Alle Artikel von Lennart Colmer

Christiane Rösinger: „Lieder ohne Leiden“

Die Lassie Singers gibt es schon länger nicht mehr, aber ihre markante Stimme Christiane Rösinger bringt nun nach sieben Jahren musikalischer Funkstille ihr zweites Solo-Album heraus. Das gibt ihr den Anlass, gleich im ersten Lied ein Bekenntnis abzugeben, das vielmehr treffend als überraschend ist.


Ja, Christiane Rösinger ist ein Kind von Traurigkeit. Ihr neuer Albumtitel lehnt sich an den Vorgänger Songs of L. and Hate (2010), wobei das L. für den vermeintlichen Gegenspieler des Leids, also die Liebe steht. Vermeintlich, weil beides doch irgendwie zusammenhängt. Rösinger greift dieses Paradox als den ganz normalen Wahnsinn auf, das sie mit ihrer lakonischen, ironischen Art bearbeitet.

So gibt sie im Titellied ohne Umschweife wider, dass die Liebe wohl -und wehtun kann. Allerdings erfüllt Lieder ohne Leiden nicht das Muster einschlägiger Radiohits, die mit klischeestrotzenden Bildern ebengleiches Thema bis zum Erbrechen wiederkäuen. „Ich will Lieder ohne Leiden, ich kann mir doch nicht jeden Tag das Ohr abschneiden. Ich will Lieder, die nichts bedeuten“. Wie charmant Einfachheit doch sein kann.

In Schal nimmt uns Frau Rösinger mit auf ein (aussichtsloses, langweiliges) Date und wir lernen, dass die damit verbundene Erwartungshaltung warmhalten, aber auch erwürgen kann. Hinterher ist man immer schlauer, auch wenn man sich vielleicht fühlt wie das abgestandene Getränk, das vor einem steht.

Ein bisschen abgenudelt wirkt Das verflixte 7. Jahr – eine Floskel, die jedem bekannt sein dürfte. Jedoch quetscht der Sechzigerjahre Schlager-Charme in Kombination mit Rösingers fast gleichgültiger Sangesart den entscheidenden Tropfen Sympathie aus dem Lied heraus.

Als Teil der Babyboomer-Generation widmet die Musikerin dieser ein Lied und auch deren Kinder hat sie im Blick. Zum geradezu fröhlich geschmetterten Eigentumswohnung gibt es ein Video, das merkwürdig genug ist, um es dem interessierten Leser nicht vorenthalten zu wollen:


Trotz aller Melancholie, die im abschließenden Song Das gewölbte Tor seinen Höhepunkt findet und passenderweise dem alten Romantiker Heinrich von Kleist Tribut zollt, ist Christiane Rösingers Neuwerk recht leichte Kost.

Dass sie anscheinend nach all den Jahren des anspruchsvollen Künstlerschaffens nun stumpfer Arbeit nachgeht, ist nicht spürbar. Nein, Christiane, man hört, dass du dir treu geblieben bist und zugleich deine erste Soloplatte übertroffen hast.

Am 24.02.2017, sprich morgen, ist Release. Also, liebe Melancholiker, kaufen und hören!

Auf Tour ist Christiane Rösinger bald auch:

01.04.2017 Berlin, HAU1
04.04.2017 Hamburg , Uebel & Gefährlich
05.04.2017 Köln, Gebäude 9
06.04.2017 Frankfurt, Brotfabrik
07.04.2017 Schorndorf, Manufaktur
08.04.2017 CH-Zürich, Stall 6
09.04.2017 CH-St. Gallen, Palace
11.04.2017 AT-Wien, Brut
12.04.2017 München, Strom
13.04.2017 Leipzig, Werk 2

Deichtorhallen zeigen Sammlung Viehof

deichtorhallen_sammlung-viehof_knoebel

Bis Ende Januar 2017 sind an zwei Standorten in Hamburg zahlreiche Werke von 75 wichtigen Künstlern der Gegenwart zu sehen. Während in der Halle für aktuelle Kunst Joseph Beuys‘ Werke einen eigenen Andachtsraum haben, zeigt die Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg auch Arbeiten von Baselitz, die keine drei Meter hoch sind.


Die angegebene Zahl der präsentierten Werke schwankt zwischen über 600 und 850, irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen. Interessanter ist jedoch der qualitative Umfang der Sammlung Viehof. Dabei existiert sie an sich noch nicht all zu lang. Anteilig besteht sie aus den älteren, bedeutenden Sammlungen Speck und Rheingold.

Namenhafte Vertreter diverser Kunstströmungen der Nachkriegszeit prägen das ganze Konvolut. Eine besondere Position haben hier neue deutsche Maler wie Daniel Richter, Neo Rauch und Georg Baselitz inne, nicht weniger präsent sind aber auch ehemalige Becher-Schüler wie Thomas Ruff, Candida Höfer oder Thomas Struth.

Gelungen ist die Aufteilung der ausgestellten Sammlung auf beide Standorte. Dabei wurde nicht nach Künstlern oder Medien sortiert.
So machen sich in der geräumigen Halle für aktuelle Kunst Danh Vos We the people (detail) (2011), welche nachgebaute Fragmente der Freiheitsstatue darstellen, gut zwischen großformatigen Arbeiten Sigmar Polkes. In nächster Nähe zu Rosemarie Trockels minimalistischen Installationen und Strickbildern haben Objekte von Joseph Beuys scheinbar einen eigenen Andachtsraum erhalten.

carl-andre_sammlung-falckenberg_nov16

Leider bitte nicht betreten: Carl Andre, „81 Steel Cardinal“ (1989)

Der Standort Sammlung Falckenberg wartet nicht nur mit kleinformatiger Flachware auf. Jörg Immendorffs raumgreifende Akademie für Adler (1989) lässt noch Platz für Mike Kelleys Library (2012), ein mit Büchern, CDs und weiteren Objekten vollgestopftes Bücherregal. Malerisch thematisierte deutsche Polithistorie trifft auf die komprimierte Geschichte der Popkultur.

Wolfgang Tillmanns‘ großformatige, abstrakte Fotografien aus den 2000ern sind unweit von denen Boris Mikhailovs zu finden, die soziale Brennpunkte in der UdSSR zeigen und ein gar schon komisches Spannungsfeld zwischen dem Ideal und der Lebenswirklichkeit des Sozialismus‘ erzeugen.

Bedauerlich: Im Gegensatz zur diesjährigen Einzelausstellung Carl Andres in Berlin ist die Bodenskulptur aus Stahlplatten in der Sammlung Falckenberg nicht betretbar. Der Gedanke hinter seinen minimalistischen Skulpturen ist jedoch genau dieser: Der Rezipient darf und soll das Werk betreten. Was wäre nur, wenn der Kurator Georg Baselitz’ Bilder richtigherum gehängt hätte?

Titelbild + Beitragsbild: © Lenn Colmer, Titelbild Werke: Imi Knoebel

Pabst: „Skinwalker“

Heute bringt nicht nur Xavier Naidoo eine neue Single raus. Pabst debütieren mit ihrer EP Skinwalker. Was hat ein indianischer Mythos mit Bier, einer Herzabhörmethode in der Tiermedizin oder einem Spuckbecken zu tun? Wahrscheinlich so viel wie Pabst mit Xavier Naidoo.


Im Zeichen der alten und neuen, retrospektiven Zeiten ist die Skinwalker EP natürlich auch als Vinyl erhältlich. Zu Reviewzwecken erwies sich der digitale Musikdownload zugegeben als praktischer. Nichtsdestotrotz wird sich gerade bei Pabst der Hörgenuss auf guter, alter Plattenbasis lohnen. Aber worauf genau kann sich der interessierte Hörer gefasst machen?

Quelle: YouTube

Im Titeltrack verschränken sich ursprünglicher Hard Rock nach legendärer Black-Sabbath-Art und davon inspirierter, jüngerer Stoner-Rock. Durch das gesamte Hörerlebnis der EP zieht sich des Weiteren ein gedrehter Strang aus fuzzigem Garagen Rock und Grunge.

Während Bias einen poppigen Einschlag hat, erinnert Members Only an die von The Cure gefärbten späten 1980er auf psychedelischer Grundlage. Die Palette der musikalischen Einflüsse reicht darüber hinaus bis zu Nirvana und Tame Impala.

Einem Cliffhanger gleich kommt übrigens der abschließende Song der EP. Watching People Die, den Grunge-Nerv der 90er treffend, zergeht rauschend in einem Bad aus pulsierendem Noise. Gibt es bald mehr davon?

Pabst machen die Frage, wie viel Rock-Genres in eine Band passen, überflüssig. Ihr Debüt dafür macht neugierig auf mehr und man hofft auf die Beibehaltung ihres Facettenreichtums.

Am 18.11.2016 spielt das Trio übrigens im Musik & Frieden in ihrer Heimatstadt Berlin. Die Gelegenheit, um sich abseits der sauberen Plattenproduktion ein Live-Bild von Pabst zu machen!

Titelbild: © Fabian Bremer

Fritz Kalkbrenner: „Grand Départ“

fritz-kalkbrenner_grand-depart_suol

Seine Alben bringt Fritz Kalkbrenner so rhythmisch raus wie seine Kickdrum-Beats klingen. Sein kommendes, viertes Gesamtwerk Grand Départ fügt sich in das Muster seiner Vorgänger.


Das Aufbrechen und Herumreisen, Ankommen und eine andere Richtung einschlagen ist und bleibt offenbar Fritz Kalkbrenners Motiv. Wenn man allein nach dem Albumtitel schaut, scheint sich aber der große Start erst jetzt, nach drei Alben, ereignet zu haben.

Mit dem pulsierend treibenden Trostpflasterlied Don’t You Say eröffnet der Berliner Musiker die Reise und bereits hier machen sich die Elemente bemerkbar, die Fritz Kalkbrenner neu für sich entdeckt hat. Diverse Blasinstrumente wie Waldhorn und Saxophon fügen sich wie Sepia-Bilder in mehr als die Hälfte der Tracks ein.

Er ließ sich von französischen Filmen wie Der eiskalte Engel (1967) inspirieren, was besonders im Instrumentaltrack A Good Day zur Geltung kommt. House und Techno treffen auf gedämpfte Bläser – ein gelungener Mix verschiedener musikalischer Generationen und Genres.

Doch nicht allein das ist das Besondere, blickt man auf sein bisheriges Schaffen zurück, in dem Gesang vergleichsweise selten vorkommt. Auf Grand Départ untermalt Kalkbrenners unaufgeregte Soul-Stimme in 7 von 13 Stücken die nostalgisch angehauchte Atmosphäre. Es lassen sich aber ein paar Songs wie Center To Center oder Rain Parade finden, die das Retro-Konzept ein wenig auflockern. Fritz Kalkbrenners oberstes Anliegen bleibt schließlich die elektronische Tanzmusik.

Neben den vielschichtigen Kompositionen wurde ebenso Wert auf das Arrangement der Songs gelegt; vocals wechseln sich brav mit reinen instrumentals ab. Fritz Kalkbrenner schafft ein angenehmes Reiseklima für Gedanken und Gefühle. Der Hörer kann sich also entspannt zurücklehnen und den Herbst kalt sein lassen, aber auch in House-Manier das Tanzbein schwingen.

Titelbild: © David Rasche

Overseas Rap-Rave Innovation

overseas_innovation_titel

Inzwischen glaubt man sich an DIE ANTWOORD gewöhnt zu haben und dennoch schaffen es die südafrikanischen Künstler immer wieder, sämtliches Augen- und Ohrenmerk jener auf sich zu lenken, die sich über den Rand des Mainstreams hinauslehnen und für provokanten Pop-Trash zu haben sind. Nachdem bereits DJ Muggs auf ihrem letzten Album mitwirkte, ist auf Mount Ninji And Da Nice Time Kid ein zweites Mitglied von Cypress Hill dabei. Ob die Liebe zum Weed die Kooperation gefestigt hat? Möglich wär’s.


Candy, Coffie, Satan. Das niedlich-böse Image von DIE ANTWOORD lässt an überdrehte Comics und die Prolls von New Kids denken. Ihre Musikvideos beginnen oft mit einem grotesken Plot. In Baby’s On Fire zum Beispiel sitzt Yolandi mit den Eltern und „Bruder“ Ninja am Tisch und dankt dem lieben Gott für Muttis Essen, ausverkaufe Konzerte in den USA und Satan – das ist übrigens der Familienhund.

Im Video zu Banana Brain bestickt die ahnungslose Mama ein Tuch mit „Jesus is die Antwoord“, während Töchterchen Yolandi Tee mit einer ausreichenden Portion Schlafpillen serviert und danach mit Bad Boy Ninja auf eine abgefuckte Rave-Party geht.

Ein Mash Up der Superlative

Sie raven und rappen auf Afrikaans sowie auf Englisch und haben darüber hinaus weitere südafrikanische Sprachen und Akzente im Repertoire. Sie drehen die Bad Boy Attitüde des Gangsta Raps gerne mal bis zum Anschlag auf und lassen zuweilen wie im Rock, Metal oder Gothic die Dämonen tanzen. Hinzu kommt das schrille Kindfrau-Image, das sich ¥o-Landi Vi$$er (im Gegensatz zu Björk) beherzt zu eigen macht. Der irritierende Bruch: Sixteen Jones, die reale, gemeinsame Tochter von ¥o-Landi und Ninja, ist ein semi-aktives Member der Crew.

Das neuste Album Mount Ninji And Da Nice Time Kid erfüllt alles, was das Herz eines DIE ANTWOORD Fans begehrt: Es wird geflucht, gequietscht, gerappt und ausgeteilt. Mit ihrer penetranten Kinderstimme spielt Yolandi wie eh und je mit Klischees und Gegensätzen. Besonders grotesk wirkt das im Track Daddy.

Der Mini-Track Wings On My Penis wurde geschrieben und gerappt von Lil Tommy Terror, der zum Aufnahmezeitpunkt 6 Jahre alt war. Im darauffolgenden Skit U Like Boobies? preist ¥o-Landi ihm die (natürlich nicht jugendfreien) Angebote des ominösen „rat hole“ an, um darauf im Tim-Burton-Kirmes-Style mit Jack Black und Ninja Rats Rule zu rappen. Hier erkennen wir, dass DIE ANTWOORD auch junge Talente zu fördern weiß.

Die Schönen und die Biester

Einerseits sehen sich DIE ANTWOORD als rats, womit sie eine Stufe tiefer wären als die underdogs, andererseits ziehen sie sich mit amerikanischen Stars wie Dita Von Teese dicke Fische an Land. Sie war bereits im Musikvideo zu Ugly Boy neben weiteren Größen aus der US-Popwelt zu sehen und ist nun auch auf dem neuen Album zu hören. Gucci Coochie erscheint wie das weibliche Gegenstück zum 2012 releasten Single-Track XP€N$IV $H1T.

Vor ein paar Jahren dissten DIE ANTWOORD Lady Gaga im Clip zu Fatty Boom Boom. Daraufhin war sie beleidigt, da sie ursprünglich DIE ANTWOORD als Tour-Support dabei haben wollte. In diesem Diss wurde wohl eher mit ihrem kolonialen Großmut als Pop-Queen und nicht mit ihrer Genialität als Popkünstlerin abgerechnet.

Dass DIE ANTWOORD einen Hang zur (Selbst-)Ironie haben, zeigt sich vor allem in ihren Skits. Im Opener des kürzlich releasten Mixtapes Suck On This rufen Yolandi und Ninja die Amerikaner zur richtigen Aussprache ihres Bandnamen auf; im Track Jonah Hill unterbrechen sie sich bei der Aufnahme, um eine sinnfreie Diskussion mit God vom Zaun zu brechen. Da fehlt nur noch Ninja, der trocken einen Pimmelwitz auf Afrikaans vorträgt.

X, Y, Zef

Seit dem Musikvideo zu I Fink U Freeky sind sie wohl zum international bekanntesten Act der südafrikanischen Zef-Culture geworden. Erfunden hat DIE ANTWOORD Zef aber nicht, sondern lediglich populär gemacht.

Ebenso wenig tauchten sie aus dem Nichts auf. Es war einmal die Kombo Max Normal, im Endstadium auch als MaxNormal.TV bekannt, in der Watkin Tudor Jones Jr. aka Max Normal aka Ninja bereits mit Yolandi Visser und Justin de Nobrega aka DJ Hi-Tek aka God agierten. Auf dem letzten Album dieser Formation sind bereits DIE ANTWOORD-typische Klänge und Flows zu vernehmen. Hier zum Beispiel ist Yolandi mit einer etwas moderateren Stimme zu hören; außerdem zitiert sie eines ihrer musikalischen Vorbilder (Marilyn Manson).

Ninja und ¥o-Landi können aber auch anders: Ihre nachdenkliche und verletzliche Seite zeigen sie in Tracks wie Donker Mag oder Darkling, der wohl der traurigste Song auf dem neuen Album ist. Romantische Rave-Songs wie I Don’t Care sind eher rar, erweitern jedoch den Blick auf das Spektrum ihres Schaffens.

Weirdo Cinema

Da DIE ANTWOORD ebenso viel Wert auf ihre visuelle Performance legen, sei zum Abschluss ihre bisherige cineastische Laufbahn umrissen.

Nachdem sie in Harmony Korines Kurzfilm Umshini Wam (2011) in creepy Pokémon-Overalls und Rollstühlen durch die Gegend trollten, erschien Neill Blomkamps Chappie (2015) in den Kinos. Hier spielten ¥o-Landi und Ninja zentrale Rollen und natürlich wieder sich selbst.

Besonders schräg (und liebenswert) wird der Film durch die Storyline, in der Ninja und Yolandi einen ausrangierten Polizeiroboter adoptieren und großziehen. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass er letztendlich nicht seine ursprünglich zugedachte Funktion erfüllt und ganz nach Mommies und Daddys Vorbild handelt.

Titelbild: © Le Colmer, Pfotenmodel: Herrmann

This is Body War!

Show-Me-The-Body_Body-War

Gibt es den Underground noch? Durch Show Me The Bodys Debüt Body War fühlt man sich zumindest daran erinnert. Schrammelig, laut und impulsiv. 10 Tracks, Gesamtspielzeit 30 Minuten, wie das gute alte Punk-Format. Ein konkreterer Vergleich würde Beastie Boys mit ordentlichem Hardcore-Einschlag lauten.



Diverse Sub-Sounds tummeln sich auf der Platte: Von Punk (besonders hörbar in Tight SWAT) bis zum puritanischen Noise (Honesty Hour). Show Me The Body scheinen gut zu wissen, was man nach ihrer vollen Dröhnung Hardcore braucht. Das klangliche Gemetzel, das ab und zu in Verzweiflung untertaucht, sich aber immer wieder kräftig erhebt, endet mit einer Line Aspirin.

Feiern oder Frustration? Nur Anti oder doch Anarchie? Die New Yorker Band bewegt sich konstant zwischen solchen Spannungsfeldern. In Chrome Exposed wird der Lack des „Polizei Mythos‘“ Amerikas, der trotz rassistischer Gewaltvorgehen immer noch unanfechtbar zu sein scheint, angekratzt. Death Sounds 2 lässt Großstadt und Friedhof miteinander verschmelzen; selbst Freunde werden in urbaner Depression zu (Un-)Toten.

Gewalt, Schmerz und Euphorie bündeln sich auf Body War. „It’s more real than how I feel when I have no language / Anguish I’ll tell you with my body then”, heißt es im Song New Language. Wie gut, dass die Jungs in erster Linie ihre Instrumente verkloppen.

So authentisch der Underground Sound der New Yorker Band auch ist – nichts hält davon ab, sich das Album aus Spaß an der Freude anzuhören. Auf dem Weg vom Büro über die Autobahn nach Hause, im Skatepark, beim Putzen oder Kochen. Aus gesundheitlichen Gründen sollte man jedoch das Headbangen vor allem beim Autofahren unterlassen.

Titelbild: © Show Me The Body

Von Wegen Lisbeth: „Grande“

Für ein Albumdebüt ist „Grande“ ein nicht gerade bescheidener Titel. Von Wegen Lisbeth waren schon als Support von Element Of Crime und AnnenMayKantereit unterwegs. Wie klingt die erste, große Eigenständigkeit? Eine Rezension.


Von Wegen Lisbeth und Zugezogen Maskulin passen nicht so recht zusammen, befinden sich aber direkt aufeinanderfolgend in meiner Playlist. Beide Bands kommen aus Berlin und haben ein familiäres Verhältnis zur Ironie, weitere Gemeinsamkeiten lassen aber sich ebenso wenig finden wie ich mich mit deutschem Indie-Pop auskenne. Nichtsdestotrotz habe ich mir mal Von Wegen Lisbeths Debüt zu Gemüte geführt und mich an eine Rezension gewagt.

Grande – woran erinnert mich das nur? An Urlaub, an Speisekarten, an große Gefühle à la Amore; es könnte sich glatt um einen Gruß an die österreichischen Kollegen von Wanda handeln.

Mit 14 Titeln tischen Von Wegen Lisbeth dem Hörer eine Palette auf, die sich sehen – Verzeihung – hören lässt. Jedes Lied stellt eine kleine Geschichte aus dem alltäglichen Dasein junger Urbanesen dar. So führt der Opener Meine Kneipe in das Grande-Universum ein, das bei genauerer Betrachtung gar nicht mal so groß ist.

Quelle: YouTube

Was Von Wegen Lisbeth ausmacht, ist ihre Liebe zum mit „kleinen Scheißinstrumenten“ unterstützten Indie-Sound (wie im Interview mit sPiTV verraten wird) und eine fast schon stoische Leichtigkeit des Seins, die sich in ihren Lyrics ausdrückt. „Immer wenn ich kotzen muss, geht Liebe durch den Magen“, heißt es im Song Lisa. Irosie könnte man das nennen – eine Mischung aus Ironie und Poesie.

In Komm mal rüber bitte konkurrieren, untermalt mit schrägen Soundsamples, von außen verübter Leistungsdruck und die süßen Verlockungen des Alltags miteinander. Kollidiert das spätpubertäre Ausleben der Sexualität nicht mit den akademischen Anforderungen, die der Herr Vater stellt? Ein etwas altbackenes Bild, das jedoch weniger traditionell formuliert wird.

Der darauffolgende Song Drüben bei Penny setzt verletzbare Gefühle mit einem günstigen Produkt, das sich neben dem Kaffee in ebendieser Supermarktkette befindet, gleich. So melancholisch das auch klingt – Von Wegen Lisbeth haben sich darauf spezialisiert, den Hörer eher zum Schmunzeln als zum Heulen zu bringen. Good guys.

Quelle: YouTube

Fun fact: Gewisse Items werden zu Stellvertreter gescheiterter oder problematischer Beziehungen. Wie das iPhone in Chérie oder das Sushi in Sushi, wird in Becks Ice das gleichnamige Getränk mit einer erahnbaren (Ex-)Freundin in Verbindung gebracht. Von Wegen Lisbeth kreieren hier humorvolle Wortspiele, die auf dem ersten Blick ganz witzig sind und zum Großteil auch funktionieren: „Warum kommst du eigentlich unter Einfluss eines reichlich süßen Alkopop-Getränks auf eine Schnapsidee?“ – Ja, warum auch nicht?

An vielen Stellen frage ich mich dennoch, was hinter den spritzigen bis nachdenklich-humorvollen Lyrics stecken soll. Das Lied Bitch wirkt ein bisschen zu sehr darum bemüht, sich auf die leichte Schulter und gleichzeitig ernst zu nehmen. Immerhin: Liebe ist vielleicht doch nicht für alle da, wie Rammstein behaupteten, aber manche können damit eben gut umgehen. Von Wegen Lisbeth zum Beispiel!

Überraschenderweise entpuppt sich ausgerechnet der letzte Track als ein Party-hard-Song: In der Kneipe gibt’s nun Freigetränke und genau deswegen sind offenbar alle da. Neben Becks Ice gibt es bestimmt auch richtiges Bier und O-Saft. Unüberhörbar lehnen sich Von Wegen Lisbeth an die gute alte NDW, denn „jetzt wird wieder in die Lobby gespuckt“. Prost!

Die behandelten Themen auf Grande lassen sich auf eine Handvoll herunterkochen und wirken zum Teil ziemlich banal. Es kommt hier eher auf die lyrische Verpackung an; wie erwähnt haben Von Wegen Lisbeth ein poetisch-ironisches Verhältnis zu ihrer Umwelt und sich selbst. Dafür, dass sie nun ihr Debüt veröffentlichen, haben sie sich bereits einen Namen gemacht und werden – wer weiß – vielleicht sogar noch grande. Morgen ist Release, überzeugt euch selbst!

Titelbild: © Von Wegen Lisbeth

Maria Wende: „IDEA.fabric“ – Urbane Symptome im dörflichen Idyll

Maria Wende: "IDEA.fabric"

Ausgefallene Kleidung ist hierzulande nichts Außergewöhnliches, bunt gemusterte Burkas hingegen schon. Maria Wende lässt die selbstentworfenen Stücke zu gewissen Anlässen von freiwilligen Teilnehmern tragen und schlüpft auch selbst hinein. Wer hier das Werk einer innovativen Modemacherin vermutet, liegt falsch. Maria Wende ist Künstlerin. Als fotografische Assistenz durfte ich ihre Performance IDEA.fabric im Rahmen eines Wettbewerbs begleiten.


Zum Anlass seines 40-jährigen Bestehens dachte sich der Kunstverein Oerlinghausen etwas Besonderes aus. Unter dem Motto 7 Künstler, 7 Tage und mithilfe einer bundesweiten Ausschreibung lockte er sieben junge Künstler in das beschauliche Städtchen im Teutoburger Wald. In der letzten Maiwoche sollten die Künstler den Ort erkunden und abschließend ihre Ergebnisse in der ehemaligen Synagoge präsentieren. Das Sahnehäubchen des Ganzen: ein mit 1000 Euro dotierter Preis. Maria Wende war eine der teilnehmenden Künstlerinnen. Mit Burkas und zwei Assistenten im Gepäck besuchte sie Oerlinghausener, die sich über einen Aufruf in der örtlichen Presse gemeldet hatten.

Ja, Burkas. „Afghanisch geschnitten, aber verwestlicht“, wie die Künstlerin sagt. Die Muster der Stoffe reichen von schwarzweißem Leoprint bis zu einem Apfelmuster, das ziemlich nahe an das Logo eines großen US-amerikanischen Konzerns heranreicht. Vor einem Jahr hatten Maria Wendes Burkas Premiere auf der Hamburger altonale17. Mit vier weiteren Burkaträgern, darunter zwei Männer, bewegte sie sich im öffentlichen Raum Hamburgs. Damit erregte sie ohne Zweifel Aufsehen, wobei die Reaktionen sehr unterschiedlich ausfielen. Hamburg 1 befragte die Aktion exklusiv in einem Interview.

Für Oerlinghausen packte Maria Wende die Burkas wieder aus. Gemeinsam mit Künstler und Projekt-Assistent Florian Münchow und mir unternahm sie insgesamt fünf Hausbesuche im Ort. Während die beiden eine Burka trugen und von den Hausherren bzw. –damen eine Hausführung bekamen, dokumentierte ich den Besuch mit der Kamera. Von jedem Besuch wurde ein Foto ausgewählt, das im Anschluss im öffentlichen Raum Oerlinghausens mehrfach plakatiert werden sollte.

Hausbesuch in Oerlinghausen


Burka 2.0

Was aber sollen die bunten Burkas? Maria Wende hat sich vor der Variation des im hiesigen Kulturkreis unüblichen Kleidungsstücks mit dem Originalen intensiv auseinandergesetzt. „Die originalen Burkas sind einfarbig. Schwarz, blau oder auch weiß. Im Gegensatz zu meinen bunten reichen sie nicht bis zum Boden, sondern höchstens bis zu den Knien.“

Burkas sind ein kulturelles Kleidungsstück, kein religiöses. Getragen werden sie vor allem im öffentlichen Raum Afghanistans. In der westlich geprägten Kultur ist die Vollverschleierung unüblich bis rechtswidrig. Nachdem das Burka-Verbot in Frankreich durchgesetzt wurde, fragte sich Maria Wende konkret, ob die Verschleierung der Frau tatsächlich den Gipfel ihrer Diskriminierung darstellt.

„In Deutschland zum Beispiel tragen Polizisten und Polizistinnen dieselbe Uniform. Polizistinnen müssen jedoch immer noch stärker um Anerkennung kämpfen als ihre männlichen Kollegen. Die Mechanismen der Diskriminierung greifen auch dort, wo eine Gleichstellung von Männern und Frauen eigentlich gegeben sein sollte“, sagt sie.

Dörfliche Idylle feat. Urbanismus

Die Kleider hatte die Künstlerin bei einer Schneiderin maßanfertigen lassen. Da nicht alle Altona-Teilnehmer in Oerlinghausen mitwirken konnten, hatte Maria Wende überlegt, Vertreter zu suchen.

„Diese Idee stieß auf wenig Begeisterung“, erinnert sie sich, „Interessanterweise identifizieren sich die Träger mit ihrer Burka.“ Florian Münchow bestätigt: „Bevor jemand anderes meine Burka trägt, habe ich mir lieber eine Woche Urlaub genommen.“

Ihre Absicht ist es nicht, tatsächlich Burka tragende Frauen anzugreifen. Im Rahmen ihrer Performance interessierte die Künstlerin das direkte Miteinander. Maria Wende kehrte den üblichen Burka-Dresscode – das Tragen im öffentlichen Raum – um. Sie und Florian Münchow unterhielten sich vollverschleiert mit den Gastgebern meistens über die kommunikativen Barrieren oder Schwierigkeiten beim Essen (ja, Kaffee und Kuchen wurden achtsam unter der Burka verzehrt). Dabei vertiefte sich häufig der gesellschaftspolitische Diskurs um und über die Verschleierung von Muslima und kulturell geprägte Frauenbilder im Allgemeinen. Manche Gastgeber waren neugierig und schlüpften selbst in eine Burka.

Plakate in Oerlinghausen

Teil Zwei des Projektes fand im öffentlichen Raum Oerlinghausens statt. Momente der Situationen im privaten Raum wurden somit nach außen getragen. Nach der Sichtung des Fotomaterials wurde jeweils ein Motiv für ein Plakat pro Tag ausgewählt. Mit dem Titel IDEA.fabric, der auf jedem Plakat wie eine Seriennummer steht, verweist Maria Wende auf die mustergültigen Wohnraumkonzepte einer allseits bekannten Möbelhauskette.

In Anbetracht der sieben Plakate wirkt das immer wiederkehrende Motiv der bunten Burkas wie ein vereinheitlichendes Möbelstück, das den verschiedenen Innenräumen Fremde gibt und Isolation nimmt.

„Klingt lustig, lass ma‘ machen!“

Welcher Aufwand in einer Woche Kunstprojekt steckt, die allgemeine und spezielle Organisation, Umsetzung, einen Feiertag, einen Brückentag und den Aufbau der Ausstellung beinhaltet, wurde schnell spürbar. Bereits vor Projektantritt wurde Maria Wende klar, dass sie ihre für Oerlinghausen konzipierte Arbeit abändern muss. „Wenn ich eine Idee für ein Projekt habe, denk ich immer: Klingt lustig, lass ma‘ machen! In der Praxis sieht das dann meistens anders aus.“

Missverständnisse mit der Druckerei, an die sie sich bereits im Voraus für die Produktion ihrer A1-Plakate gewandt hatte, führten dazu, dass der zeitliche Plan – pro Tag ein Hausbesuch und die Produktion eines Plakatmotivs – radikal gestaucht und umstrukturiert werden musste. Es fanden letzten Endes fünf statt sechs Hausbesuche statt und es mussten räumliche Alternativen gesucht werden. So waren einige Gastgeber tief enttäuscht, dass das „Team Burka“ kurzfristig absagen musste. Trotz allem wurde wie geplant produziert und plakatiert.

Die anonymen Reaktionen auf die Plakate spiegelten den Umgang urbaner Objekte im Dorf wider: Viele wurden scheinbar ignoriert bzw. toleriert, einige wurden abgerissen und bekritzelt, eines wurde offensichtlich sorgsam abgenommen, bevor der Kleister überhaupt trocknen konnte. Facetten von Spießigkeit und Vandalismus wurden auf diese Weise sichtbar und betonten auch ortsspezifische Klischees.

Den Preis holte sich letzten Endes der (wundersame Zentaur) Daniel Chluba aus Berlin. Insgesamt reichte die einwöchige Erfahrung von bizarr bis scheintot. Mal sehen, wann und wo Maria Wende zunächst ihre Burkas aufschlagen wird.

Titelbild und Beitragsbilder: © Le Colmer/Maria Wende

In your face. ANOHNI und die Hoffnungslosigkeit

Pop und Weltschmerz – wie geht das zusammen? Hopelessness heißt das Solo-Debüt der Künstlerin Anohni (zuvor bekannt als Antony von Antony and the Johnsons), die ihren Unmut in elf Tracks kundtut. Es ist ein an der sich zuspitzenden weltpolitischen Lage und der globalen ökologischen Situation gewachsener Unmut. Anohni setzt dabei bewusst auf Unmissverständlichkeit: Der Eingangstrack heißt Drone Bomb Me und das Herzstück des Albums Obama.


Im letzten Jahr erschien Björks kathartisches Vulnicura (2015), das sich geschlossen den schweren Thematiken Liebe und Trennung widmete, ohne sich dabei als ein affektierter Soundtümpel zu entlarven, in dem sich das emotionale Wesen Björk selbstmitleidig wälzt. Die Kompositionen haben den ausgedrückten, individuellen Schmerz der Künstlerin auf eine objektivere Ebene gehoben, welche die nötige Distanz zwischen Interpretin und Zuhörer geschaffen hat. Hopelessness funktioniert da ähnlich. Bei aller von Anohni ungehemmt geäußerten Betroffenheit schafft sie es zum Großteil, das klebrige Kitschnäpfchen zu umgehen, indem sie zum einen mit warmer Leidenschaft zornige Zeilen singt und zum anderen auf populären Dance-Sound à la Hudson Mohawk und Oneohtrix Point Never setzt.

Dass Björk Anohni ein paar Mal zum Duett eingeladen hat, merkt man irgendwie. Der erste Track Drone Bomb Me erinnert entfernt an Hyper-ballad, wobei Anohnis Akteurin nicht auf dem Berg steht, um Sachen herunterzuwerfen, sondern um von einer Drohne abgeschossen zu werden. Es könnte eine Ode an die unerreichbare Liebe sein, wenn nicht dieses Drone vor dem Bomb wäre. Das Musikvideo dazu ist Promi-technisch sowie emotional stark aufgeladen und findet in einem düsteren Ambiente statt.



In 4 Degrees prallen Pauken und Fanfaren auf Anohnis sanften, doch kräftigen Gesang und erinnern zum Teil an Woodkid; jedoch hat der Song nichts von dem Pathos, den Iron oder Run Boy Run transportieren. Anohni beschwört apokalyptische Szenarien einer an der Erderwärmung zugrunde gehenden Flora und Fauna herauf, die zum Teil bereits eingesetzt haben. Die kritische Sängerin kann noch konkreter: Wie Black Lake das schwarze Herz von Vulnicura ist, so ist Obama das von Hopelessness. Die enttäuschte Liebe ist politisch, aber deshalb nicht weniger schmerzlich zu verdauen.

Nichts scheint sie auszulassen: Lässt man beim Song Crisis die ersten beiden Buchstaben weg, hat man den Adressaten des Stücks gefunden. Die Sängerin gerät zum Schluss des Liedes in eine barmherzige „I’m sorry“-Spirale, was ihm eine leicht sülzige Note verleiht. Spätestens hier merkt man, dass der Spagat zwischen inhaltlichem Anspruch und akustischer Ästhetik gar nicht so einfach ist. Anohni beschreibt auf Deutschlandradio Kultur ihr Solo-Debüt treffend als „trojanisches Pferd“.

Im Fadenkreuz stehen vornehmlich die profitorientierten Machenschaften der USA. Offensichtlich in Execution („It’s an American dream“) oder Marrow („We are all Americans now“), unterschwelliger in der zärtlichen NSA-Hymne Watch Me („Daddy, Daddy (…) I know you love me / ‘Cause you’re always watching me“). Das fragmentarische, feministische Mantra Violent Men reiht sich in die Abrechnung mit sämtlichen Mechanismen und Akteuren der Unterdrückung ein.



Dieses Album ist ein nicht leicht zu schluckender Brocken. Eine bessere Aussicht, geschweige denn ein Happy End bleibt dem Hörer verwehrt. Hopelessness ist ein konsequentes Werk. Die erste Hälfte des gleichnamigen Songs wirkt wie eine wässerige Version von Family Violence aus Arcas Erstling Xen (2014), das wohl zu einem der genialsten Electronic-Alben des Jahrzehnts gezählt werden darf. Überraschend dringt der klagende Gesang Anohnis in Gospelgefilde vor und wiederholt stetig „How did I became a virus?“, als wolle sie eine Antwort herbeibeschwören.

Keine Illusionen, keine Antworten. Das unermüdliche Ausbreiten und Aufgreifen der immer selben Themen Erdzerstörung, Unterdrückung und eben Hoffnungslosigkeit unterstreicht, wie ernst es der Künstlerin damit ist. Auf ihrer Homepage sind die Songtexte sogar in 15 Sprachen zu lesen. Hopelessness verkörpert eine dystopische Realität. An manchen Stellen wirkt die von Anohni animistisch gemalte Natur zu dick aufgetragen und die gewollte Direktheit etwas unbeholfen. Nichtsdestotrotz ist das Album hörenswert, da es auf eigensinnige Weise Kritik an unserem Zeitgeist übt.

Titelbild: © Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin

Was kostet’s dich, Mensch? – Reiz der Fotografie

Die Frage nach unserer Verortung und Vernetzung in der globalisierten Welt ist allgegenwärtig. Die 56. Biennale in Venedig hatte sich bereits diesem Themenkomplex zugewandt. Damit am Puls der Zeit zu sein, dachte sich auch gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie 2015/16, ein nun zwölf Jahre altes Projekt für zeitgenössische Fotografie. Aktuell ist die durch Deutschland und Europa reisende Ausstellung unter dem Motto Quo vadis, Welt? – Reflexion und Utopie in den Hamburger Deichtorhallen im Haus der Photographie zu sehen.


Wer sich mit Kunst beschäftigt, übt sich automatisch in Kompromissbereitschaft und Toleranz. Das, was ich wahrnehme, muss mir nicht gefallen, muss sich nicht mit meinen Interessen oder Ansichten decken. Ich kann es scheiße oder belanglos oder beides finden – über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Solange der Künstler für seine Arbeit eine adäquate Form gefunden hat, die mir seine Sichtweise ermöglichen kann, ohne meine Phantasie dabei einzuschränken, hat er oder sie alles richtig gemacht. Zumindest bleibt es auf diese Art spannend, denn ich kann meine Perspektive wechseln, ohne meine eigene wirklich zu verlassen. Bei aller Lobpreisung der Toleranz durch Kunst: the magic moment lautet Zeitgeist. Wer ihn trifft, hat einfach nur Schwein. Van Gogh ist nur einer von vielen, den man darum bedauert, dass seine Kunst erst nach seinem Tod erfolgreich wurde. Ob er darüber glücklich wäre, heute in jeder zweiten Arztpraxis und in jedem dritten Café zu hängen, wird sich wohl nie klären. Dafür können wir hinterfragen, warum zum Beispiel Jeff Koons vor allem bei den Oligarchen so gut ankommt. Manchmal sind Hype und Zeitgeist nicht zu trennen.

Kommen wir zurück zu den guten Aussichten, die uns das gleichnamige Projekt verspricht. Klingt ein bisschen naiv, wenn man den Titel nicht auf die Gewinner des Wettbewerbs, sondern auf das diesmalige Motto bezieht; diese heitere Betonung wäre andererseits ein Stoß in die Rippen der kritischen Gesellschaftsbeobachter, deren Sorgenfalten auf der Stirn allmählich lächerlich zu wirken scheinen. Ja, die Welt verändert sich, aber das hat sie immer schon getan. Heute haben wir die Möglichkeiten, jederzeit überall zuzusehen und da bleibt ein gepflegter Brainfuck auf Dauer nicht aus.

Die Relevanz des Handwerks

Die Fotografie als künstlerisches Medium hat im Laufe ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte viel erlebt. Magie ging immer schon von ihr aus. Ob frühe Kunstfotografie, wie Man Ray sie betrieb, sinnliche, provokative Modefotografie à la Helmut Newton oder Fotografie als Cindy Shermans Spiel mit Inszenierung und Identität. Wozu noch malen? Die US-amerikanischen Fotorealisten eigneten sich in den 1960er/70er Jahren die Exaktheit der abgebildeten Realität mit Pinsel und Farbe an. Martin Kippenberger war einer, der in den 1980ern dann auf die derzeit wieder verpönte Malerei schiss, indem er erst recht malte. Und zwar scheiße (im Sinne von nicht altmeisterlich). Absichtlich. „Seine Bilder vom mickrigen Alltag duldeten keine malerische Idylle. ‚Schlechte Themen‘, sagt er, ,erfordern gute Malweise.‘“, schrieb Jörg-Uwe Albig in der art 7/86.

Gut, aber was ist mit der Fotografie? Welche künstlerische Relevanz hat sie in Zeiten von Pop-Journalismus, durchdesignten Lifestyle-Magazinen und tumblr? Will uns gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie etwas zeigen, was nur die Fotografie kann oder geht es rein um das, was reflektierte, weltgewandte Fotografen heute beschäftigt?

Sieht aus wie abstrakter Print, ist aber Fotografie: Digits of Light zeigt variierende schwarzweiße und bunte geometrische Muster auf kleinen ungerahmten und großen gerahmten Formaten, die Kolja Linowitzki mithilfe des Smartphones ganz klassisch analog in der Dunkelkammer erzeugt hat. Alte und neue Technik verschränken sich auf reduzierte, irgendwie poetische Weise.

Gelungen, denke ich mir, bis ich einen kleinen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand entdecke, der ein zweiminütiges Video präsentiert, in dem ich Linowitzkis Arbeitsprozess in Zeitraffer aus der Vogel-klebt-in-der-Ecke-Perspektive bewundern oder viel eher nachvollziehen kann.

Überflüssig, denke ich mir, denn das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Dokumentation seiner Arbeitsweise. Wertet das die Arbeiten auf oder ab? Genügt es nicht, dass der Betrachter die Information der Herangehensweise nachlesen kann, falls es ihn interessiert?

In diese Dokumentations-Falle können Künstler, die ergebnisorientiert arbeiten, schnell tappen. Dieses mulmige Gefühl, dass es den Werken an Überzeugung und Präsenz mangeln könnte. Diese stichelnde Sorge, dass nicht jeder die Intension verstehen könnte. In Folge der Torschusspanik zieht er oder sie das Ass der Ehrfurcht vor dem Handwerk aus dem Ärmel und hofft die Zweifel endlich zu bezwingen. Oh mann. Immerhin hätte ich das Video fast übersehen. Das hinter Digits of Light stehende Konzept ist ausgetüftelt, im Grunde jedoch simpel. Schön anzusehen sind die filigranen, komponierten Belichtungsspuren allemal.

Das Ideal der Ruhe

Unser Alltag ist anstrengend, chaotisch, vor allem ungewiss und irgendwann ist auch mal mit der ganzen Feierei Schluss – Ruhe. Wir suchen Ruhe. Die Ruhe, die einst Caspar David Friedrich malte und heute durch diverse Photoshop-Filter gejagt wird, um dann tumblr mit dem Endergebnis zu fluten. Eins mit uns selbst durch die Natur, indem wir eins mit ihr sind. Spiritualität als scheinbarer Gegensatz zum urbanen Zombieismus. Jewgeni Roppel suchte die Spiritualität auf seine Reise durch West-Sibirien. Einige Fotografien hat er gerahmt, hoch und tief gehängt, andere direkt auf die Wand geklebt. Gegenüberstellungen von Mensch und Natur. Verschmelzung von Mensch und Natur. Auch in seiner Videoarbeit gibt es Überblendungen, Überlappungen von Naturaufnahmen, vorbeiziehenden Zügen, Gesichtern und Funkenflug. Während der visuelle Part nur fünf Minuten dauert, ist der auditive Teil zwei Stunden lang. Interessante Idee! Leider habe ich keine Zeit und offen gesagt auch keine Lust, mir die wispernde, mäandernde Soundcollage vollständig anzuhören. Ob mir dabei was entgeht? Auch wenn die Stimmung im Haus der Photographie einer kathedralen Stimmung nahesteht, fällt es mir schwer, mich im Rahmen einer Ausstellung auf ein spirituelles Erlebnis einzulassen. Magnit hat Roppel seine Reihe genannt, wie eine russische Supermarktkette. Das wirft ein etwas differenziertes Licht auf die Sache.

Tellerrandgeschichten

Franz Beckenbauer hatte gar nicht mal die Unwahrheit über Katar gesagt; also zumindest laufen die Bauarbeiter dort nicht mit Kugeln an den Beinen rum. Nicht auf Gregor Schmidts brillanten Aufnahmen. Ein Airforce-Testflug, in knallgelben Overalls an der Straße stehende Arbeiter oder sich aus dem Wüstenstaub schälende Silhouetten von halbfertigen Gebäuden fangen katarische Momente einprägend ein. Die Fotografien sind irgendwie schön. Kompositorisch schön, farbig schön. Und dahinter lauert die Tristesse, der Geruch von Korruption und eingefahrenen Gesellschaftsstrukturen. Hätte FIFA und der Korruptionsskandal nicht auf dieses arabische Emirat medienwirksam aufmerksam gemacht, würden die meisten Betrachter wahrscheinlich mit Fragezeichen über den Köpfen vor Schmidts Reihe Waiting for Qatar stehen. Große, gerahmte Abzüge, die zwischen stiller, politischer Bestandsaufnahme und ästhetischer Fotografie stehen.

Auch Lars Hübner hat seinen fotografischen Fokus aufs Ausland gerichtet. Die Abzüge sind in schlichte, helle Holzrahmen gefasst; Bäume wurden entwurzelt und zurechtgedrechselt, um in Innenräumen nackt als Präsentationsmedium zu dienen… Zugegeben etwas dramatisch gedacht, doch die Rahmung unterstützt in gewisser Weise die Fotos selbst. Hier gibt es nichts weiter zu sagen. Nothing to declare thematisiert Taiwans kapitalistisch bedingte Zerrissenheit zwischen Alltag und Freizeit, zwischen Traditionen und westlichen Einflüssen. Davon gibt es leidlich viele Länder, warum speziell Taiwan? Hat Hübner eine bestimmte Bindung zu diesem Land oder einfach einen günstigen Flug erwischt? Ich muss unwillkürlich an Slavoj Žižeks Auseinandersetzung mit dem heutigen Kapitalismus denken, den ich noch unbedingt lesen will. Lars Hübner hat es bestimmt schon getan.

Kyun-Nyu Hyuns einfach betitelte und doppeldeutige Konzeptarbeit Nahrungsaufnahme dokumentiert akkurat jede ihrer vom 1. Januar bis zum 6. August 2015 zu sich genommenen Mahlzeiten. Die jeweils postkartengroßen Aufnahmen sind preiswert produziert und in strenger, mosaikartiger Anordnung auf die Wand geklebt. Abbild der Mahlzeit; Datum; Uhrzeit. Die Algorithmen der großen sozialen Netzwerke wüssten wahrscheinlich anhand dieser Datenfülle 99,9% über Hyuns Dasein. Beiläufigkeit, Transparenz und Kontrolle liegen heutzutage näher als vor der digitalen, barrierefreien Vernetzung. Andererseits brauche ich kein Algorithmus zu sein, um die Person ein gutes Stück näher kennen zu lernen, die hier freizügig ihre Mahl-Zeiten preisgibt. Die Welt war noch nie so klein wie morgen.

Hipster blättern gerne durch die NEON. Ich blättere gerne durch die NEON. Ein Zugeständnis?

Wer weiter oben konservative Kritik am üppigen visuellen Angebot einer populären Plattform gewittert hat: Nein, ernsthaft, ich mag tumblr. Ich denke, Reizüberflutung an sich ist nicht das Problem und massenhafter Bilderkonsum auch nicht. In der Regel will das niemand wirklich zugeben, der sich für etwas kritischer, kultureller oder künstlerischer hält als der Durchschnitt – aber Hand aufs Herz: Liegt das Problem vielleicht nicht eher in der Unfähigkeit einer adäquaten Bewertung? Was ist eine adäquate Bewertung überhaupt, wer bildet die Maßstäbe? Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass ich eine Ausstellung besucht habe, die im Großen und Ganzen so aussieht wie ein aufgeschlagenes NEON Heft? – Ah, richtig. In der diesmaligen Jury von gute aussichten saß auch Amélie Schneider, Bildchefin besagten Magazins.

Sie sind einfach cool, diese Fotografien in der NEON. Sie zeigen das Leben wie es cool ist und wer sich damit nicht so recht identifizieren mag, kann immerhin noch sagen, dass es gute gemachte Fotografien sind: Schön scharf mit Blitz, schön verwackelt ohne Blitz, so lässig professionell eben. Am wichtigsten erscheinen aber das Motiv und seine Inszenierung. Am besten so, dass der Betrachter gar nicht erst das Gefühl bekommt, es sei in Szene gesetzt. Hashtag Authentizität. Meine alten NEONs habe ich immer ausgeschlachtet, meistens, um aus den Bildern Collagen zu machen, die mir als Skizzen oder Ideenzunder dienen. Dadaisten wie Hannah Höch oder John Heartfield machten im Gegensatz dazu Collagen, die in die Kunstgeschichte eingingen. Maja Wirkus‘ Collagen sind schon mal durch gute Aussichten in die Deichtorhallen gekommen. Graustufige Flächen, die sich bei genauerem Hinsehen als Gebäude- oder innenarchitektonische Fragmente enttarnen. Wie bei Aras Göktens Arbeiten bin ich mir nicht sofort sicher, ob es analoge oder digitale Collagen sind. Gökten verunsichert noch mehr, denn der Unterschied zwischen Collage und Realitätsabbild ist nicht mehr auszumachen. Seine Fotografien wirken zum Teil entmenschlicht, wie unbewohnte Neubauten.

Angenommen, gute aussichten ist der Spiegel dessen, was den momentanen deutschen Zeitgeist ausmacht, der durch die Linse auf die Welt schaut – dieser Weltblick wäre genau der, der ihn in seiner Gestalt beschreiben würde: Es geht nicht mehr nicht-global. Unsere Augen sind überall, während uns als Gesamtpaket schlichtweg jegliche Kapazitäten fehlen, um überall zu sein. Wir sehen quantitativ viel mehr als die Menschen vor hundert Jahren und damit auch mehr, was uns begeistert, was uns abstößt und uns Angst macht. Die für 2015/16 ausgewählten Positionen von gute aussichten – Junge deutsche Fotografie sind so individuell wie westlich-universell. Sie zeigen nichts, was uns durch die Medien nicht schon bekannt wäre und bemühen sich zugleich um eine einzigartige Perspektive.