassismus und sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft hat die Stadt in Louisiana mit weiteren Verbrechen gegen die Menschheit zu kämpfen wie die Prohibition. Überall werben Anhänger der Abstinenzbewegung auf den Straßen für das bald in Kraft tretende Gesetz und verunsichern die Bürger*innen. Somit erscheint es wenig verwunderlich, dass manch einer die Fassung verliert und unter anderem die Axt schwingend Blutbäder unter Teilen der Bevölkerung anrichtet.

Rassismus und Anarchie

Dieses chaotisch anmutende Szenario reizte den britischen Schriftsteller Ray Celestin dermaßen, dass er es in seinen Debütroman „Höllenjazz in New Orleans“ einbettete. Ganz so amüsant wirken die Morde mit dem möglicherweise aus einem Geräteschuppen entwendeten Werkzeug angesichts der Tatsache, dass es sich um historische Ereignisse handelt, deren Auslöser als „Axeman of New Orleans“ in die Annalen einging, nicht. Tatsächlich muss Big Easy damals eine zu weiten Teilen äußerst gewalttätige und unbarmherzige Umgebung gewesen sein, die einerseits stark von ihrer Einwanderung charakterisiert wurde, von der sie später wie kaum eine andere nordamerikanische Stadt profitieren sollte. Andererseits bedeutete die Rassentrennung, die sowohl im öffentlichen als auch privaten Raum einen Keil in die Gesellschaft trieb, prekäre Lebensverhältnisse für die nicht-weiße Bevölkerung, allen voran der schwarzen, die sich trotz des Abolitionismus kaum als Gruppe freier Menschen identifizieren konnte.

Inmitten dieses menschenverachtenden Milieus führte die Segregation jedoch auch zu einem Aktivismus, der das Selbstbewusstsein und die Identität der unterdrückten Einwohner betonte. Ein Effekt war das Aufkommen eines musikalischen Stils, der sich als richtungsweisend herausstellen sollte und ohne den die folgende Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts gänzlich anders aussähe.

Celestins Geschichte spielt sich vor allem in Storyville ab, das heute neben anderen Vierteln in New Orleans als Geburtsstätte des Jazz gilt. Das ehemals glamouröse Vergnügungsviertel, das 1917 gegen den Widerstand der Stadtverwaltung von den Bundesbehörden geschlossen wurde, entwickelte sich in dem hier betroffenen Zeitraum sukzessiv zu einem verruchten Ort, der von illegaler Prostitution und organisierter Kriminalität geprägt wurde. Vermutlich hätte sich Jack the Ripper hier gut aufgehoben gefühlt. So trieb vor einhundert Jahren ein Serienmörder sein Unwesen, der sich nicht nur von seinem Londoner Pendant inspirieren ließ, sondern auch eine vergleichbare Resonanz in der Presse erfuhr. Dem Täter das in diesem Fall wahrhaftige Handwerk zu legen, wird demnach auch bei Celestin zum Gegenstand des öffentlichen Interesses, woraufhin die Jagd beginnt.

City of Strugglin’ 

„Höllenjazz in New Orleans“ folgt zunächst dem Muster eines klassischen Kriminalromans. Polizei jagt Mörder. Licht gegen die Dunkelheit. Gut gegen Böse. Da es sich bei den Mordopfern aber vorwiegend um Mitglieder der italienisch-stämmigen Community handelt, die sich im Dunstkreis der Mafia bewegen, hat folglich nicht nur die Polizei ein Interesse daran, die Identität des Täters zu lüften. Somit begleiten die Leserinnen gleich mehrere Protagonistinnen, die sich in parallelen Handlungssträngen der Suche nach dem Axeman widmen, sich charakterlich stark voneinander unterscheiden und doch sehr nahe sind: ein Detective, der aufgrund des Südstaaten-Rassismus ein klandestines Familienleben führen muss. Ein ehemaliger Polizist, der sich nach dem Absitzen einer Haftstrafe nicht den Fängen der Black Hand Gang entziehen kann. Eine junge, selbstbewusste Frau, die versucht, sich in einem zutieft chauvinistischen Umfeld zu behaupten und mit ihrem Jugendfreund „Lil‘ Louey“ Armstrong auf eigene Faust ermittelt.

Während die nicht frei von Tadel handelnden Charaktere gegen das New Orleans ankämpfen, das ein Teil ihrer selbst ist, kündigt der Axeman, der sich einem historischen Schreiben zufolge als nichtmenschliches Wesen bezeichnet, das der Hölle entstiegen ist, seinen nächsten Mord an. Als Reminiszenz an die alttestamentarische zehnte Plage verspricht er diejenigen zu verschonen, die in der besagten Nacht dem Jazz eine Bühne bieten. Nicht nur die Liebe zur Musik lassen die Kaltblütigkeit und Boshaftigkeit des im Dunklen Verborgenen im Verlaufe der Handlung mehr und mehr in Zweifel ziehen.

Ray Celestins Erstlingswerk wurde in der englischsprachigen kriminalbelletristischen Szene bereits kurz nach der Veröffentlichung ausgezeichnet. In der Tat gelingt es dem Autor, aus einzelnen historischen Begebenheiten ein erzählerisches Konstrukt zu schaffen, das aufgrund seiner Stringenz und Vielschichtigkeit ein äußerst unterhaltsames Resultat ergibt. Im gleichen Zuge erschließt sich den Lesenden ein beeindruckendes und authentisches Portrait einer Stadt, in der sich der alles stilprägende Sound den Weg bahnte, aber dessen unüberwindbar scheinende Problematik sich ebenso bis in die Gegenwart erstreckt.

Höllenjazz in New Orleans von Ray Celestin erschien am 1. März 2018 im Piper Verlag.
Titelbild: © Tyler Lastovich / Pexels

„Lotta Sea Lice“ – auf ein interkontinentales Frühstück mit Courtney und Kurt

Nicht das Dies- und Jenseits trennen sie, sondern der Pazifische Ozean bzw. 16.000 km Distanz. Was sie nicht davon abhält, ein gemeinsames Album aufzunehmen. Courtney Barnett und Kurt Vile schaffen aus ihrer gegenseitigen Bewunderung eine der charmantesten Kollaborationen dieses Jahres.


Courtney und Kurt, die Wiedervereinigung des Jahres? Nein, Frau Love weilt nach wie vor unter den Lebenden, während Herr Cobain allen Verschwörungstheorien zum Trotz dem Gras beim Wachsen weiterhin von unten zusieht. Die Rede ist von Courtney Barnett und Kurt Vile, die soeben den Longplayer „Lotta Sea Lice“ veröffentlichten. Vollkommen frei einer gewissen Beeinflussung des Grunges sind die beiden Künstler ganz sicher nicht, vor allem in optischer Hinsicht. Ansonsten war es das aber fast mit den Gemeinsamkeiten. Erstere, wohnhaft in Down Under, genauer gesagt in Melbourne, und zweiterer, wohnhaft in Philadelphia, Pennsylvania, haben soeben von ihrer interkontinentalen Freundschaft inspiriert ein gemeinsames Album aufgenommen, das durch ontologisches Songwriting über Songwriting und andere spannende Inhalte besticht.

Durchbruch auf Solopfaden

Barnett und Vile zählen unabhängig voneinander seit einiger Zeit zu den meistbeachteten Geschichtenerzählern der Indierock-Szene. Kurt Vile kann dabei bereits auf eine längere Karriere zurückblicken, bis 2008 war er Leadgitarrist bei der ebenfalls aus Philadelphia stammenden und momentan nicht weniger erfolgreichen Band „The War On Drugs“. Mit seinem bluesgeprägten Zusammenspiel zwischen Gitarre und Gesang wurde er spätestens mit seiner 2011er-LP „Smoke Ring For My Halo“ dem breiten Publikum auch als Solokünstler bekannt. Courtney Barnett hingegen verweist, auch altersbedingt, auf eine etwas jüngere Laufbahn. Ihren Durchbruch schaffte die zu dieser Zeit noch in Kneipen jobbenden Melburnian 2015 mit „Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit“, das in zahlreichen illustren Fachmagazinen zum Kreis der Alben des Jahres gewählt wurde. Grund dafür war vor allem ihre Fähigkeit, auf eine liebenswürdig arglose Art und Weise und mit trockenem Humor die Seltsamkeiten und Wunderlichkeiten des Alltags zu beschreiben.

Dies verbinden Barnett und Vile, zwischen denen zunächst nur eine flüchtige Bekanntschaft bestand, jetzt. Ganz musikerlike kreuzten sich im Rahmen von Tourauftritten, Festivals oder anderweitigen Veranstaltungen immer wieder ihre Wege. Dass sie menschlich auf einer Wellenlänge lagen, bemerkten sie laut eigener Aussage schon relativ früh. Viel wichtiger scheint heute jedoch die gegenseitige Bewunderung für das künstlerische Werk des jeweils anderen. Den ersten Schritt machte Vile, der mit dem Schreiben des vom einsamen Songwritings handelnden „Over Everything“ begann und Barnett eine E-Mail mit der Frage nach einer etwaigen Zusammenarbeit schickte. In der Folge trafen sich beide in Australien und schlossen sich im Studio ein.

Quelle: YouTube

Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade

Das Ergebnis ist „Lotta Sea Lice“, ein Nebenprodukt zweier Künstler, die eigentlich weiterhin an ihrer Solokarriere basteln. Dies soll jedoch nicht heißen, dass das jetzt veröffentliche Projekt in den Hintergrund rücken kann, sobald entweder Barnett oder Vile ihr nächstes Soloalbum hervorbringen. Bahnbrechend ist es nicht unbedingt. Dazu mangelt es an Innovationismus, was bei „Lotta Sea Lice“ aber nicht negativ zu Buche schlägt. So covern sie zum einen Belly’s „Untogether“ und bedienen sich zum anderen mit „Fear Is Like A Forest“ bei Barnetts Lebensgefährtin Jen Cloher, hinterlassen dabei jedoch unübersehbar ihre Sichtweise. Das Album ist schlichtweg als Resultat der gegenseitigen Beeinflussung zweier Musiker zu betrachten, deren Qualität allen voran das Storytelling ist. Die Tatsache, dass sowohl Courtney Barnett als auch Kurt Vile in manchen Fällen selbst nicht so richtig sagen können, worum dieser oder jener Song denn jetzt überhaupt handle, erweitert den individuellen Interpretationsspielraum und macht die akustische Lektüre ebenso bildreich.

Das Talent, selbst die profansten und irrelevant daherkommenden Begleiterscheinungen des Lebens zu äußerst beachtenswerten und humoristischen Geschichten zu formulieren, macht dieses Duo in ihrem gemeinsamen Wirken aus. Oder wie es ein Fan in den Sozialen Medien ausdrückt: „Courtney and Kurt could sing about making peanut butter and jelly sandwiches and it would still be solid gold.“

Quelle: YouTube
Titelbild: © Courtney Barnett/Kurt Vile

„Vive la France“ – Sempés Studie einer vielgestaltigen Nation

Auf der Frankfurter Buchmesse ist Frankreich der diesjährige Ehrengast. Grandement l‘heure, sich mit dem Nachbarn auseinanderzusetzen. Gelegenheit dazu bietet der umtriebige Sempé, der im Diogenes Verlag seinen Blick auf Land und Mitbürger offenbart.


Er kann problemlos zu den bedeutendsten Karikaturisten unserer Zeit gezählt werden. Jean-Jacques Sempé, 1932 in Bordeaux geboren, begann früh damit, die Kunst des Zeichnens für sich zu entdecken. Bereits in jungen Jahren fanden sich seine Werke in flächendeckenden Printmedien Frankreichs wieder. Später wurde er auch dem Ausland bekannt, insbesondere durch seine Titelblätter in The New Yorker. In seinen zahlreichen Koproduktionen traf er auf einflussreiche Figuren der illustrativen und literarischen Szene, wie unter anderem Asterix-Schöpfer René Goscinny, Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano oder Patrick Süskind.

Anlässlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse beschloss der Diogenes Verlag nun, einen Bildband herauszugeben, der mit ausgewählten Zeichnungen von 1970 bis heute gewissermaßen Sempés Portrait des eigenen Heimatlandes zusammenstellt und dem Œuvre des Künstlers im gleichen Zuge eine Hommage widmet. Dabei ist es dem Zürcher Verleger gelungen, eine ebenso träumerische wie launige Komposition zu schaffen.

Humoristisches Licht- und Schattenspiel…

Beim Betrachten reihen sich farbenfrohe Aquarelle an monochrome Bleistiftzeichungen. Einem erheblichen Teil ist jedoch die charakteristische Weite der zahlreichen Panoramazeichnungen natürlicher und sozialer Landschaften gemein. In diesem Zusammenhang wendet der Karikaturist seinen Blick gleichermaßen auf die urbane Struktur Paris‘ und die geographische Vielfalt des ruralen Frankreichs. Mitten in diesen Bildnissen finden sich einzelne, sich äußernde Gestalten wieder. Diese übernehmen zwar immer wieder eine Schlüsselrolle für das jeweilige Zeichenwerk, wirken darin meist aber doch verloren. Auf diese Weise schafft Sempé ein faszinierendes Zusammenspiel zwischen individueller Wertigkeit und paralleler Bedeutungslosigkeit.

Portraitiert werden verschiedene Lebenswelten. Dabei erfreuen sich das Bürgertum, die Arbeiterschaft oder Landbevölkerung alltäglicher Lebensfreuden ebenso wie sie sich über vermeintliche Belanglosigkeiten echauffieren. Während die Bilder gelegentlich eine triste und hoffnungslose Atmosphäre vermitteln, wohnt dem Schaffen Sempés stets eine unübersehbare Komik inne. Dies und die Tatsache, dass der Künstler die Betrachterrolle ausfüllt, indem er sich als stiller Beobachter vom Menschen und dessen Verhältnis zu Umwelt auszeichnet, gehören zweifellos zur großen Stärke Sempés.

…mit Leerstellen

Jean-Jacques Sempés Anspruch scheint es zu sein, den Blick teils als kritisches, teils als urteilsfreies Stillleben sozialer Interaktionen auf die französische Nation zu werfen. Dies vollführt er durchweg auf eine liebenswürdige und charmante Art und Weise, möglicherweise um somit einerseits niemanden seiner Landsleute zu verprellen und andererseits aus nachvollziehbaren Gründen seine universelle Reichweite nicht einzubüßen. Was dabei offensichtlich mit Bezug auf die hier besprochene Sammlung auf der Strecke bleibt, ist aber die soziokulturelle Vielfalt Frankreichs, die sich nicht zuletzt in der jüngeren Vergangenheit als nationale Herausforderung herausgestellt hat. Angesichts dieser Tatsache ist es nur verwunderlich, dass bei der Lektüre von „Vive la France“ wenig bis gar nichts vom nicht zu verschweigenden und prägenden kolonialen Erbe zu erkennen ist. In dieser Hinsicht wird dieser Kunstband auch seinem jubilierenden Titel gerecht.


Vive le France hat 128 Seiten und erschien im Diogenes Verlag.

Schlaflos in Reykjavík – Sóley im Interview

Sóleys drittes Album „Endless Summer“ wirft Fragen auf. Nach dem verträumten Debüt „We sink“ und dem fast depressiven „Ask the Deep“ – und gerade als man dachte, sie könnte uns nicht mehr erschüttern, macht die Isländerin plötzlich das Undenkbare: fröhliche Musik. Zumindest behauptet sie das. Immer noch treffen szenische Songtexte auf Klavier und präsenten Gesang. Aber nicht nur ihrem Studio hat sie einen neuen Anstrich verpasst. Und Sóley hat definitiv aufgehört, Clowns zu töten. War aber trotzdem aus Versehen im Island-Krimi. Fragen über Fragen:

Das Interview führten Moritz Bouws und Gregor van Dülmen


Herzlichen Glückwunsch zu „Endless Summer“, deinem neuen Album. Wie kamst du auf den Titel? Ist ein endloser Sommer so eine Sehnsucht, die man während des langen isländischen Winters entwickelt?

Ja, in gewisser Weise. Als ich anfing, das Album zu schreiben, war Januar. Und Januare sind oft sehr dunkel in Island. Da ist immer dieses Verlangen nach Sommer. Der Titel stand schon fest, bevor ich angefangen hab, das Album zu schreiben. Es stand fest, dass es „Endless Summer“ heißen soll, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie es klingen könnte.

Der Titel bezieht sich aber auch auf die isländischen Sommer. Die Sonne geht hier nie wirklich unter und es fühlt sich irgendwie endlos an. Du wachst auf, es ist immer ein neuer Tag da, du gehst nie schlafen und es gibt so viel Energie. Der Titel ist also eine Mischung aus beidem: der Sehnsucht nach Sommer und dem endlosen Charakter isländischer Sommer. Alles strömt ineinander, wie Tag und Nacht.

Und im direkten Vergleich zu deinem letzten Album „Ask The Deep“ (2015) hat „Endless Summer“ ja einen einen deutlich optimistischeren Ansatz. Den Eröffnungssong „Úa“ hast du deiner zweijährigen gleichnamigen Tochter gewidmet. Würdest du sagen, dieser Optimismus ist der Einfluss, den deine Tochter auf deine Arbeit nimmt?

Bestimmt. Es ist witzig, wie Kinder dein Leben verändern. Ich weiß nicht, ob ihr Kinder habt, aber das Leben wird nie dasselbe wie zuvor sein. Zum einen bin ich viel müder seitdem – ich war in meinem Leben noch nie so müde. Aber wenn man sieht, wie ein Kind geboren wird, passiert etwas Merkwürdiges. Das Leben ist einfach großartig. Ein Kind zu haben ist großartig. Ich wollte niemals Mami-Songs oder Ähnliches schreiben. Aber es wirkt sich definitiv darauf aus, wie ich sein möchte. Denn ich möchte meiner Tochter ein gutes Vorbild sein. Ich will nicht mein ganzes Leben lang in diesem depressiven Scheiß feststecken. Was ich jetzt mache, ist mein Versuch, herauszukommen, auf das Licht am glücklichen Ende des Tunnels zuzukriechen und mir zu sagen: „Ich will hier raus. Das ist, was ich sein will.“ Ich glaube, sie inspiriert mich auf eine gute Weise.

Aufnahme-Impressionen:
https://twitter.com/soleysoleysoley/status/852127261012766721

Quelle: Twitter

Was beeinflusst dich denn außer deiner Tochter noch, wenn du Musik machst? Spielt die Farbe deiner Studio-Wände eine Rolle? Denn du hast sie vor den Aufnahmen lila und gelb gestrichen, oder?

Ich glaube schon. Aber es ist vor allem die Stimmung, in der ich bin, die Gefühlslage, in der ich bin, wenn ich ein Album mache. Denn ich hatte für das Album einen Plan. Eines der Ziele war, endlich einmal einen Song in Dur zu schreiben. Das hab ich noch nie gemacht. Jetzt habe ich es geschafft. Außerdem wollte ich wieder stärker zu Klavier und Stimme zurück, zurück zu meinen Wurzeln. Ich liebe es, am Klavier zu sitzen und ein Thema zu spielen. Das ist eigentlich meine Lieblingsbeschäftigung. Und ich wollte mich in den Kompositionen ein wenig herausfordern und versuchen, sie komplexer zu gestalten. Ich wollte am Klavier sitzen und ein neues Album machen. Das hab ich getan. Ich saß also da und die Songs kamen dabei heraus.

Welche Wandfarben wirst du für dein nächstes Album wählen?

Gute Frage. Was ist noch übrig? Die Lieblingsfarbe meiner Tochter ist pink. Ich hab sie gefragt, ob sie nicht vielleicht schwarz mag, aber sie präferiert derzeit eher pink, lila, Glitzer und Gold. Ich denke tatsächlich viel über Farben nach, wenn ich Alben schreibe. Ich wollte bei dieser Platte auf jeden Fall hellere Farben haben. Ich arbeite auch sehr eng mit meiner Freundin Inga (Ingibjörg Birgisdóttir) zusammen, die die Artworks zu meinen Alben macht. Ich hab ihr von den Farben erzählt, an die ich dachte, und sie machte daraus etwas Bläuliches – vielleicht sogar mit ein paar Pink-Anteilen. Aber ich überlasse ihr die Wahl. Ich hab nur eine Vorstellungen von Farben, sie schafft es, das Album so aussehen zu lassen, wie es klingt. Aber die Wandfarbe fürs nächste Album wird auf jeden Fall pink.

Album-Cover von Birgisdóttir Ingibjörg

Letztes Jahr hast du eine kleine Europa-Tour gespielt, um herauszufinden, ob dein neues Album und dein neuer Sound deinem Publikum gefällt. War das wirklich eine Angst die du hattest – dein Publikum zu verlieren?

Ich weiß nicht. Es lief dann eher so: Ich hab das Album allen gezeigt und gesagt “Guckt mal, ich hab eine fröhliches Album gemacht.” Und alle haben es sich angehört haben und meinten: “Das ist eigentlich gar nicht richtig fröhlich.” Ich glaube, ich hab niedrige Ansprüche an das Glück als andere Menschen. Ich konnte nie so richtige “la la la la”-Musik machen, also treffen wir uns in der Mitte. Ich glaube, es ist kein fröhliches Album, sondern eher ein Album, das sich nach Liebe sehnt. Würde ich einen endlosen Sommer haben wollen? Ich glaube nicht. Aber ich mag es, mich danach zu sehnen. Ich mag es, diese Sehnsucht nach Sommer zu haben.

Auf dieser Tour hast du auch deine neue Live-Band vorgestellt, die auch eine kleines Orchester und eine zweite Sängerin beinhaltet. Was sind die Hauptunterschiede dazwischen, mit einem so großen Ensemble zu spielen statt mit der minimalistischen Band, mit der du vorher unterwegs warst?

Es macht einfach viel mehr Spaß. Nichts gegen meine Freunde, die vorher schon in meiner Band waren – die sind super. Aber was ich daran so liebe, ist, dass ich die Songs tatsächlich akustisch ohne Verstärker spielen könnte. Das ist, wohin ich wollte. Leise mag ich meine Stimme gar nicht so gern. Ich wollte immer schon Songs für eine Band arrangieren und würde echt gern auch mal ein Album mit einem Sinfonieorchester machen. Vielleicht ja das Nächste. Ich komponiere und arrangiere das dann auch gern alles. Aber wir werden sehen. Momentan proben wir zusammen für die anstehende Tour, aber es ist echt teuer, mit einer großen Band unterwegs zu sein. Ich wollte es mal ausprobieren und zusammen diese kleine Tour zu spielen. Alle würden gern mitkommen auf der Tour, aber wir müssen finanziell schauen, was passiert. Eine größere Band wird es aber definitiv sein.

Sóleys aktuelle Single „Grow“:

 

Quelle: YouTube

Das Berlin-Konzert auf dieser Tour letztes Jahr fand ja in einer Kirche (Passionskirche Kreuzberg) statt. Auch im Mai spielst du wieder in einer Berliner Kirche (Apostel-Paulus-Kirche in Schöneberg). Und in Köln spielst du in der Kulturkirche, einer ehemaligen Kirche. Warum immer Kirchen? Ist die Akustik der vorrangige Grund?

Ja, auf der einen Seite ist es die Akustik. Obwohl man manchmal echt mit einem Wahnsinns-Hall zu kämpfen hat. Aber das ist ja das Problem meines Tontechnikers. Auf der anderen Seite ist die Stimmung in einer Kirche aber auch eine völlig andere als in einem Klub. Ich bin keine große Freundin davon, in einem Klub zu spielen, denn ich finde nicht, dass es zu meinem Projekt passt. Deswegen versuche ich immer bestuhlte Shows zu spielen, bei denen die Leute nicht einfach nur betrunken sind, sondern sich für eine Stunde hinsetzen und Musik hören – und danach was trinken gehen. Es gefällt mir, sich einfach hinzusetzen, zuzuhören und zu genießen.

Und dein Konzert in Leipzig findet ja ebenfalls an einem besonderen Ort statt, im Felsenkeller. Die ganzen Städte, in denen du spielst, sind sehr berühmt für ihre Klub- und Musikszenen. Ist das ein Auswahlkriterium für dich, wenn du deine Tour planst?

Mir gefällt Deutschland. Ich würde hier leben. Ich spiele gern in den großen Städten, aber genauso gern mag ich es in kleinen Städten, sei es in Deutschland, Italien oder woanders, zu spielen. Es ist schön in eine Stadt zu kommen, von der ich noch nie etwas gehört habe, auf die Bühne zu gehen und zu sehen, dass so viele Menschen gekommen sind. Beides zusammen ist eine schöne Mischung. Und nur in großen Städten zu spielen ist echt schwer. Man muss auch viel weiter fahren. Es ist also sinnvoll, es so zu machen. Ich mag beides. Und ich liebe Leipzig.

Was für uns ebenfalls sehr spannend ist, ist die Musikszene, aus der du kommst und die enge Zusammenarbeit zwischen isländischen Musiker*innen untereinander. Ihr begleitet euch gegenseitig bei den Aufnahmen, begleitet euch in verschiedenen Projekten auf Tour, und unterstützt nicht nur etablierte Künstler, sondern fördert auch junge Talente. Seid ihr einfach alle miteinander befreundet oder spielen dabei auch Netzwerke wie zum Beispiel das Iceland Music Export Office eine Rolle?

Ich glaube, es ist beides. Das Export Office ist sehr wichtig für die isländische Musikszene. Es verfügt über Kontakte, und man ist dort bereit, Künstlern zu helfen – auch mir, wenn ich in der Musikindustrie verloren bin. Wir trinken einen Kaffee und reden darüber. Für junge Bands ist es ebenfalls sehr wichtig. Ich bin dreißig und kenne die Leute nicht, die erst zwanzig sind und gerade anfangen Musik zu machen. Ich wachse nur mit meiner Generation der Musikszene auf. Deswegen glaube ich, dass diese Netzwerke sehr wichtig sind, um einander kennenzulernen. Es gibt einfach unzählige Bands und Musiker*innen, und es gibt wirklich viele Kids, die ziemlich coole Sachen machen. Also sollte man sich treffen, über neue Projekte reden und das mit hinaustragen.

Kennt ihr euch alle untereinander?

Ja. Wenn wir uns nicht persönlich kennen, dann zumindest über gemeinsame Freunde. Die Szene ist wirklich klein. Es ist also schwer, sich nicht gegenseitig zu kennen. Wir stehen uns alle nahe, wir sind alle Buddys. Und das ist schön.

Der Musikexport scheint zu funktionieren. Dein letztes Album „Ask The Deep“ hat es ja sogar in den Soundtrack einer deutschen Krimiserie geschafft. Weißt du davon?

Ämm, wie heißt die Serie?

„Der Island-Krimi“.

Was? Ich weiß leider nicht alles darüber, wie und wo meine Musik verwendet wird. Aber es könnte sein, dass ich da eine E-Mail bekommen hab. Okay, das ist lustig.
Das war eine große Fernseh-Produktion, mit Franka Potente. Dich kennt also jetzt jeder in Deutschland.

Und das ist eine Krimiserie über Island?

Ja, es spielt in Island, mit deutschen Schauspielern, die so tun als wären sie Isländer.
Oh mein Gott, das muss ich sehen! Ich würde gern Deutsche sehen, die sich wie Isländer verhalten.

Die andere Art von Musik-Video:

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Der dunkle, schwere Sound des Albums passte aber ziemlich gut zur Stimmung der Serie. Was würdest du denn sagen, zu was für einer Serie dein neues Album passen würde?

Ich mag „Endless Summer“, den letzten Song. Ich dachte, er passt vielleicht zu einem Teenie-Film oder zu „Skam“. Das ist eine norwegische Serie über College Kids. Ich hab alle Folgen gesehen. Ich hoffe und spreche mal mit meinem Manager, ob er den Song in der neuen Staffel unterbringen kann. Die Serie ist sehr berühmt und hat viel coole Musik. „Skam“ hat auch eine Spotify-Playlist, auf der auch viele berühmte skandinavische Songs auftauchen.

Auf deinen früheren Alben hast du immer diese poetischen Horror-Märchen erzählt. Und auch auf dem neuen sind die Texte sehr szenisch und theatralisch. Hast du jemals darüber nachgedacht, ein Buch aus diesen Geschichten zu schreiben? Oder wird Musik für dich immer wichtiger bleiben?

Nein, ich habe tatsächlich darüber nachgedacht. Ich habe schon zweimal angefangen ein Buch zu schreiben. Aber ich bin immer zu beschäftigt und hab dann doch keine Zeit dafür.

Vielleicht wenn du alt bist?

Genau, vielleicht wenn ich alt bin, und mit meiner Whisky-Stimme eh nicht mehr singen kann. Aber ich denke darüber nach, Gedichte auf Isländisch zu schreiben. In meiner Muttersprache ist es für mich einfacher, mich auszudrücken. Mal sehen.

Und wenn man sich so mit dir unterhält oder dich bei einer Show sieht, fällt auf, dass Humor in deinem Leben eine wichtige Rolle spielt. Deine Songs tragen dagegen aber oftmals Titel wie „I’ll drown“, „Smashed Birds“, „Follow me down“ oder „Kill the Clown“. Ist das etwas, was du tust, wenn du Musik schreibst: deinen inneren Clown töten, um ernste Kunst zu machen?

(lacht) Ich weiß nicht, wer ich bin, wenn ich diese Songs schreibe. Ich hoffe, das Kind macht mich zu einem besseren Menschen. Manchmal habe ich vor mir selbst Angst. Warum schreibt jemand sowas und veröffentlicht es auch noch? Ich kann noch nicht mal Horrorfilme gucken. Ich habe solche Angst davor, dass ich Monate lang nicht ins Bad gehen kann, nachdem ich „Shining“ geguckt habe. Mein Ansatz ist also: Ich schreibe einen Horror-Song und denke mir die Geschichte aus – also ich weiß, dass das, was ich geschrieben habe, nicht real ist. Auf diese Weise stille ich mein persönliches Horrorbedürfnis. Denn man braucht etwas Unheimliches in seinem Leben, es hält den Herzschlag in Gang.

Sóley – Kill the Clown (live):

Quelle: YouTube

Du schreibst Horror-Geschichten also, um sie kontrollieren zu können?

Genau. Weil ich das Ende bestimmen kann. Kann ich das? Ich bin mir gar nicht sicher. Ich mag es, aber auf dem neuen Album wollte ich weniger Horror. Ich wollte etwas Neues probieren. Es ist immer besser sich selbst herauszufordern, anstatt festzustecken. Denn normalerweise würde ich nie ein Lied über meine Tochter oder ein Lied in Dur schreiben, weil es nicht zu mir passt. Aber sowas stelle ich in Frage und frage mich: Warum machst du das nicht? Warum steckst du dich in eine Schublade und versuchst nicht etwas Neues, einfach um zu sehen, was passiert? Und das hab’ ich auf dem neuen Album versucht. Ich habe viel Neues ausprobiert, von dem ich dachte, dass ich es nicht tun sollte, weil ich mich selbst in eine Art Schublade gesteckt hatte.

Was sich auf dem Album auf jeden Fall auszahlt.

Ich bin mit dem Album wirklich zufrieden. Ich hab es in einem Jahr fertiggestellt, habe mich einfach eingeschlossen und all diese Songs kamen heraus, ohne dass ich es erzwungen habe. Die Songs waren nach vier Monaten alle da und dann habe ich sie einfach fertig gemacht. Warum sollte ich länger daran arbeiten? Ich werde sie einfach veröffentlich und mich etwas Neuem widmen. Ich weiß nicht, wie es ist, über zehn Jahre an einem Album zu arbeiten, und ich glaube dafür ist das Leben einfach zu kurz. Man sollte einfach anfangen, etwas Neues zu machen. Ich habe den Entstehungsprozess des Albums sehr genossen, er war sehr natürlich. Ich bin wirklich glücklich.

Wie schön. Alles Gute für den Release und vielen Dank für das Interview.

Danke. Wir sehen uns.


Sóleys drittes Album „Endless Summer“ erscheint am 5. Mai bei Morr Music. Danach spielt sie mit einer kleinen oder großen Band in großen und kleinen Städten:

10.5. Kulturkirche Köln, DE
11.5. Felsenkeller Leipzig, DE
12.5. Apostel-Paulus-Kirche Berlin, DE
14.5. Mousonturm Frankfurt Am Main, DE
16.5. Hybernia Theater Prague, CZ
18.5. Aula Artis Poznan, PL
19.5. NIEBO Warszawa, PL
20.5. Kino-Teatr RIALTO Katowice, PL
21.5. Brno, CZ
23.5. A38 Budapest, HU
24.5. Culture Factory Zagreb, HR
25.5. Kino Šiška Ljubljana, SI
27.5. Posthof Linz, AT
28.5. A4 Bratislava, SK
29.5. WUK Vienna, AT
4.7. Covo Summer Bologna, IT
5.7. Circolo Magnolia Segrate Milano, IT

Titelbild: © Birgisdóttir Ingibjörg

Hitlers Hollywood – Eine Geschichte des deutschen Films

Mit einem reißerisch anmutenden Titel wird ein dokumentarisches Portrait des deutschen Films vom Zerfall der Weimarer Republik bis zum Untergang des Dritten Reichs gezeichnet. Dieser Zeitraum geht einher mit der vollständigen Dekadenz einer hinsichtlich Innovation und Fortschritt einst weltführenden Institution kultureller Produktion. Welche Rolle hatte der deutsche Schauspielfilm als Propagandamittel und warum konnte er vermutlich dadurch bis heute nie an seinen ehemals progressiven und avantgardistischen Charakter anknüpfen? Eine Annäherung mit Verweis auf aktuelle Diskurse der filmischen Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit.


„Hitlers Hollywood“. Was hat sich Rüdiger Suchsland – seines Zeichens nicht zuletzt aufgrund seiner Tätigkeit für überregionale Tages- und Wochenzeitungen viel gelesener Filmkritiker – bei der Titelauswahl für sein neuestes selbst produziertes Werk gedacht? Ohne ihm dies an dieser Stelle zu unterstellen, werden böse Zungen mit dem Vorwurf des Pathos sagen: Hitler geht immer. Denn die moderne Personifizierung des Bösen garantiert hohe Einschaltquoten und Auflagezahlen. Oder aber ist es in heutigen Zeiten des Clickbaitings ein legitimes Mittel, mit vermeintlich profanen Namensgebungen ein breiteres Publikum für einen gesellschaftsrelevanten Diskurs zu gewinnen?

Ganz abwegig erscheint diese Intention nicht, denn die Kontinuität von faschistischen und menschenfeindlichen Denkweisen in der europäischen Zivilgesellschaft macht deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit der ach so ruhmvollen Vergangenheit der deutschen Nation(en) immer Aktualität und deswegen Relevanz besitzt. Denn der Weg des Vergessens ist offenkundig der bequemere und so manche٭r Mitbürger٭in wird nicht müde, die eigene Müdigkeit zu betonen, die Verantwortung für die ((Ur-)Groß-)Elterngeneration für einen Teil mitzutragen. Dies ist keine neue Erkenntnis und deswegen braucht dieser Aspekt gewiss nicht diskutiert zu werden.

Histotainment oder die Knoppisierung der Geschichte

Unterhalten werden möchten die deutschen Medienkonsument٭innen offensichtlich dennoch. Und geht es um Entertainment, so bietet sich die nationale Vergangenheit mit den Jahren 1933 bis 1945 als Spitze des Eisberges geradezu als ein unversiegbares Füllhorn an. In diesem Zusammenhang geht es jedoch nicht um Schuld oder ein Verantwortungsgefühl, das nicht weiter als Last empfunden werden möchte. Die Ausstrahlung diverser TV-Produktionen, die sich inhaltlich mit der nationalsozialistischen Ära auseinandersetzen, setzt dies jedoch auch nicht voraus. Außerordentlich fragwürdige Projekte, wie die 2013 im ZDF und ORF ausgestrahlte und eine breite Öffentlichkeit erreichende Trilogie Unsere Mütter, unsere Väter arbeiten konsequent an einem naiven Bild der ideologiebefreiten deutschen Jugend. Andere Beispiele für diese Depolitisierung und einem damit einhergehenden tendenziellen Schuldfreispruch der Zivilgesellschaft sind Dresden (2006), Die Flucht (2007) oder Die Gustloff (2008).

Einen wichtigen Beitrag zu dieser Entwicklung des deutschen Opfermythos leistete zweifellos der Publizist und Populärhistoriker Guido Knopp, der sich für zahlreiche Produktionen mit dem vermeintlichen Anspruch des Dokumentarischen, von denen die ebenfalls im ZDF erscheinende Reihe History die wohl bekannteste ist, verantwortlich zeichnet. Knopp hat mit seiner Herangehensweise in gewisser Weise gar ein eigenes Genre geschaffen, mit dem sich die dunkle und so fern scheinende Vergangenheit wunderbar gemütlich auf dem heimischen Sofa konsumieren lässt: das Histotainment. Hierbei geht es, wie der Name bereits verrät, nicht um Bildungsarbeit und Aufklärung im Sinne geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern primär um den Unterhaltungscharakter bei der Aufarbeitung der damaligen Ereignisse.

So ist es nicht verwunderlich, dass die führenden Vertreter des NS-Regimes und deren persönlichkeitsbildende Anomalien einen großen Raum einnehmen, während die Zivilgesellschaft folglich als das verführte oder gar wehrlose Volk präsentiert wird. Auch die Flucht vor der Roten Armee aus den damals ostpreußischen Gebieten sowie die Bombardierungen der deutschen Großstädte durch die alliierte Luftwaffe spielen in der knoppisierten Weltgeschichte eine eklatant große Rolle und werden in emotionalisierender sowie dramatisierender Ausprägung dargeboten.

Das Potential des Dokumentarischen

Das alles hat wenig mit Ansätzen gemein, die beispielsweise Claude Lanzmann in wegweisender Form verfolgte. Das über neunstündige Dokumentarmonument Shoah, das der französische Filmemacher über ein Jahrzehnt zusammenstellte und 1986 veröffentlichte, übt sich in einer Sachlichkeit, die für die unaussprechlichen Geschehnisse zwar unmöglich erscheint, dadurch jedoch ein angemessenes Distanzverhältnis gegenüber dem Zuschauenden schafft, um das nicht Darstellbare zu repräsentieren. Lanzmanns politisches Interesse liegt in diesem Kontext nicht darin, einen Film der Trauer oder Therapie zu schaffen, sondern aktuelle Zeitzeugenberichte Überlebender in ein Objekt der Massenkultur zu transformieren. Die Rezeption eines Dokumentarfilms wiederum ist stets von der Perspektive des Betrachters abhängig. So schildert der Film- und Theaterregisseur Andres Veiel, der sich in seiner Arbeit u. a. thematisch mit der Kontinuität von Gewalt auseinandersetzt, dass einige Zuschauer Schwierigkeiten mit einer Abstraktion des Dargestellten hätten, für andere hingegen „ist genau diese Reduktion die Stärke des Films. Für sie entwickelt der Film eine dokumentarische Kraft allein durch die vorgetragenen Interviews“.

Um nun eine Brücke zurück zu Rüdiger Suchslands jetzt erscheinenden Film „Hitlers Hollywood“ zu schlagen, sei noch die Begrifflichkeit der „Propaganda“ erwähnt. Der Terminus erschien zum ersten Mal im Zusammenhang der Gegenreformation und bezog sich auf die Glaubensvermittlung. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise und Kriegsgefahr war „Propaganda“ in den 1930er Jahren in einem didaktischen Sinne noch positiv konnotiert, was sich erst in der Nachkriegszeit änderte. Denn der Dokumentarfilm wurde schließlich während der Kriegstage im Interesse des Krieges, Faschismus, Stalinismus sowie beispielsweise der Atombombe genutzt.

Dass dies auch für den Schauspielfilm gilt, erkennt Suchsland und setzt dementsprechend an diesem Punkt an. Denn während dem Dokumentarfilm dies in den meisten Fällen entgegengehalten wird, wird dem Spielfilm eine Grenzüberschreitung zwischen dem Fiktionalen und Dokumentarischen grundsätzlich zugestanden. Der französische Philosoph François Niney kommt zurecht zu dem Schluss, dass der „Gebrauch von ebenso vagen wie weiten Kategorien wie ‚real‘, ‚imaginär‘, ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ einen Berg von epistemologischen Problemen auf[wirft]“. Letztendlich verweisen auch fiktionale Werke wie Romane oder Spielfilme auf die Realität. Das macht Suchsland an seiner Betrachtung der deutschen Filmgeschichte während des Nationalsozialismus fest und untersucht diesen auf Elemente wie Propaganda, Gleichschaltung oder Antisemitismus.

Quelle: YouTube

Zwischen Agitation und passivem Widerstand

Anders als Knopp & Co. verfolgt der deutsche Filmkritiker das Ziel, frei von emotionaler Verklärung und Dramatik, vor allem im Hinblick auf Propaganda ein Portrait des deutschen Films zu zeichnen und in diesem Zuge dessen Parallelen zum Auf- und Niedergang des NS-Regimes zu ziehen, was durchaus gelingt. Zu Beginn der Regierung der NSDAP prägen Eigenschaften wie Kameradschaft und selbstmörderische Aufopferung das Bild. Diesbezüglich erscheint der Tod als das zentrale Stilmittel des Films. Anders als die während der Weimarer Republik entstandenen Werke zeichnen sich die Filme, für die von Anfang an Propagandaminister Joseph Goebbels Verantwortung trägt, wenig überraschend durch Kitsch, Ironiefreiheit und verkrampfte Fröhlichkeit aus.

Untermalt werden die präsentierten Beispiele von Suchsland mit Gedankenspielen von namhaften und teils fachnahen Persönlichkeiten wie Siegfried Kracauer, Susan Sontag, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Frühwerke wie „Hitlerjunge Quex“ aus dem Jahr 1933 haben unzweifelhaft propagandistische Zwecke und lassen die vorangegangene Periode der Weimarer Republik als eine Zeit des Chaos und der Anarchie zurück. Die Urängste vor diesen beiden Szenarien werden durch eine Ästhetisierung der Politik bedient. Die Heroisierung der Gleichschaltung und Ordnung erfolgt unter anderem in Leni Riefenstahls Film zum Nürnberger Reichsparteitag 1934.

Laut Suchsland wurden im nationalsozialistischen Deutschland ca. 1.000 Filme produziert, von denen etwa 500 als Komödien und Musikfilme einzuordnen sind, während der Rest Melodramen und Abenteuerfilme waren. Zynisch bemerkt der Regisseur, dass Horror- oder Fantasyfilme kaum Beachtung fanden, da sie sich zu nah an der Realität bewegten. Hervorgehoben wird zudem die Rolle der UFA, die Hitler und seiner Gefolgschaft durch die eigenen Wirkungskreise zunächst zur Macht verhalf und später aufgrund der Verstaatlichung zum zentralen Organ filmischer Produktion im Deutschen Reich wurde. Rückwärtsgewandtheit und nationale Isolation kann dem deutschen Film zu jener Zeit zumindest in technischer und personeller Hinsicht nicht vorgehalten werden. Neuartige Schnitttechniken schufen etwas Irreales hin zu einem Verschwimmen der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit und verhalfen dem Film somit zu einer illusionistischen Charakteristik. Viele Stars des damaligen deutschen Films waren darüber hinaus Ausländer, wie beispielsweise Marika Rökk oder der bis in die 2000er Jahre allseits beliebte Johannes Heesters.

Berücksichtigung finden in der damaligen Filmindustrie selbstverständlich Filmschaffende, die bestens für die NS-Propaganda geeignet schienen: Heinz Rühmann, dessen infantile Charaktere suggerierten, dass die Realität doch nur halb so schlimm sei. Ferdinand Marian als Hauptfigur der Verfilmung von „Jud Süß“, der sich in die Liste der 1940 veröffentlichten unmissverständlich rassistisch-antisemitischen Werke wie „Die Rothschilds“ oder „Der ewige Jude“ einreihte und die Endlösung in der Judenfrage propagandistisch vorbereitete. Die schwedische Schauspielerin Kristina Söderbaum, die als Idealbild der „arischen Frau“ aufgrund des Schicksals ihrer Charaktere den Beinamen „Reichswasserleiche“ erhielt. Und nicht zuletzt deren Ehemann Veit Harlan, der als Regisseur die Perfidität auf höchstem Niveau beherrschte und gegen Kriegsende als Speerspitze mit der Vereinigung von Krieg und Liebe die Bombenangriffe der Alliierten romantisierte und Verschwörungen gegen Kriegsgegner großzügigen Platz einräumte.

Zu den gleichgeschalteten Akteuren gesellen sich jedoch Personen, die sich in diverser Form von der einheitlichen Propaganda unterschieden. Hans Albers, vom äußeren Erscheinungsbild prädestiniert für die Propagandamaschinerie, verkörperte aufgrund seines Witzes und seiner actionlastigen Szenen in gewisser Weise den Anti-Nationalsozialisten. Auch der spätere schwedische Weltstar Ingrid Bergman bereute die einstige Kooperation in „Die 4 Gesellen“ (1938), was sie unter anderem im US-amerikanischen Klassiker „Casablanca“ (1942) untermauerte, indem sie dort eine Antifaschistin verkörperte. Gustaf Gründgens unternahm den zu seiner Vita passenden janusköpfigen Versuch zwischen Kollaboration und Widerstand.

Auch die Rolle der Frau wies gelegentlich feministische Züge auf. So behandelt Wolfgang Liebeneiner in „Großstadtmelodie“ (1943) den Werdegang einer Frau, die entgegen der Konventionen ohne Kinderwunsch und mit freundschaftlicher Beziehung zum männlichen Geschlecht sowie selbstbewusster Ausstrahlung ihre Karriereziele verfolgt. Auch wenn diese Aspekte als eine Form des passiven Widerstands interpretiert werden könnten, reicht es freilich nicht für den Titel des Gerechten unter den Völkern. Zum einen offenbarten sich keine Filmschaffenden, die sich öffentlich gegen das Regime stellten, zum anderen erschien aktiver Widerstand aufgrund des Zensurapparates und der drohenden Konsequenzen im Inland ohnehin nahezu unmöglich. Somit war Subversion, wenn überhaupt, nur in äußerst dezenter Form realisierbar: „Die Schauspieler waren die Hofnarren, die mehr als andere die Wahrheit aussprechen konnten. Aber eben nur am Hofe.“

In den letzten Kriegsjahren verweist der Versuch, sich im Genre des Fantasyfilms zu bedienen, eindeutig auf den Wunsch nach einer Gegenwelt. Harlans Morbidität bezeichnet Suchsland als kümmerliche abgebildete Sehnsucht ohne Zielsetzung. Die bis dahin teuerste und aufwendigste deutsche, in Agfacolor gedrehte, Produktion „Kolberg“ aus dem Jahr 1945 verleugnet die Vorahnungen des bevorstehenden Untergangs zwar nicht, heroisiert denselben jedoch und stellt Elemente wie den Opfertod oder schlichtweg Resignation in den Mittelpunkt. Ohne auf die nach dem Krieg folgende weitere Entwicklung des deutschen Films einzugehen, stellt Suchsland somit die offene Frage, wieviel nach 1945 vom deutschen Film weiterlebte. Denn die viel zitierte Stunde Null habe es in diesem Fall nicht gegeben. Gegen Kriegsende verlor der deutsche Film gleichbedeutend mit dem bevorstehenden Zerfall des Regimes sukzessiv an Wirkung und filmischer Leistung. Eine Dekadenz, von der sich der einst international äußerst erfolgreiche und progressive Film vielleicht bis heute nicht erholt hat.

Ergiebiges Sammelsurium mit bedeutender Schwäche

Sicher ist, dass „Hitlers Hollywood“ – trotz des für manchen wohl abschreckend wirkenden Titels – ein brauchbarer Dokumentarfilm bleibt, indem er ein Panorama des nationalsozialistischen Films malt und dabei sowohl die Gleichschaltung als auch Ansätze vermeintlichen Widerstands sowie die Tragweite einzelner Akteure beschreibt. Als problematisch kann es erachtet werden, dass es sich bei Suchslands Werk um eine Anhäufung chronologischer Informationen handelt, deren historische Einordnung jedoch an zahlreichen Stellen vermisst wird. Für nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung, die der Beschäftigung mit der Thematik ohnehin vertraut sind, wird dies aufgrund des mitgebrachten Vorwissens zweifellos keine allzu große Hürde sein.

In Zeiten, in denen Vaterlandsliebe mit Übergehen der 1930er und 1940er Jahre vereinbart werden soll und kann, politische und historische Bildung also weitaus weniger als nur defizitär vorhanden ist, bleibt diese ausgelassene offensichtliche Kategorisierung zumindest in Teilen problembehaftet. Dies gilt gerade dann, wenn ein solcher Film der breiten Öffentlichkeit präsentiert wird, was angesichts der relevanten Materie eigentlich auch der Fall sein sollte. Erwartet werden darf außerdem nicht, dass „Hitlers Hollywood“ bedeutende neue Erkenntnisse liefert. Vielmehr ist er als ein Zeugnis einer der weitreichendsten Epochen des deutschen Films zu betrachten. Diese Funktion erfüllt er in vollem Maße.

Filmstart in den deutschen Kinos am 23.02.2017

Literatur:

Niney, François (2012): Die Wirklichkeit des Dokumentarfilms. 50 Fragen zur Theorie und Praxis des Dokumentarischen, Marburg: Schüren.

Renov, Michael (2004): The Subject of Documentary. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press.

Veiel, Andres (2006): Die Grenzen des Darstellbaren, in: Zimmermann, Peter/Hoffmann, Kay (Hg.): Dokumentarfilm im Umbruch. Kino – Fernsehen – Neue Medien, Konstanz: UVK, 274-277.

Titelbild: Hilde Krahl in Wolfgang Liebeneiners „Großstadtmelodie“

Russian Circles – wider die Eingängigkeit

Brachial und ohrenzerschmetternd, harmonisch und melancholisch. Russian Circles, Post-Rock-Trio aus Chicago, erfüllen die Kriterien ihres Genres und trotzen dennoch dessen Stereotypen. Im Leipziger Conne Island präsentierten sie nun ihr neuestes Werk Guidance. Mit dabei: Helen Money und das Cello.


07.11.2016, Conne Island, Leipzig

Vor wenigen Wochen noch fand sich das Conne Island als nicht wegzudenkende Institution der Leipziger Kultur- und Politlandschaft mehr oder weniger freiwillig in den Schlagzeilen der großen Verlagshäuser des Landes wieder. An diesem Novemberabend sollte der politische Diskurs jedoch einmal in den Hintergrund rücken, um stattdessen instrumentellen und sinfonieartigen Klangwerken im Post-Rock-Format eine Bühne zu bieten.

Als Support betrat zunächst Helen Money die Bühne im nahezu ausverkauften Kulturzentrum in Connewitz. Die Instrumentalistin, die eigentlich Alison Chenley heißt und im kalifornischen Los Angeles beheimatet ist, kehrte zurück zur ursprünglichen Bedeutung des Terminus der Solokünstlerin. Lediglich mit ihrem Cello ausgestattet komplettierte sie ihre Bühnenpräsenz, dies jedoch mit einer solchen Wirkung, dass man eher dazu neigte, mindestens ein Quintett vor sich zu haben. Die klassisch studierte Cellistin nutzte die ganze Bandbreite ihres Instruments und ging sogar darüber hinaus. Angeschlossen an einen Verstärker machte sie die hervorgerufenen Rückkopplungen zu ihrer Kunst, indem sie das Cello in sämtliche Richtungen manövrierte. Mit einem kleinen Dankeschön überließ sie schließlich dem Hauptakt das Podest.

Der nannte sich an diesem Abend Russian Circles. Das Trio aus Chicago offenbarte sich klanglich als noch einnehmender und kommunikativ als noch weniger redselig – wie bei ihnen üblich, verloren sie während ihres Auftritts nicht ein einziges Wort. Damit taten sie niemandem im Publikum unrecht, knüpften sie doch auf diese Weise argumentativ an ihr instrumentelles Werk an. So hielten sie sich selbst im Hintergrund und waren aufgrund der Lichttechnik nur schemenhaft zu erkennen. Nur die Silhouetten zeigten Regungen, die sich gewissermaßen an diejenigen des Publikums anschlossen.

Quelle: YouTube

So spielten sie ihr Set herunter, das nicht unwesentliche Teile ihres im August veröffentlichten Longplayers Guidance beinhaltete. Dieser Spielplan hatte es jedoch in sich. Neben den harmonisch und teils melancholisch angeschlagenen Tönen waren es vor allem die brachialen Riffs sowie der dominante Einsatz der Drums von Dave Turncrantz (für den ein Ventilator essentiell zu sein scheint), die den Raum mit einer wahnsinnigen Lautstärke und überbordender Vibration auf links drehten. Ein nicht allzu schwerwiegend anzumerkender Kritikpunkt ist somit, dass das Conne Island für das Volumen der Russian Circles eventuell etwas zu klein geriet.

Kompositorisch bewegt sich die Band ohnehin in eigenen Gefilden. Angesichts der Tatsache, dass die Chicagoer ihre Herkunft in einem der Epizentren des Post-Rocks sehen dürfen, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, um aus der Menge hervorzustechen. Zwar definieren sie sich vor allem durch experimentelle Songs, die meistens die Sechs-Minuten-Grenze überschreiten. Ebenso verzichten sie auf einfache Stilmittel wie das Crescendo, das letztlich kathartisch in einer Explosion mündet, sodass die Strukturen unvorhersehbar bleiben. Dennoch müssen Russian Circles Alleinstellungsmerkmale zugutegehalten werden. Diese sind wohl am ehesten darin zu sehen, dass die Band sich nicht davor scheut, sich gleich mehrerer Stilrichtungen wie allen voran dem Metal und Post-Hardcore zu bedienen und mit ihren eigenen Interpretationen in Verbindung zu setzen. Diesen charakteristischen Weg, mit dem sie düstere und emotionale Erzählungen vertonen, verfolgen sie auch in ihrem nun sechsten Studioalbum. Und damit ließen sie die an diesem Abend anwesenden Zuhörer٭innen unisono mit gedämpften Trommelfellen und imponiertem Wohlwollen zurück.

Titelbild: © Chris Strong

A life dedicated to music. An interview with Notwist singer Markus “Rayon” Acher

This week Markus Acher released his new solo album “A Beat of Silence” on Morr Music, it’s his second full length album under the synonym “Rayon”. He is known best for his various other projects which deserve articles of their own – however, there is one thing they all have in common: musical sensitiveness, diversity and devotion. In this interview he talks about his motivation and what is yet to come in his musical life.

An interview by Moritz Bouws and Gregor van Dülmen, translated into English by Martin Kulik and Moritz Bouws


Let’s get this straight: “Notwist” or “The Notwist”? Does it matter?

It really doesn’t – we’re not overly uptight about that. We called us “The Notwist” back when we thought: This sounds like “underground”.

Just for keeping track – could you please list all names of the bands and synonyms under which you performed or released records with?

Certainly. Here it goes: Notwist, Lali Puna, Rayon, Tied + Tickled Trio, You + Your D. Metal Friend, 13&God, Village of Savoonga, Hochzeitskapelle, 3 Shades.

That’s quite a few. How much time do you spend in studios and rehearsal rooms?

Oh, a lot actually. However, much of the stuff we did in the studio can also be worked from our computers at home now. But of course it’s always invaluable to record together.

What’s the process creating a (The) Notwist album like?

Primarily: really slow. Apart from that, there are different ways in which we make an album. Everyone composes by themselves, then we share ideas, go to the studio together and record, edit the different parts etc. But that’s really an individual process that is very specific to particular songs. Somewhere along this line an idea for the whole record is born that unites all the different parts. That’s really important because otherwise you have nothing to aim for.

“With the labels, concerts, records and fanzines we created an alternative for ourselves – against our reactionary, conservative and catholic surroundings.”

Now that you released “Superheroes, Ghostvillains + Stuff” you are on tour with Notwist again. Your last live album was released 20 years ago, why did you decide to produce a new one now?

The songs for a new published record are really fresh by the time they are released and have not been played live yet most of the time. They are snapshots and evolve with time. We wanted to document these changes in this record. I think some of the songs found their true form only after a long period of time.

Source: Bandcamp

What made you choose UT Connewitz in Leipzig as the location for the album? Do you have a special connection to this place?

The audiences in Leipzig and Berlin are always really enthusiastic – we get a kick from that. UT Connewitz is a beautiful location with great organizing staff.

But in the end it was a practical thing as well: We had three days in a row in Leipzig to get everything right. The second day was the best one and that’s the material that you can hear on the record now.

Another really exciting project of yours is 13&God where Notwist collaborates with Themselves, a hip hop combo from Oakland. How did you get together with them?

I was a big Anticon fan. And when Themselves played in Munich we met and discovered our mutual appreciation. We immediately planned a tour together and recorded an album shortly after that.

We hope to come together again this year and do another record. We have become good friends.

Source: YouTube

Alongside the international tours with Notwist all of the bandmembers are involved in the regional music scene of Bavaria. Is there a big difference for you personally when you play a show in Landsberg or in cities like Seattle or Mexico City?

Of course there is a difference because the audience reacts differently. We want to play internationally and travel the world with our music. But at the same time we appreciate the shows in our hometowns.

You often get categorized as part of the “New Weird Bavaria” movement because of your involvement in the regional music scene. Do you agree with this classification or is it just a label that doesn’t have any significance for your art?

Actually it doesn’t have any significance.

The term also has a political dimension: There is a connotation that the scene tries to show a more diverse picture of Bavaria through forms of art, which isn’t distorted by the populism of conservative politicians like Horst Seehofer. Would agree with that? Does this dimension have any influence on your art?

We always tried to direct our endeavours to the edges of society and we are mostly interested what is considered weird or strange. Our music embodies this view and shows a world that we wished to live in. With the labels, concerts, records and fanzines we created an alternative for ourselves – against our reactionary, conservative and catholic surroundings.

But we didn’t really think about the image of Bavaria. We never saw our roots in that particular place. Our musical role models were other bands in Germany like Mouse on Mars or Can as well as other scenes like those in New Zealand or Glasgow.

“What Notwist is going to be – we don’t really know yet.”

What made you start your solo project Rayon?

Rayon exists since I released a double 7” on Kollaps under that name. I always rekindle the name when I record something by myself.

The new album was produced after Daniel and Karin from the experimental festival Frameless in Munich asked me to record something new. With their programme in mind I composed some songs and finally got around recording it.

The style of “A Beat of Silence” is really spheric but also minimalistic. We are curious in which places the ideas and concepts for the album developed and how this is reflected in the record. Could you give any insight to that?

The actual composing was done at home in front of the computer. But before that I spent a lot of time contemplating on the different ideas. Each song has an abstract idea – rhythm, patterns, overlapping structures – that I expressed in music afterwards. I hoped to achieve an unique structure for each song that differs from the usual musical pattern.

I got a lot of inspiration from visual artists. Agnes Martin, japanese photographers, or the great canadian Michael Dumontier who also made the cover for the album which made me really happy.

An essential part of “A Beat of Silence” consists in the use of indonesian Gamelan Ensembles. Where did you get in contact with those instruments and why were they fitting for this album?

We didn’t use real Gamelan instruments. But the sound and the characteristics of this unique music was a reference point throughout the whole record. You can’t really reproduce those sounds, it’s far too complex.We rather tried to find a certain type of shimmering and hypnotic atmosphere that we really liked about the Gamelan sounds.

When recording as Rayon Markus Acher is not alone: Rayon Band © Johannes Haslinger

When recording as Rayon Markus Acher is not alone: Rayon Band © Johannes Haslinger

When do you decide if a song should be part of a Notwist or a Rayon album?

Most of the time I compose for a specific record or band project. It happens very rarely (like on “Messier Objects”) that two recordings or settings mix up.

On “A Beat of Silence” there is a song that already was released in a different version on the soundtrack album “Messier Objects”. It was titled “Object 16” back then, now “On the Quiet”. Will there be additional versions of this particular song?

I composed this song for the first Rayon concert on the Frameless Festival. That was with a different band cast. After that we created the music to Jette Steckels’ stage play “Das Spiel ist aus” and the song was a good fit there as well. I wanted to record the song again in its raw acoustic form. That’s why it made it to the new album again. I don’t think we will ever record that one again :).

Source: Bandcamp

“A Beat of Silence” seems to trace the use of digital music via analogous means. Would you consider this a tendency that is also apparent in Notwist after Martin Gretschmann left the band?

On the Rayon record I only wanted electronic sounds that were generated from acoustic sounds – that was the idea. Distorted and blurred. Take details and magnify them. Like the piles of sand on the cover photo by Michael Dumontier which lose their form and become indistinct. In the end I wanted an unified sound. What Notwist is going to be – we don’t know yet.

“A Beat of Silence” - Cover by Michael Dumontier

“A Beat of Silence” – Cover by Michael Dumontier

So now you will go on tour. But what will be your next project in the studio? Will there be a new studio album after your live album with Notwist? Or will you prioritize other projects?

We definitely plan to make a new Notwist record next. In the very near future there will be the Alien Disko Festival, which we can realize here in Munich at the Kammerspiele on December 2nd and 3rd. We invited some of our favourite ands that burst through genre boundaries.

We can’t wait! We are extremely excited to be joined by: Sun Ra Arkestra, Dawn of Midi, Ras G + Afrikan Space Program, Carla dal Forno, Sacred Paws, Melt Banana, tenniscoats, Jam Money, Mark Ernestus Ndagga Rhythm Force, the comet is coming, mimiCof and others.

Of course The Notwist will also be playing.


If you wanna see Markus Acher live before the Alien Disko Festival and somewhere that’s not Munich you can check him out at November 20th at the Berlin Radialsystem V where he plays a release show for “A Beat of Silence”. Just saying.

cover photo: © Johannes Haslinger

Raving Iran – Subversion am Mischpult

Underground-Partys der anderen Art. Dem Dokumentarfilm Raving Iran gelingt es, das künstlerische Leben in einem theokratisch-autoritären Staat auf beeindruckende und gefällig naive Weise nachzuzeichnen.


Die beiden jungen Musiker Anoosh und Arash, die sich Blade&Beard nennen, lieben es, pausenlos am Computer zu sitzen, um an ihren houselastigen Kompositionen zu feilen, Raves für Freunde zu organisieren und nächtelang durchzufeiern. So weit, so normal. Das gewissermaßen Einzige, aber umso schwerwiegendere Problem in diesem Zusammenhang: Die beiden leben in Teheran.

Ein kleiner Exkurs: Ab 1941 regierte der säkulare Shah Mohammad Reza Pahlavi den Iran, der wie die meisten postkolonialen Staaten von außerordentlicher Instabilität geprägt war, nach einer monarchischen Verfassung. Charakteristisch für die Kredibilität des Friedensnobelpreises wurde der Shah für ebenjenen nominiert, während er unter den eigenen Untertanen hingegen nicht zuletzt wegen seiner repressiven Maßnahmen und scheiternden Wirtschaftspolitik höchst umstritten war. Die Absetzung des Shahs erfolgte schließlich 1979 im Laufe der Iranischen Revolution, in die die inländische Bevölkerung große Hoffnungen setzten. Doch wie aktuell in vergleichbarer Form so häufig im Zuge des Arabischen Frühlings zu beobachten, wurde das zuvor verhasste autoritäre System durch nicht weniger repressive theokratische Mächte nach den Idealen des Ajatollahs Ruhollah Chomeini abgelöst, die die Staatsgeschicke bis heute lenken. Der vermeintlich republikanisch-demokratische Apparat hat die Herrschaft eines schiitischen Gottesstaates zur Folge, der Frauen in ihren Rechten massiv beschränkt, Pressezensur verhängt und westliche Elemente als sittenwidrig einordnet und verbietet.

In der Konsequenz lässt sich also feststellen, dass alles andere als gute Voraussetzungen für junge Künstler vorherrschen, die einer aus unserer Sicht harmlosen Leidenschaft nachgehen wollen. Dass sich Anoosh und Arash von all dem nicht aufhalten lassen, dokumentiert die Filmemacherin Susanne Regina Meures mit einfachen technischen Mitteln. Eine banale Touristenkamera, vor Ort gekauftes Ton-Equipment und ein zum versteckten Filmen genutztes iPhone mussten aus pragmatischen und sicherheitsbedingten Gründen ausreichen. Auf diese Weise erleben die Zuschauer٭innen von Raving Iran eine ganze Reihe von subversiven Handlungen, die jedoch keiner politischen Intention folgen.

Unter anderem wird gezeigt, wie sich das Duo um die organisatorischen Aufgaben für eine Party inmitten der Wüste bemüht, um dort ungestört von staatlichen Kräften ihre Musik aufzulegen. Für diese Veranstaltung, die primär dem Vergnügen dient, sehen sich Anoosh und Arash dazu gezwungen, illegale Maßnahmen wie das Zahlen von kaum aufzubringenden Schmiergeldern zu ergreifen. Während der Anfahrt mit dem Bus mitsamt allen unter der Hand eingeladenen Freunden und deren Bekannten sind zahllose Kontrollen zu überstehen. Welche Gefahren ihr Handeln birgt, ist beiden durch eigene Erfahrungen mit Haft und Folter schmerzlich bewusst.

Quelle: YouTube

Den bedrückenden Aspekten der Repression gegenüber der Zivilbevölkerung wird der absurde Charakter diverser Vorschriften zur Seite gestellt. So gestaltet sich bereits das Drucken ihres Albumcovers als äußerst heikle Angelegenheit, derer sich nahezu kein Copyshop annehmen möchte. Um eine Bewilligung für ihr musikalischen Wirken zu erlangen, gehen die beiden Protagonisten gar den Weg in das kulturelle Ministerium, das ungeachtet ihres für die versteckte Kamera provokativen Auftretens jegliche Ansätze ihres künstlerischen Werks abschmettert. In solchen Szenen schafft es der Film, der ernsthaften Thematik humoristische Details anzuhaften und die Lebensfreude Anooshs und Arashs in den Vordergrund zu stellen, die jedoch zunehmend durch die vorherrschenden Verhältnisse ins Wanken gerät.

Somit dreht sich Raving Iran auch um die Frage des Exils, die sich die Musiker trotz der emotionalen Verbundenheit zum Heimatland hinsichtlich ihrer zukünftigen Perspektiven stellen. Eine Frage, die ihre Gewichtigkeit nicht zuletzt mit Blick auf die zurzeit fehlende Sensibilität der europäischen Bevölkerung unter Beweis stellt. Meures tendiert dabei in ihrem Film dazu, eine explizite politische und moralische Positionierung zu vermeiden. Dies ist naturgemäß kaum realisierbar, überlässt das Urteilsvermögen aber somit immerhin den Zuschauer٭innen. Da auch der Faktor des musikalischen Genres eine eher untergeordnete Rolle spielt, stellt sich Raving Iran auch für diejenigen als sehenswert heraus, die elektronischer Musik aversiv gegenüberstehen.