Es geht um gutes Essen, viel Alkohol und eine tragische Liebeserzählung. Und lange fragen sich die Leser*innen wie auch der Protagonist Tom, worauf das hinausläuft. Sicher ist: Es wird auf etwas hinauslaufen. Sonst wäre es kein Roman von Martin Suter.
Eigentlich soll der junge Jurist Tom den Nachlass des reichen und schwerkranken Dr. Peter Stotz, einst Politiker und Nationalrat, ordnen. Und dafür sorgen, dass jener nach seinem Tod noch so gesehen wird, wie er Zeit seines Lebens gern gesehen worden war. Für diesen Job hat ihm Dr. Stotz ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte. Sogar in die Villa am Zürichberg war Tom gezogen. Doch zwischen hervorragendem italienischen Essen der Köchin Mariella und regelmäßigen Drinks mit seinem Chef kommt er kaum dazu, die Papiere zu schreddern, so wie es ihm Dr. Stotz aufgetragen hat. Irgendwann interessiert Tom auch nur noch eins: die geheimnisvolle junge Frau, deren unzählige Porträts in der Villa hängen, und Antwort auf die Fragen zu finden, was mit ihr passiert ist.
Martin Suter ist für seinen schnörkellosen Schreibstil bekannt. Seine Romane funktionieren ohne große Ausschmückungen und Pomp. Jeder Satz in einem Text des Schweizer Bestsellerautors hat seine Berechtigung und eine Funktion, die sich später offenbart. Doch in seinem neuen Roman „Melody“ ist etwas anders. Ungewöhnlich detailliert und an einigen Stellen etwas langatmig werden Räume, Mahlzeiten, alkoholische Getränke und Gespräche beschrieben. So wird den Leser٭innen kein Wort vorenthalten, wenn Dr. Stotz – am Kamin sitzend mit unzähligen Drinks intus – ausschweifend von seiner Vergangenheit erzählt. Von seiner großen Liebe Melody, die kurz vor der Hochzeit vor 40 Jahren plötzlich und spurlos verschwand. Hier schiebt sich eine zweite Ebene ins Erzählte. Stotz wird zum intradiegetischen Erzähler, einem Erzähler in der erzählten Welt.
Seitenlang wechseln sich beide Welten ab – die Welt in der Villa und die Welt um die Liebe zu Melody. Und immer lauter wird die Frage, worauf eigentlich hingearbeitet wird. Denn erfahrene Suter-Leser٭innen ahnen: Auch für das Hinhalten wird es einen Grund geben. Der große Twist wird kommen, irgendwann. Doch zuvor merken sie, wie auch Tom immer ungeduldiger wird und anfängt, nachzuforschen: Er spricht mit Stotz’ Bediensteten über Melody. Er versucht, den Dokumenten etwas zu entnehmen. Er betritt private Räume, in denen er nichts verloren hat, und fliegt prompt auf. Denn das Haus hat Augen und nichts ist, wie es scheint. Das wird ihm irgendwann bewusst.
Vielleicht haben einige Leser٭innen bald eine Vermutung, wie das Ganze enden, ja, wohin der Plot führen wird. Und doch kommt es ganz anders als gedacht. Wie so oft bei Suters Romanen. Ob das überraschende Ende den vorherigen Spannungsbogen trägt, muss jede٭r Leser٭in selbst entscheiden. Sicher ist: „Melody“ ist ein runder, gut zu lesender Roman – wenn auch nicht Suters bester.
„Melody“ von Martin Suter erschien im März 2023 im Diogenes Verlag und hat 336 Seiten.
Wenn der Verlag einen Roman als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘“ ankündigt, sind die Erwartungen hoch. Es sei denn die Betonung liegt auf „eine Art“. Denn bei einem Vergleich zwischen Thomas Mann und Heinz Strunk wird man beiden nicht gerecht.
Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Aber ja, vielleicht ist er eine Art „Tod in Venedig“, dann aber auch eine Art „Die Verwandlung“ oder eine Art „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Am Schluss ist er jedoch ein Roman, der für sich und gleichzeitig ganz in der Tradition der Heinz-Strunk-Werke steht. Denn worum geht es? Es geht um die Abgründe des männlichen Seins, es geht um das Unappetitliche, es geht um menschliche Ausdünstungen, Essensmief, Körper- und andere Flüssigkeiten. Es geht um „einen eifleckigen, einen Geruch hinter sich herziehenden Freak“.
Dabei fängt er doch so sauber und geordnet an, der Plot. Anwalt Dr. Roth, 51, mitten im Berufsleben stehend, gönnt sich eine dreimonatige Auszeit zwischen zwei Jobs im schleswig-holsteinischen Niendorf an der Ostsee. Als Ortsteil der Gemeinde Timmendorfer Strand verspricht dieser Aufenthaltsort wenig Aufregung und Ruhe zum Schreiben. Genau das, was der Protagonist sucht, will er doch nichts weniger als einen Bestseller schreiben – über seine bürgerliche Familie. Diese Rechnung hat er jedoch ohne seinen Vermieter, dem Strandkorbverleiher und Spirituosenladenbesitzer Breda, gemacht. Herr Breda ist die Personifizierung von allem, was Roth verabscheut. Von allem, was Roth niemals werden will, niemals sein möchte, nie sein wollte. Doch die Langweile, die Trostlosigkeit, die Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft regelt das. Und viel zu später merkt Roth, dass seine Verwandlung bereits in vollem Gange ist.
Aber ist es wirklich eine Verwandlung? Kämpft sich da nicht eher etwas an die Oberfläche, was immer schon tief in ihm geschlummert hat? Oder ist es doch ein Befreiungsschlag aus einem Leben, das er schon lange nicht mehr leben wollte? Fest steht, irgendwas passiert mit dem Protagonisten. Und lange ist nicht klar, wohin das führen wird und was das alles in der Konsequenz bedeutet.
Währenddessen werden die Leser*innen durch den Plot geführt wie durch ein Horrorkabinett. Denn Strunk porträtiert einmal mehr den Blick seines Protagonisten auf seine Mitmenschen. Und dieser ist meist kein freundlicher, wohlwollender, sondern ein abfälliger, ein oberflächlicher, auf das Äußere reduzierender Blick: Ihre abstoßenden Gerüche werden beschrieben, ihre gelb verfärbten Achselhöhlen und ihre Haut, die die „Farbe von fauligem Obst angenommen“ hat. Das ist nicht neu, werden doch die Protagonisten (nicht gegendert, da ausschließlich männlich) in Strunks Romanen weniger über die Schilderung ihrer Gefühlswelt, ihres Innenlebens charakterisiert, als mehr darüber, wie sie die Welt um sich herum sehen, ertasten, riechen, schmecken und verurteilen. Und das ist es, was Strunks Werke ausmacht: seine sehr detailreichen Beschreibungen neben den pointierten Dialogen, die lustig und tieftraurig zugleich daherkommen.
Doch zwischen diesem Abstoßenden und Trübsinnigen gibt es einen Lichtblick in „Ein Sommer in Niendorf“: das ältere Ehepaar Klippstein. Können sie Dr. Roth retten?
Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Und auch keine Sommerlektüre im klassischen Sinne. Aber er liest sich schnell und er unterhält. Doch eines muss wirklich einmal ausführlich analysiert und diskutiert werden: das Frauenbild ins Strunks Werken. Denn auch in diesem Roman wirft es einige Fragen auf.
„Ein Sommer in Niendorf“ von Heinz Strunk erschien im Juni 2022 im Rowohlt Verlag und hat 240 Seiten.
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Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn. Mit diesem Satz ist schon vieles gesagt, ja, vielleicht alles.
Oder man geht hin und beschreibt das Bühnenbild des Aktionskünstlers John Bock, thematisiert das große Stoffgebilde mitten auf der Bühne – verziert mit unzähligen Stoffwürsten, vielleicht Zitzen, vielleicht Penisse, schwer zu sagen. Das Gebilde, das von einigen Rezensent٭innen als ruhender Elefant erkannt wurde, von anderen als undefinierbares Plüschtier, sich am Schluss aber doch eindeutig als übergroßer Kuheuter herausgestellt.
Penis & Porno
Oder man entscheidet sich für eine Rezension, in der man alle Wortwitze einflicht: Peer-fect, Peer-peroni, peer pedes, Peer-rücke. Ja, Perücken gab es einige, und Kostüme auch, aber selten mit richtiger Hose. Immer nur mit Unterhose. Überall Unterhosen. Oder halt nur Penis. Nicht Peers Penis, sondern eher Lars’ Penis. Kennt man. Und dann wären da noch die ganzen Intertextualität: Songfetzen von a-ha, Zitate von Kanye West oder Brecht.
Das zuvor bei der Buchung angekündigte pornografische Material ist dabei kaum provozierend im Gegensatz zum ekelhaften Rumgeschmier: Bier, Tiefkühlpizza, saure Gurken, Cola, Eier in einen Standmixer püriert und dann getrunken, bis einem beim Zugucken die Galle hochkommt. Aber auch nichts Neues an der Schaubühne: Hat sich nicht in Thomas Bernhards „Das Kalkwerk“ Schauspieler Felix Römer in kiloweise Eiern und Mehl selbst paniert?
Profilneurose & Publikum
Und was bleibt? Henrik Ibsens „Peer Gynt“? Ja, wahrscheinlich. Ist die Inszenierung doch ebenso weit weg wie nah dran am dramatischen Gedicht über den lügenden Bauernsohn und seine realitätsfernen Fantasiewelten. Aber ganz zum Schluss steht immer nur eines im Scheinwerferlicht: die Suche nach der eigenen Bedeutung, nach Geltung. Und eben Lars Eidinger, Lars Eidinger, Lars Eidinger und Lars Eidinger.
Hier soll aber kurz der Blick weg von ihm – sorry! – und das Licht auf jene Menschen geworfen werden, die ihm eine Bühne bauen: sein Publikum. Denn kaum erscheint er (Mist, da ist er ja wieder!) am Anfang auf der übergroßen Leinwand, sorgen einzelne Zuschauer٭innen für Irritationen. Sie zücken die Handys. Bei Konzerten bekannt, aber im Theater? Als er seine ersten Takte zum Besten gibt, filmen einige. Auch nach der Vorstellung machen ein paar Zuschauer٭innen weiter Bilder – ein Foto mit Lars Eidinger an der Bar. Eidinger, der Popstar der Theaterwelt. Und ja, es ist unmöglich, einen Absatz in einem Review eines Lars-Eidinger-Stücks zu schreiben, ohne ihn zu erwähnen. Aber ein Versuch war es wert.
Peer & Presse
In der Presse gibt es keinen Konsens. Einige loben, andere zerreißen. Viele können sich nicht entscheiden: Ist das „Taten-Drang-Drama“ nun gut oder schlecht? Oder mehr so mittel? Oder hat man selbst sie nur einfach nicht verstanden, die Inszenierung, Nebenverweise und Andeutungen übersehen? Oder war es nicht doch eher eine Performance, eine Peer-formance? Und kann man dem Ganzen mit bloßer Beschreibung des Bühnenbilds oder einzelnen Aktionen gerecht werden?
Vielleicht ist es der Reizüberflutung geschuldet, dass es gar nicht einfach ist, hier zu urteilen. Gut gespielt war es, keine Frage. Fast zurückhaltend für Eidinger-Verhältnisse. Und teilweise wirklich gute Ideen. Aber auch diese Rezension kann sich nicht entscheiden. Und so bleibt am Schluss dieser eine Satz: „Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn.“
PS: Eidinger – oder war es Gynt? – hat sich übrigens den Finger abgeschnitten. Aber kein Grund zur Sorge, es ist alles wieder dran. Weiteres ist einschlägigen Medien zu entnehmen.
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Blühende Vorgärten, Kaffeegeruch am Morgen, ein Haus im Grünen und ein toter Sohn. Der neue Roman von Sarah Kuttner Kurt beschreibt das eigentlich Unbeschreibliche.
Wie erträgt man es, wenn der sechsjährige Sohn stirbt? Wie geht man mit diesem Schmerz um? Und wie sehr darf man leiden, wie traurig darf man sein, wenn es nicht der eigene Sohn ist? Wenn man nur die Stiefmutter ist, die Mitbewohnerin, die neue Lebensgefährtin des Vaters oder was auch immer? Denn das ist Lena in Sarah Kuttners neuem Roman Kurt. Sie ist die Freundin vom großen Kurt, der seinen Sohn ebenfalls Kurt genannt hat. Und mit dem ist sie gerade erst in ein Haus nach Brandenburg gezogen – irgendwo bei Oranienburg nahe dem Stadtteil Eden. Damit sie beide näher am kleinen Kurt und seiner Mutter Jana wohnen. Sie haben im neuen Haus das Kinderzimmer eingerichtet, Bäume gepflanzt. Der kleine und der große Kurt haben Kieselsäcke in den Garten geschleppt.
Häusliches Unglück
„Und dann fällt Kurt vom Klettergerüst.“ Ein Satz, der sich erst einmal unauffällig einreiht in die Beschreibung der heilen Biedermeier-Vorstadt-Welt und des glücklichen Patchworkfamilien-Idylls. Doch dann wird es dumpf. Ja, es wird dumpf. Anders ist er nicht zu beschreiben – der Ton, in dem das Buch zunächst fortfährt. Lena liest Beerdigungsgesetzestexte und Kurt ist irgendwie nie da. Lässt Lena nicht teilhaben an seinem Schmerz. Lena lässt ihn machen und zieht für ein paar Tage zu ihrer Schwester nach Berlin. Versucht, deren Dachgarten in Schuss zu bringen. Trinkt zu viel. Dabei versteckt die Ich-Erzählerin ihre Fassungslosigkeit über den Tod des kleinen Kurts sowie die Sorge um den großen Kurt hinter flapsiger Ironie und schlagfertigen Sprüchen. Ganz in bekannter Kuttner-Manier. So kommt man nicht umher in der Protagonistin die Autorin zu sehen. Doch diese schafft es in beeindruckender Weise, den Leser٭innen das Gefühl zu geben, etwas zu unterdrücken. Da ist plötzlich irgendwas, das herauswill, aber nicht kann.
Dreck im Idyll
Ja, hier wird ein bekanntes Erzählmittel gewählt: Je glücklicher und bunter das Leben der Protagonist٭innen beschrieben wird, desto härter trifft die Leser٭innen die dramatische Wendung. Doch bei Kurt ist etwas anders: Die Vorstadt-Idylle bleibt und gaukelt vor, alles sei wie immer. Die frisch gepflanzten Bäume im neuen Garten blühen bunt, die Nachbarn grillen an warmen Abenden. Die Protagonist٭innen sind eingesperrt in ein scheinbar friedliches Landleben, das sie nur noch durch einen Schleier betrachten können. Und das auch für die Leser٭innen immer unerträglicher wird. Denn jedes erwähnte Vogelgezwitscher, jeder Sonnenstahl, jeder blühende Baum unterstreicht noch einmal: Es könnte alles gut sein. Warum hat sich der kleine Kurt beim Sturz nicht nur den Arm gebrochen?
Neue Welt
Die Leser٭innen begleiten Lena in ihrer hilflosen Sorge um ihren Freund Kurt und durch ihre Wut auf ihn, dass er seine Gefühle nicht mit ihr teilt. Bis die Protagonistin endlich zu der Erkenntnis kommt, dass auch sie ein Recht darauf hat, so zu trauern, wie es sich für sie richtig anfühlt. Aber die Leser٭innen verfolgen auch eine Beziehung, die erst glücklicher nicht sein könnte in ihrer neu entdeckten Häuslichkeit und plötzlich am Schmerz zu zerbrechen droht. Dabei schafft es Kuttner immer, den richtigen Ton zu treffen, sich jedoch eine gewisse Leichtigkeit in der Sprache zu bewahren. Und mit dieser schiebt sie Lena und den großen Kurt am Ende langsam und ganz vorsichtig zurück ins Leben. Zwar ist es nicht Eden und auch nicht die glückliche Biedermeier-Vorstadt-Welt – beides gibt es ohne den kleinen Kurt nicht mehr. Aber sie entlässt sie in eine Welt, in der sie die Trauer des jeweils anderen verstehen und in der sie sich wiederfinden können. Und endlich kann auch bei den Leser٭innen das heraus, was sich die ganze Lektüre hindurch angestaut hat: Im letzten Kapitel rollen endlich die Tränen.
Leser٭innen und Kritiker٭innen lieben den Bestsellerautor Benedict Wells. Kein Wunder, schließlich hat er immer wieder Beeindruckendes abgeliefert. Doch sein neues Werk „Die Wahrheit über das Lügen“ offenbart eine Schwäche.
Benedict Wells bezeichnet sie liebevoll als „Mixtape“ – seine Kurzgeschichtensammlung, die im August im Diogenes Verlag erschienen ist. Eine recht passende Bezeichnung, denn die zehn Geschichten zusammengefasst unter dem Titel „Die Wahrheit über das Lügen“ haben wenig gemein: Sie alle stammen aus unterschiedlichen Jahren, ihre Themen könnten verschiedener nicht sein und auch der Erzähl- und Schreibstil variiert von Geschichte zu Geschichte. Da liegt der Verdacht nahe, dass hier Material, das sich über Jahre angesammelt hat und in der Schublade gelandet ist, irgendwie mal den Weg in die Öffentlichkeit schaffen sollte. Eine gute Idee?
Kein Ende der Einsamkeit
Die Antworten auf die Frage würden so unterschiedlich ausfallen wie die zehn Geschichten selbst. Fest steht jedoch: Das, was Wells mit seinem zu Recht gefeierten Werk „Vom Ende der Einsamkeit“ gelungen ist, schafft er mit diesem Buch nicht noch einmal. Nun werden einige denken: „Naja, einen Roman und einen Erzählband kann man ja auch nicht vergleichen!“ Der Vergleich aber enthüllt einen Aspekt, der „Vom Ende der Einsamkeit“ so groß gemacht hat – und zeigt eine große Schwachstelle bei „Die Wahrheit über das Lügen“ .
Eine Anleitung zum Berührtsein
Wells ist dafür bekannt, dass er sich für das Innenleben seiner Figuren interessiert, ihre Emotionen und Gedanken erforscht – und das in Bezugnahme auf ihre Vergangenheit, ihre Erfahrungen. So auch bei „Die Wahrheit über das Lügen“. Leider neigt Wells hier dazu, zu viel zu erzählen. Ganz so, als habe er Angst, die Geschichten würden zu kurz, wenn er nicht alles von vorne bis hinten auserzählte. Dabei wäre „Hunderttausend“ – die Kurzgeschichte über einen jahrelang gereiften und nie ausgesprochenen Vater-Sohn-Konflikt – viel stärker und berührender, wenn nicht jede innere Regung des Protagonisten detailliert beschrieben und analysiert werden würde. Wells lässt hier keine Leerstellen, keinen Interpretationsspielraum für die Leser٭innen. Fast scheint es, als wolle er ihnen vorgeben, wie sie sich während des Lesens fühlen sollen.
Kitschige Outtakes
Dabei haben es die Geschichten gar nicht nötig. Denn die Plots sind so angelegt, dass die Geschichten auch mit Unerzähltem funktionieren würden – und das sogar besser. Nicht nur deswegen ist eine der besten Kurzgeschichten „Ping Pong“. Hier ist die Ausgangssituationen der zwei Figuren so wenig nachvollziehbar (Denn wie fühlt man sich wohl, wenn man von Unbekannten entführt und, ohne zu wissen warum, in eine Zelle mit einer Tischtennisplatte gesperrt wird?), dass hier die Beziehung der beiden und ihr Handeln fast wie in einer Sozialstudie im Fokus stehen. Das tut der Geschichte gut und tröstet die Leser٭innen fast über die ihr vorangegangene Geschichte „Die Muse“ hinweg.
Denn während des Lesens dieser Kurzgeschichte könnte bei den Leser٭innen der Verdacht entstehen, diese stamme gar nicht aus der Feder Wells, sondern aus der von Marc Levy. So liest sie sich fast wie Outtakes aus „Solange du da bist“. Zumal Wells hier mit altbekannten Hollywood-Motiven experimentiert und dabei fast ins Kitschige abrutscht.
Das erzählte Unerzählte
Apropos Outtakes: Zwei Kurzgeschichten – „Die Nacht der Bücher“ und „Die Entstehung der Angst“ – waren einst Teil des gefeierten Romans „Vom Ende der Einsamkeit“, wurden aber noch im Schaffensprozess herausgestrichen. Mit dem Erzählband haben sie es nun doch in die Öffentlichkeit geschafft. Aber warum? Lebt nicht eben jener Roman auch vom Unerzählten, vom Unerklärten? Davon, dass die Leser٭innen nicht die Vergangenheit von Jules’ Vater kennt? Davon, dass den Leser٭innen nicht jedes Detail bekannt ist? Ist das nicht gerade die Stärke des Romans? Vor beiden Kurzgeschichten erklärt sich Wells und ordnet sie in den Romankontext ein, macht deutlich, dass er sich von diesen Schriftstücken nicht recht trennen konnte. Das alles ist ein bisschen so, als schaue man hinter die Theaterkulissen oder bei einem Filmdreh zu. Es zerstört so manche Illusionen und schmälert ein wenig den Zauber um seinen großartigen Roman.
Das alles klingt negativer als es soll. Schließlich lesen sich die Geschichten gut. Und die namengebende Kurzgeschichte „Das Franchise oder Die Wahrheit über das Lügen“ ist ein spannendes Gedankenexperiment, bei dem Wells mit den Namen und Geschichten echter Menschen hantiert, „Mutig, mutig“, mögen da einige Leser٭innen denken.
Aber tatsächlich bleibt am Ende dann doch dieser Beigeschmack, dass der Erzählband veröffentlicht wurde, um etwas zu veröffentlichen. Und offenbart damit den fehlenden Mut zur Lücke. Der Mut, den Leser٭innen Leerstellen zu hinterlassen, die sie mit eigenen Interpretationen füllen dürfen. Und der Mut, Herausgestrichenes als das zu sehen, was es ist: etwas, das nicht erzählt werden wollte oder erzählt werden sollte, um den Zauber des Unerklärten wirken zu lassen.
Die Wahrheit über das Lügen von Benedict Wells erschien am 29. August 2018 im Diogenes Verlag und hat 256 Seiten.
Dem Sterben und dem Tod zuzusehen, war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein Volksspektakel. Doch ist es heute anders? Oder befriedigen Krimis die moderne Schaulust? Und was passiert eigentlich, wenn das bloße Zusehen nicht mehr reicht?
Tag für Tag den Ermordeten
Der Sonntagabend gehört seit Jahrzehnten den Ermordeten. Doch seit geraumer Zeit breiten sich die Leichen aus. Ein Blick ins Fernsehprogramm und in die Netflix-Bibliothek zeigt: Auch der Montag gehört den Erschlagenen, den Erdrosselten. Am Dienstag können Wasserleichen betrachtet werden. Und Vergiftete am Mittwoch, Erhängte am Donnerstag, Zerstückelte am Freitag und Verbrannte am Samstag. Neben den Todesarten unterscheiden sich die Ermordeten durch ihren Auffindungsort: Mal werden sie in Dresden aus dem Elbe gefischt, mal im dunklen Göteborg von einem Baum geschnitten. Auch das Mordmotiv und ihre Mörderinnen unterscheiden sich meist, ja, müssen sich unterscheiden, schließlich wäre sonst die Spannung dahin. Doch diese Toten haben eines gemeinsam: Ihre Körper werden von Millionen von Augen inspiziert. Ihre Leichen aus Kellerlöchern gezogen, während sich Familien eifrig die Kartoffelchips zum Mund führen. Ihre einzelnen Teile zusammengesucht, während Tausende auf Facebook und Twitter ausdiskutieren, ob ihr Tod realistisch sei oder nicht. Zwar sind das keine echten Toten und die Morde nur die Hirngespinste der Drehbuchautorinnen. Aber kann es sein, dass die Beliebtheit von Krimis aus der Lust am Betrachten von Sterben und Tod resultiert?
Hinrichtung als Volksattraktion
Dass Menschen anderen Menschen beim Sterben und im Tod zusehen, ist ein uraltes Phänomen. Schaulust lässt sich „zu allen Zeiten und in allen Kulturen finde[n]“ (Lexikon der Psychologie/spektrum.de). Man nehme als Beispiel die Hexenprozesse mit anschließenden Hinrichtungen durch den Feuertod, die noch bis ins späte 18. Jahrhundert stattfanden. Sie galten als Volksattraktion, ja, als Volksspektakel. Dafür kamen die Menschen aller Schichten, jeden Alters und Geschlechts auf den Marktplatz gelaufen. Sie schauten zu, wie Menschen unter schrecklichen Schmerzen verreckten; offenbar musste ein Bedürfnis befriedigt werden. Zu jeder Zeit spielte die Schaulust auch der Politik in die Hände. Denn öffentliche Hinrichtungen waren politisch motiviert. Sie sollten abschreckend wirken, aber auch als „symbolische Wiederherstellung der Ordnung“ und zur „Veranschaulichung des Rechtsstaats“ (Richard van Dülmen in: Theater des Schreckens) dienen.
Lustbefriedigung bei Mord und Totschlag
Zwar fanden die beiden letzten öffentlichen Tötungen dieser Art im deutschen Staat 1864 statt, der menschliche Zwang hin- und nicht wegzuschauen ist damit aber keineswegs verschwunden. Wie auch? Er gehört laut Wissenschaft zur Natur des Menschen. Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass 90 Prozent aller Menschen von einer „natürlichen Schaulust“ betroffen seien. Denn wie heißt es bei Milan Kundera? „Ich aber weiß […], dass es Blicke gibt, die kein Mensch sich versagen kann; zum Beispiel auf einen Verkehrsunfall oder einen fremden Liebesbrief“ (in: Das Buch vom Lachen und Vergessen). Und auch die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat sich in ihren Büchern über Fotografie mit diesem Phänomen beschäftigt und festgestellt, dass das Bild verstümmelter und verletzter Körper, das Bild des Abstoßenden auch etwas Faszinierendes habe (in: Das Leiden der Anderen betrachten). Dies erklärt auch die Behinderungen von Einsatzkräften bei Verkehrsunfällen durch sogenannte „Gaffer*innen“. Und kann es sein, dass in den Sozialen Medien unter Berichten zu Mord- und Totschlag mehr Interaktionen zu verzeichnen sind als unter Berichten z. B. zu politischen Themen (ausgenommen es hat irgendwas mit Geflüchteten zu tun)?
Wonnegefühle beim Zuschauen
Geht man davon aus, dass die meisten Menschen von einer natürlichen Schaulust betroffen sind, bleibt noch eine Frage: mit welchem Motiv? Was wird mit dem Schauen bezweckt? Zwischen 1920 und 1930 ging man davon aus, dass die Schaulust einem angeborenen Neugiermotiv folge. Heute gibt es andere Ansätze: So meinen einige Forscher*innen, dass mit dem Hinschauen, z. B. bei Verkehrsunfällen, nicht etwa der Nervenkitzel gesucht würde. Vielmehr würden die Schaulustigen unbewusst Informationen sammeln, um die Gefahr zu verringern, beispielsweise ebenfalls in einen solchen Unfall involviert zu werden. Andere hingegen sehen in dem Schautrieb den „unbewussten Wunsch nach Bestätigung der eigenen Unversehrtheit beim Miterleben des Leides anderer“ (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik). Der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube spricht hier von dem „Sicherheitstrieb“. Ähnliches wurde bereits in der Antike vermutet. So schreibt der Dichter Lukrez im zweiten Buch seines Werkes De rerum natura: „Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet, sondern aus Wonnegefühl, dass man selber vom Leiden befreit ist.“ Und auch bei Albert Camus findet sich diese Theorie wieder, wenn sein Protagonist Meursault in Der Fremde über seine bevorstehende Hinrichtung nachdenkt und den Wunsch offenbart, bei dieser doch nur ein Zuschauer zu sein: „Denn bei der Vorstellung, eines frühen Morgens als freier Mann hinter einer Polizeikette zu stehen, gewissermaßen auf der anderen Seite, bei der Vorstellung, der Zuschauer zu sein, der zusieht und sich hinterher übergeben kann, stieg mir eine Woge giftiger Freude ins Herz.“ Trotz der negativen Konnotation, die die Schaulust mit sich führt, ist der Soziologe Wolf R. Dombrowsky der Meinung, dass die Schaulust, ja, das Hinsehen immer auch etwas Positives in sich birgt: das Erlernen des Umgangs mit dem Unerträglichen.
Ersatzbefriedigung bei Krimis
Egal aus welchem Grund Menschen oft nicht widerstehen können, hinzuschauen, fest steht: Die „Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod“ ist ein im Menschen tief verwurzeltes Bedürfnis (Walter Serner in: Kino und Schaulust). Und ein Bedürfnis, eine Lust, will befriedigt werden. Dabei muss jedoch Folgendes beachtet werden:
„Zu allen Zeiten gab es eine Unterscheidung zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Schaulust, die daraus folgenden Normen variieren jedoch im Laufe der Geschichte und zwischen den Gesellschaften. […] Das Betrachten grauenvoller Bilder in seriösen Nachrichtensendungen […] gilt in unserem heutigen Normgefüge als durchaus akzeptabel; eher als unmoralisch das Verweilen auf einer Brücke bei einem Massenunfall.“
Krimis sind gesellschaftlich akzeptiert – keine Frage. Damit auch ihre Bilder von Gewalttaten, Mord, Totschlag, vom Sterben und von Folter. Das Hinsehen ist unbedingt erwünscht. Für die Zuschauerinnen ergibt sich durch ein solches Fernseherlebnis ein Gruseln auf Zeit. Ein kontrolliertes Ekeln, dem durch das Wiederherstellen der Ordnung, also das Fassen desder Mörders*Mörderin, ein Ende bereitet wird. Kann der Krimi also als Ersatzbefriedigung der natürlichen Schaulust betrachtet werden? „Schiebt sich ein Medium zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommen, sei es Bild oder Film, erhält die Lust am Schauen neue Begründungen (wie Lustersatz, Schadenfreude, ästhetischer Genuss)“, beantwortet das Filmlexikon der Uni Kiel die Frage. Susan Sontag geht bei der Analyse von Science-Fiction-Filmen sogar noch einen Schritt weiter:
„Eine andere Art der Befriedigung, die diese Filme bieten, beruht auf der extremen, moralischen Vereinfachung, die ihr Charakteristikum ist, das heißt, sie bieten eine moralisch akzeptable Phantasie, die als Ventil für grausame oder zumindest amoralische Gefühle dienen kann.“
Susan Sontag – Die Katastrophenphantasie
Teilhabe an Katastrophen
Dank der zahlreichen Krimifilme und -serien ist es also einfach geworden, die natürliche Schaulust zu befriedigen und unbewusst grausamen Gedanken und Phantasien ein Ventil zu geben. Eine Befriedigung kann tatsächlich jedoch nur eintreten, wenn sich die Zuschauerinnen dem Gesehenen hingeben, also wirklich hinsehen. Nur dann, wenn nebenbei keine Kartoffelchips zum Mund geführt und keine Decken gehäkelt werden. Doch das scheint oftmals gar nicht der Fall zu sein. Denn die Diskussionen auf Facebook oder Twitter, z. B. zum Tatort, verdeutlichen etwas ganz anderes: Der Krimi wird nur mit einem Auge geschaut. Fast könnte man meinen, die zerstückelten Körper, die aus irgendwelchen Kellerlöchern gezogen werden, und die kindliche Wasserleiche, die Taucherinnen in der Elbe finden, sind keine Bilder, die irgendwie verstören, schocken. Keine Bilder, die die Zuschauer*innen an den First Screen fesseln.
Hat etwa der übermäßige Konsum von Gewaltszenen und Leichenbildern zu einer Abstumpfung geführt? Muss bald etwas Härteres her? Empathielose, hetzerische und vorurteilsbehaftete Kommentare unter solchen Nachrichtenmeldungen und Fotos in den Sozialen Netzwerken prophezeien die Gefahr, dass weder die Häkeldecke noch der Second Screen weggelegt werden, wenn die Nachrichtenkanäle echte Tote zeigen. Oder hat etwa das Kommentieren solcher Meldungen die Schaulust abgelöst? Reicht das alleinige Sehen nicht mehr aus, muss es die Teilhabe an einer Katastrophe sein, damit sie spürbar wird? Zumindest würde dies bei realen Katastrophen die Muster von Twitter-Debatten oder den Drang einiger Menschen erklären, zu filmen oder zu fotografieren. Sie selbst werden damit zu Schausteller*innen des Leids.
Der neue Roman von Bernhard Schlink „Olga“ ist vieles. Doch am meisten eine Liebesgeschichte. Aber wie muss Liebe eigentlich beschrieben sein, damit die Leser*innen sie nachfühlen können?
Olga liebt Herbert. Bis zum Schluss. Obwohl diese Liebe die meiste Zeit nur in Form von Sehnsucht existiert. Sehnsucht, die von Erinnerungsfetzen und die Hoffnung auf ein Wiedersehen genährt wird. Denn während es Olga mithilfe von Fleiß und Willensstärke zu einer Anstellung als Lehrerin im preußischen Memelland schafft, packt den Gutsbesitzersohn Herbert regelmäßig die Abenteuerlust. Dann kämpft er fürs Deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg oder begibt sich auf Forschungsreisen. Und verlässt Olga – wieder und wieder. Bis er nicht mehr wiederkommt.
„Dass sich Olga und Herbert ineinander verliebten“
Bernhard Schlinks Roman „Olga“ ist vieles: Eine Roman über die deutsche Geschichte vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert, ein Portrait einer Frau, eine Erzählung über eine generationsübergreifende Freundschaft und eine Liebesgeschichte. Das alles kennen wir bereits von Schlink. Doch eines fehlt: die Erotik, wie sie im Welterfolg „Der Vorleser“ thematisiert wird. Fast scheint es, als ginge es ihm in seinem neuen Werk weniger darum, eine körperliche als eine tiefe gedankliche Liebe zweier Menschen zu beschreiben. Doch diese Liebe bleibt merkwürdig blass. Warum ist sie für die Leser*innen so wenig nachvollziehbar? Vielleicht liegt es an der Sprache, die nicht den richtigen Rhythmus und nicht den richtigen Ton findet: Mal plätschert das Erzählte nüchtern dahin, mal schlägt es ins Extreme aus. Kommt ins Schwärmen, als müsse sie bewiesen, ja, gerechtfertigt werden, die Liebe zwischen Olga und Herbert.
„Ich bin schon wieder bei dir, Herbert.“
Vielleicht liegt es aber auch an der Wahl der Erzähler. So wie der Roman aus drei Teilen besteht, so gibt es drei Perspektiven. Im ersten Teil beschreibt ein auktorialer Erzähler Olgas Geschichte bis kurz nach ihrer Flucht von Ostpreußen nach Heidelberg. Hier erfahren die Leserinnen viel über den Verlauf ihres Leben, aber kaum etwas über ihr Innenleben. Und Herbert? Auch seine Innenwelt bleibt den Leserinnen verschlossen. Zwar gibt er vor Olga zu lieben und besucht sie zwischen seinen Reisen bis zu seinem Verschwinden, aber wirkt aufgrund seines Handelns fast desinteressiert. Ist es das, was die Liebe für die Leser*innen wenig nachfühlbar macht? Dass Herbert kein Sympathieträger ist? Vielleicht. Aber auch Olga ist unnahbar, ja, die Figur eindimensional. Denn was bleibt von ihr, wenn die Liebe zu Herbert herausgestrichen würde? Nicht viel.
„Sie erzählte, wie Herbert und sie umeinander warben und zueinanderfanden.“
Aber zum Glück gibt es noch einen zweiten Teil. Und als habe der zunächst noch junge Ferdinand schon ungeduldig darauf gewartet, endlich zu Wort kommen zu dürfen, bricht mit ihm Lebendigkeit aus. Hier gelingt es Schlink auf beeindruckende Art, den männlichen Protagonisten und die Freundschaft zwischen ihm und der nun in die Jahre gekommenen Olga mithilfe eines Ich-Erzählers so authentisch zu beschreiben, als handele es sich um ein autobiografisches Erlebnis. Ferdinand, bis ins Erwachsenenalter und noch lange nach ihrem Tod fasziniert von Olgas Liebe zu Herbert, macht sich auf die Suche nach ihren Briefen. Und wird fündig. Doch die Spannung, die kurz auflodert, erlischt im dritten Teil: Hier wird das Innenleben Olgas, das im ersten Teil fehlt, in Form von Briefen an den verschollenen Herbert offengelegt. Und ja, die Leser*innen erfahren Neues und können im ersten Teil entstandene Leerstellen schließen. Aber wirkliche Überraschungen sind es nicht.
„Dann fragt ich sie, warum sie nach Herberts Tod keinen anderen genommen hat.“
Aber noch etwas wird in den Briefen deutlich: Olga existiert nur, weil die Gedanken an Herbert sie existieren lassen. Der Roman ist kein Portrait einer unabhängigen Frau im 19. bis 21. Jahrhundert, was er hätten werden können, sondern zeichnet eine Frau, die nur für einen Mann lebt. Damit hinterlässt er kein Gefühl von Ergriffenheit über diese bedingungslos anhaltende Liebe, sondern ein Gefühl von Wut. Darüber, dass die kurz aufkeimende Hoffnung, Olga könnte sich doch noch abwenden, sich von der Macht Herberts befreien und sich dem von ihr angetanem Kollegen zuwenden, enttäuscht wird. Darüber, dass diese Frau ein einsames Leben voller Warten aufgrund eines Mannes führt, der nie zu Kompromissen bereit war. Somit lässt sich die Frage, wie Liebe im Roman beschrieben sein muss, damit sie nachfühlbar wird, einfach beantworten: Sie darf nicht zu gewollt, nicht zu erzwungen sein. Sie darf nicht wütend machen.
„Olga“ von Bernhard Schlink erschien am 12. Januar 2018 im Diogenes Verlag.
Ob Journalist*innen, Wikipedia-Beitrag-Schreiber*innen, Sprachforscher*innen, AfD-Anhänger*innen oder vermeintliche Erfinder*innen des Wort „Gutmensch“ – alle haben mindestens einen der folgenden Fehler begangen. Und die haben ihre Folgen.
Wer das Wort „Gutmensch“ bis 2015 nicht kannte, der wünscht sich schon jetzt, es wäre nie erfunden worden. Denn durchtrieft von gehässiger Ironie dominiert es die Sozialen Medien, wenn es um „das Flüchtlingsthema“ geht. Gerne wird es gemeinsam mit den Wörtern „Bahnhofsklatscher“ oder „Teddywerfer“ verwendet. Erfunden für die Menschen, die die ersten Geflüchteten an Bahnhöfen herzlich begrüßten.
1. Fehler: Den „Schlechtmensch“ dem „Gutmensch“ vorziehen
Aber nein, „Gutmensch“ ist kein Kompliment. Als Schimpfwort – besonders für Menschen, die sich für Geflüchtete einsetzen – benutzt, stempelt der*die Verwender*in Hilfsbereitschaft und Political Correctness als naiv und weltfremd ab. Denn indem „Gutmenschen“ helfen, würden sie ihrem Land, ja, Deutschland, schaden. Anwendungsbeispiel sind zuhauf z. B. auf der Facebookseite der AfD zu finden. Die Beschimpften wehren sich: „Lieber ein Gutmensch als ein Schlechtmensch!“ oder „In was für einem Land leben wir, in dem ‚Gutmensch‘ als Schimpfwort gilt?“ Gute Frage: Können sich die Verwender*innen sicher sein, dass sie jemanden mit einem Wort, das sich aus „gut“ und „Mensch“ zusammensetzt, beleidigen?
2. Fehler: Nach Nietzsche und den Nazis fragen
Um das herauszufinden, muss man die Herkunft des Wortes „Gutmensch“ untersuchen. Und das ist nicht einfach: Denn das 2011 auf den 2. und 2015 auf 1. Platz gewählte Unwort des Jahres wird mal auf Friedrich Nietzsche, mal auf die Nationalsozialisten zurückgeführt. Zwar kritisiert Nietzsche den „guten Menschen“, verwendet das Wort „Gutmensch“ aber nicht. Ebenso verhält es sich mit der Behauptung des Journalisten Jürgen Hoppe:
„Erstmals findet sich das Wort als Bezeichnung für die Anhänger von Kardinal Graf Galen, die gegen die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ […] gekämpft haben. Nicht klar ist, ob der Begriff von Josef Göbbels oder Redakteuren des ‚Stürmer‘ 1941 ersonnen worden ist. ‚Gutmensch‘ geht auf das jiddische ‚a gutt Mensch‘ zurück, womit von den Nationalsozialisten auch ein Bezug zu den ‚lebensunwerten‘ Juden hergestellt werden sollte. (In: Memorandum zur Initiative Journalisten gegen Rassismus, 27. März 2006)
Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung prüfte den als Beleg angeführten „Stürmer“-Beitrag und schlussfolgerte, dass die „dortige Rede vom ‚guten Menschen‘ […] eine andere Bedeutung“ als „Gutmensch“ habe. Das Wort „Gutmensch“ selbst taucht im genannten Beitrag gar nicht auf.
3. Fehler: „Goodman“ und „bonhomme“ übersetzen
Ein weiterer Ansatz ist es, die Herkunft des Wortes in anderen Sprachen zu suchen: „Bonhommes“, auf deutsch „Gutmenschen“, nannten sich die Katharer, die französischen Ketzer des Mittelalters. Heute kann „bonhomme“ mit „Gentleman“ übersetzt werden. Glaubt man der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. (GfdS), so stammt ihr „Erstbeleg zu Gutmensch […] aus dem Jahr 1985“. In der US-amerikanischen Zeitschrift Forbes sei der damalige Gewerkschafter Franz Steinkühler als ein solcher bezeichnet worden. Ob er tatsächlich „Gutmensch“ oder „goodman“ genannt wurde, ist der Erklärung der GfdS nicht zu entnehmen. Allein die Erläuterung „[i]m Englischen existiert goodman […] auch im ironischen Sinne“, aber es sei „spekulativ, hier eine Verbindung zum deutschen Sprachgebrauch zu sehen“, lässt vermuten, dass die Forbes „goodman“ und nicht „Gutmensch“ verwendete.
4. Fehler: Nach einem „Gutmann“ und einem „Gutweib“ suchen
Und dann gibt es noch jemanden, der bei solchen Fragestellungen nicht fehlen darf: Johann Wolfgang von Goethe. Doch richtig fündig wird man auch bei ihm nicht. Zwar schrieb er die Ballade Gutmann und Gutweib, benutzte „Gutmensch“ jedoch so oft wie Nietzsche. Also gar nicht. Im Wörterbuch der Brüder Grimm ist ebenfalls „Gutmann“ gleichbedeutend mit „gutmütiger Mann“ und „Edelmann“ aufgeführt, „Gutmensch“ ist aber auch hier nicht zu finden. Und aus gleichem Grund kann Brechts Werk Der gute Mensch von Sezuan ignoriert werden.
Kann es sein, dass die Herkunft des Wortes dort gesucht wird, wo es gar nicht auftaucht?
5. Fehler: Sich für den*die Erfinder*in des „Gutmenschen“ halten
1997 behauptet der Merkur-Mitherausgeber Kurt Scheel in der Frankfurter Rundschau, er sei Schöpfer des Wortes und stellt klare Regeln zum Gebrauch auf:
„Als Erfinder des Wortes Gutmensch – es stand zum ersten Mal 1992 im Januarheft des ‚Merkur‘ – möchte ich darauf hinweisen, daß es nur ‚als süffisante, Heiterkeit erzeugende Bemerkung angesichts eines berufsmäßigen Moralisten‘ benutzt werden darf.“ (Frankfurter Rundschau, 19.11.1997, S. 16)
1998 erscheint dann Klaus Bittermanns Wörterbuch des Gutmenschen, in dem „Betroffenheitsjargon und Gesinnungskitsch“ aufgedeckt werden sollen. Schließlich hat sich der Terminus „Gutmensch“ seit Mitte der 1990er-Jahre in politischen Debatten – gehäuft auch in den Medien – etabliert, um politische Gegner als moralisierend zu kritisieren. Deswegen wird es auch 2004 in Neuer Wortschatz: Neologismen der 90er Jahre im Deutschen aufgenommen „Gutmensch“ soll also ein Neologismus der 1990er sein? Das Wort soll es erst seit den 90er Jahren geben? Bei aller Liebe, das ist abwegig. Denn wie auch die GfdS klarstellt, „das grammatische Muster […] [existiert] im Deutschen seit Jahrhunderten […] – man denke nur an Gutgeld […] oder Gutmann“. Trotzdem ist es der GfdS „nicht möglich, den Ausdruck genau zu datieren und einem bestimmten Urheber zuzuordnen.“
6. Fehler: Nach dem Begriff und nicht nach dem Wort „Gutmensch“ fragen
Warum ist es so schwer, den Ursprung des Wortes „Gutmensch“ zu eruieren? Weil ein Fehler gemacht wird bzw. gemacht wurde. Und das bei allen Diskussionen rund um „Gutmensch“ – egal, ob von der Welt oder der Süddeutschen Zeitung o. ä. Ja, auch der selbsternannte „Erfinder des Wortes Gutmensch“ Kurt Scheel hat ihn begangen und auch die GfdS:
Es wird nicht zwischen „Wort“, „Terminus“ bzw. „Ausdruck“ und „Begriff“ unterschieden. Denn es ist etwas völlig anderes, ob man nach der Herkunft des Wortes, Terminus’ und Ausdrucks „Gutmensch“ fragt oder nach der Herkunft des Begriffs. Im zweiten Fall geht es um den Ursprung der heutigen Bedeutung, also um die ironische Verwendung, nicht aber um das Wort selbst. Natürlich ist es der GfdS „unmöglich, den Ausdruck genau zu datieren“. Wie sollte sie auch? Schließlich hat sie gar nicht nach der Herkunft des Ausdrucks, sondern nach dem Ursprung der heutigen Bedeutung gefragt. Und es kann zwar sein, dass Journalist Kurt Scheel den Begriff in den 90ern geprägt hat. Er ist aber auf keinen Fall der „Erfinder des Wortes Gutmensch“, so wie er sich selber betitelt.
7. Fehler: Nicht zu weit in der „Gutmensch“-Vergangenheit wühlen
Denn das Wort selbst ist um einiges älter. Und dafür muss man nicht das französische „bonhomme“ bemühen. Auch Belege, die in einen Artikel der Welt angeführt werden, reichen nicht weit genug zurück: Etwa das Zitat von 1870 aus der Zeitschrift Deutscher Sprachwart: „Wo ein besonderer Mensch bezeichnet werden soll, da bedarf der allgemeine Menschenname […] noch der Hinzufügung eines besonderen Prädikats. Athil-a, Edelmensch, Oth-o, Gutmensch.“ Oder in Gustav Karpeles 1890 erschienenen Fassung von Briefe an eine Jungfrau über die Hauptgegenstände der Ästhetik , in der es heißt: „Wird nicht ein solch unberatener Gutmensch für seine unbedingte Menschenliebe verlacht, für einen Thoren von der ganzen Welt gehalten werden und ein Opfer seiner Schwäche sein?“ Auch wenn sich das zweite Zitat wie eine weise Vorahnung zur aktuellen Dialogkultur liest, einer der ersten zu findenden Belege für den Wortgebrauch von „Gutmensch“ ist es nicht.
8. Fehler: Nicht davon ausgehen, dass „Gutmensch“ etwas Gutes bedeutet
Denn um nur zu erahnen, dass das Wort lange vor dem 20. und auch vor dem 19. Jahrhundert existierte, reicht ein Blick in die Bibel, nämlich in die Dietenberger-Übersetzung. Sie gilt als eine der katholischen Gegenbibeln zur Lutherbibel, einer sogenannte „Korrekturbibel“. Hier heißt es z. B. in der Ausgabe von 1603:
„Ein gutmensch bringt guts herfur auß seinem gutem schatz : vnd ein böß mensch bringt böses herfur auß seinem bösen schatz.“
Zwar schreibt Luther in seiner Übersetzung „Denn ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus seinem Schatz des Herzens“, nichtsdestotrotz nutzt Dietenberger explizit das Wort „gutmensch“. Denn im Gegensatz zu „gutem Schatz“ ist „gut“ bei „gutmensch“ nicht gebeugt. Und tatsächlich wird hier eine weitere wichtige Frage beantwortet: Denn das Gegenteil von „Gutmensch“ war ursprünglich nicht „Schlechtmensch“, sondern „Bösmensch“. Der Ursprung des Wortes „Gutmensch“ hingegen scheint noch weiter zurückzuliegen. So heißt es in der Schrift „Ewangelia vnnd Epistel teutsch vber das gantz jar“ von 1523:
„Der gut mensch von dem gutten Schatz/redt er guts/Vnd der böß mensch von dem bösen Schatz redt er böse ding.“
Kann es also sein, dass „Gutmensch“ im 16. und im 17. Jahrhundert positiv konnotiert war? Dass jene ganz unironisch und ohne jeglichen Spott als „Gutmenschen“ geschimpft wurden, die im christlichen Sinne Gutes redeten und hervorbrachten?
9. Fehler: „Gutmensch“ als Schimpfwort verwenden
Sieht ganz danach aus. Welche Ironie der Begriffsgeschichte, dass jene, die plötzlich ihren christlichen Glauben wiederentdecken und ihn vor der „drohenden Islamisierung“ retten wollen, meinen, andere mit dem Wort „Gutmensch“ zu beleidigen. Denn nach den oben aufgeführten Belegen, ist es im Christentum ja sogar erstrebenswert, ein Gutmensch zu sein. Hingegen tragen die „Gutmenschen“-Schreier*innen nichts zum friedlichen Miteinander bei. Sie stören es sogar noch, indem sie meckern, hetzen und verspotten – ja, eben „böse Dinge reden“, weil sie sich benachteiligt fühlen. Aber um sie, die Bösmenschen, im „Gutmenschen“-Schreien zu entschuldigen: Sie werden die Luther- und nicht die Dietenberger-Bibel gelesen haben. Wer hat das schon? Und in ihrer Unwissenheit werden sie weiterhin mit arroganter Überheblichkeit glauben, „Gutmensch“ sei ein Schimpfwort.
10. Fehler: Gutmenschen mit Spott begegnen
Und dagegen kann man nichts tun, außer es hinzunehmen, sich für die Bezeichnung zu bedanken und so zu versuchen, dem Wort seine ursprüngliche positive Konnotation wiederzugeben. Patrick Orth, der Manager von Die toten Hosen, hat schon einen ersten Versuch gestartet und sich 2014 die Wortmarke „Gutmensch“ schützen lassen. Nun sind T-Shirts mit dem Spruch „Gutmensch – No one likes us. We don’t care!“ erhältlich. Ein Schritt in die richtige Richtung. Denn rückblickend betrachtet hat der Bedeutungswandel des Wortes nichts Gutes hervorgebracht. Mit ihm wurde es möglich, Toleranz, Mitgefühl, Hilfe und das Kämpfen für ein friedliches Miteinander mit gehässiger Ironie und Sarkasmus zu begegnen. Und wer möchte heutzutage im Jahr 2018 bei der aktuellen Dialogkultur noch mit Stolz behaupten, er*sie sei der*die Erfinder*in des Begriffs gewesen? Niemand.
Ganz still und dunkel war es um ihn – eine lange Zeit. Nun erzählt Gisbert zu Knyphausen auf seinem neuen Album Das Licht dieser Welt, das am 27.10. erscheint, von dieser langen Nacht und dem Morgen danach.
Er ist einer der sympathischsten Freiherrn Deutschlands. Und das nicht nur, weil er jährlich zum „Heimspiel Knyphausen“-Festival auf dem Weingut seiner Familie einlädt, sondern weil er es ohne großes Geklotze und aus ehrlicher Freude tut. Da man bei einem Freiherrn nicht so viele Vergleichsmöglichkeiten hat, kann man ruhig noch weitergehen: Der Freiherr zu Knyphausen ist einer der besten, aber auch einer der sympathischsten deutschen Liedermacher. Das kann jede*r bestätigen, die*der ihn einmal live erleben durfte. Denn wenn jemand ein großartiges Konzert im vollen Clubraum des Union-Berlin-Stadions abliefert, obwohl er kurz zuvor noch an Durchfall erkrankt war und sich dann zurückhaltend grinsend um Kopf und Kragen redet, weil er feststellt, dass das vielleicht doch eine etwas zu intime Information für die vielen unbekannten Gesichter im Publikum ist, dann ist das sympathisch.
„Wie es wird, kann nur der bucklige Winter entscheiden“
Sowieso war das besagte Konzert an einem unglaublich dunklen, kalten und verschneiten Januarabend 2017 in Berlin etwas Besonderes: Zu der Aufrichtigkeit mischte sich Dankbarkeit. Auf beiden Seiten. Das Publikum war dankbar, nach so langer Zeit wieder etwas von Gisbert zu Knyphausen hören zu dürfen. Überall wurde freudig getuschelt: „Oh, das ist mein Lieblingslied… ach, nee … das ist ein anderes. Aber das ist auch so schön!“ Und während er spielte und sang, so andächtig, traute sich kaum jemand zu atmen. Und Gisbert zu Knyphausen war sichtlich erleichtert und dankbar, einige seiner neuen Songs präsentieren und sein neues Album ankündigen zu können. Das sagte er dann auch so.
Vor sieben Jahren war sein zweites Album Hurra! Hurra! So nicht. erschienen. Dann hatte er mit Nils Koppruch die Band Kid Kopphausen gegründet und 2012 das erste und leider letzte Album herausgebracht.
„Nils’ Tod kam vollkommen unerwartet, ein totaler Schock. Unser Album war gerade erst erschienen, wir hatten die ersten Konzerte gegeben, hatten einen Riesenspaß und Pläne für das ganze Jahr – und dann das … Sein Tod war ein großer persönlicher Verlust, auch beruflich stand ich danach erstmal vor dem Nichts. Ich beschloss, eine längere Auszeit zu nehmen, um Luft zu holen“, reflektiert er.
Er reiste viel – nach Russland, in den Iran, nach Albanien und Südfrankreich. Er las das Märchen Der Froschkönig für eine CD ein, spielte Bass in der Band von Olli Schulz und nahm mit Moses Schneider und Der dünne Mann als Band Husten eine EP auf. Und nun ist es endlich da, sein drittes Album Das Licht dieser Welt, das bereits Anfang des Jahres von der gleichnamigen Single angekündigt wurde.
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Hat sich die Melancholie jetzt ins Knie gefickt?
„So viel Lachen, Freude, Wunder? Und so eine fröhliche Gitarrenmelodie, eine lustige Trompetenpassage, zu der Gisbert zu Knyphausen heiter pfeift? Steht ihm zwar auch. Aber wo ist denn die ganze Melancholie hin?“, fragten sich sicher einige Fans, als sie den Song Das Licht dieser Welt das erste Mal hörten, der als Titellied für den Kinderfilm Timm Thaler diente und im Radio hoch- und runtergespielt wurde. Keine Angst, wenn man genau hinhört, ist er noch da, der Weltschmerz. Und auch all die anderen Themen, mit denen sich Gisbert zu Knyphausen in seinen ersten Alben beschäftigte, sind auf seinem neuen Album zu finden:
„Sonnige Grüße aus Khao Lak, Thailand […] handelt von der Einsamkeit eines älteren Mannes in einer Großstadt […]. Das Licht dieser Welt ist […] eine Liebeserklärung an jede neue Existenz. Kommen und Gehen handelt vom Sterben, Stadt Land Flucht vom Suchen, Dich zu lieben von der Liebe […] und in Cigarettes & Citylights geht’s um die rasende Sehnsucht danach, endlich irgendwo anzukommen.“
Tino Hanemann
Weltschmerz, Einsamkeit, Liebe, Sehnsucht, die Suche nach einer Heimat, das Fernweh – alles Motive der Romantik. Ja, zu recht kann behaupten werden, Gisbert zu Knyphausen ist ein Romantiker der alten Schule durch und durch, schließlich ist er „Freund von Klischees und funkelnden Sternen“ (aus Freund von Klischees). Klingt negativ? Klingt nach Kitsch? Könnte man meinen. Besonders weil er in seinen neuen Liedern mit sanfter Stimme vom „Mondlicht“, einem „weitgesäumten Himmelszelt“, vielen „funkelnden Sternen“, „leise rauschendem Wind“, „Lächeln“, einem „Fenster mit Aussicht aufs Meer“, einem „hellblauen Himmel“, küssenden Pärchen und von ganz viel „Licht“ singt. Nein, das ist nicht kitschig – ganz im Gegenteil.
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„Die Welt ist grässlich und wunderschön“
Denn was ist Kitsch? Kitsch ist trivial, unaufrichtig. Kitsch blendet die Schattenseiten und das Wirkliche aus, wie man es zum Beispiel aus dem Schlager kennt. Und Gisbert zu Knyphausen ist nicht nur auf der Bühne und in seinen Texten ehrlich. Er kann auch etwas, das nur sehr wenigen Singer-Songwritern gelingt. Er bricht diese romantischen Motive, er spielt mit den Bildern: Ja, da liegen sich Unter dem hellblauen Himmel ein Junge und ein Mädchen im Arm, aber es werden auch die Stecker der Geräte eines Kranken gezogen. Und wenn jemand über den Strand schwebt, dann ist er „umnebelt von Whiskey“ und sieht dabei aus wie „eine eiernde Frisbee“ (aus Stadt, Land, Flucht). Und dann fängt nunmal ein hellblauer Tag ohne das süße Mädchen an, denn es „lag tot in Mutters Arm“ (aus Kommen und Gehen). Schließlich war „[d]iese Welt […] nie gerecht und das Glück hält nie lange an“ (aus Kommen und Gehen).
Mit seinen Texten erschafft er Bilder, die ganz plötzlich dunkel werden, wie in Kommen und Gehen. Aber auch Bilder, die mal dunkel waren und wieder hell werden, wie in Dich zu lieben, Sonnige Grüße aus Khao Lak, Thailand und Teheran Smile. Und unvollkommene Bilder, die jede*r für sich selber weiterdenken muss, wie in Niemand, Stadt Land Flucht und Keine Zeit zu verlieren. „Die Lieder handeln von der ewigen Sinnsuche, dem Nicht-einfach-nur-sein-Können, vom Tod und dem Umgang damit, und wie man es schafft, mehr Licht und Optimismus in sein Leben zu lassen“, beschreibt er selbst das Album.
„Und jetzt schau nicht so gequält – das sieht scheiße aus!“
Aber waren seine Songs nicht immer schon angesiedelt zwischen „Die Welt ist nicht fair“ und „Jetzt jammer doch nicht immer so rum!“? Man erinnere sich an sein Lied Spieglein Spieglein seines ersten Albums, in dem er bissig fragt: „Glaubst du du bist so interessant, wie du dich suhlst in deinem Schmerz? Blablabla!“ Wieder ein Spielen – ein Spielen mit der Grenzen zwischen Melancholie und Selbstmitleid. Der Grenze zwischen verzweifeltem Pessimismus und ja, was eigentlich? Optimismus? Klar, ist jedenfalls mit seinen lyrischen Ichs und lyrischen Dus, die immer noch etwas Zuversicht in sich tragen, geht er nicht so hart ins Gericht wie mit jenen, die in Selbstmitleid zerfließen. Auch auf dem neuen Album ist ab und zu mal ganz leicht dieser bissiger Ton zu hören. Etwa wenn er singt: „Du willst eine verlorene Seele sein, obwohl du ahnst, damit bist du nicht allein.“ (aus Keine Zeit zu verlieren). Oder wenn er seinen Protagonisten als „elend wankende[n], am Wohlstand erkrankender[n] Mann“ (aus Stadt Land Flucht) beschreibt. Doch mit genau diesem ganz leichten Zynismus schafft es Gisbert zu Knyphausen, die Situationen seiner Figuren noch ein Stück bitterer darzustellen.
„You’re digging a new hole, that you can crawl in and then call it your home“
Und das ist neu. Gisbert zu Knyphausen zeichnet in fast allen neuen Songs Figuren und bedient sich ihrer Gefühle: „Überwiegend über mich zu singen, schien mir ermüdend, außerdem hatte ich auf den ersten beiden Alben schon so vieles gesagt, das ich nicht noch einmal durchkauen wollte. Darum der Wechsel der Perspektive, die Hinwendung zu den Geschichten anderer Leute, die Erweiterung des Themenspektrums“, begründet er diese Entscheidung. Die beiden englischen Songs seien ebenfalls aus künstlerischer Neugierde entstanden. Und musikalisch? Auch hier hat er sich neuer Ausdrucksmöglichkeiten bedient. Neben der gisbertesken Gitarre haben sich neue Instrumente und damit auch ein neuer, an einigen Stellen für Gisbert zu Knyphausen außergewöhnlich wuchtiger Sound untergemischt: Bläser sind zu hören, eine Ukulele, eine E-Gitarre und ein -Bass, ein Vibraphone, Synthesizer und Klavier. Das letzte Stück des Albums Carla Bruno ist sogar ausschließlich instrumental, ein Klavierstück.
„Aber wir sehen uns wieder – ganz bestimmt – irgendwann“
Bevor Gisbert zu Knyphausen seine Zuhörer*innen jedoch in das Klavierstück, ins letzte Lied, entlässt, macht er noch einmal mit einem Zitat aus dem Märchen Die Bremer Stadtmusikanten deutlich, worum es wirklich geht: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall“, zum Beispiel im U-Bahn-Schacht, auf der Linksabbieger-Spur und in der Hosentasche. Und dabei plätschert der Song so leicht, humorvoll und unschuldig dahin. Ein Song, den Nils Koppruch begonnen und Gisbert zu Knyphausen nun beendet hat. Aber die letzte Stimme des Albums ist nicht seine eigene, sondern die seines verstorbenen Freundes.
Das Licht dieser Welt ist ein aufrichtiges und damit wahnsinnig berührendes Album. Denn auch wenn Gisbert zu Knyphausen die Geschichten anderer erzählt, so ganz glaubt man ihm nicht, dass er nicht weiß, wovon er da spricht. Er breitet textlich wie musikalisch die gesamte Gefühlspalette aus, um sie dann leise wieder zusammenzurollen – und beweist damit einmal mehr sein großartiges Können.
Und nun sollte man ein Glas Weißwein vom Weingut Baron Knyphausen heben. Darauf, dass „wir alle hier sind, obwohl uns niemand braucht“ (aus Keine Zeit zu verlieren) und jede*r für sich lernen muss, ein Niemand zu sein. Darauf, dass es ganz plötzlich ganz dunkel werden kann. Dass aber – auch wenn es schwer zu glaube ist – immer ein neuer Morgen anbricht – mit viel Licht. Und dass dann vielleicht jemand da ist, der Frühstück macht. Auf das Leben, auf die Liebe, auf das Licht, auf den Pathos, der keiner ist, aber mal einer sein darf – zumindest, wenn er von einem der sympathischsten Freiherrn Deutschlands kommt.
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Alle Zitate in den Überschriften stammen aus Liedern von Gisbert zu Knyphausen.
Das Wort „Mädel“ ist im Sprachgebrauch (wieder) fest verankert. Und das, obwohl bereits aus guten Gründen versucht wurde, es aus dem deutschen Wortschatz zu streichen.
Heidi Klum spricht in den höchsten Tönen von ihren „Mädels“. Jüngst präsentierte der Focus „die besten Filme für den perfekten Mädelsabend“. Und ein Buchholzer Kaufhaus findet, dass sein Shoppingevent mit dem Titel „Mädelsabend“ ein „großer Erfolg“ war. Das Wort „Mädel“ ist gänzlich im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. Aber wer sind diese „Mädels“?
Freigegeben ist Platz sechs der besten „Mädelsabendfilme“, Fifty Shades of Grey, ab 16 Jahren. Heidi Klums Model-Anwärterinnen müssen ebenfalls das 16. Lebensjahr vollendet haben. Und Minderjährige sind nur bedingt geschäftsfähig, sodass sie bei großen Shoppingevents wohl kaum Zielgruppe Nummer eins sind. Nein, mit „Mädels“ sind hier ganz offensichtlich keine Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren gemeint. Angesprochen werden Frauen – mehr oder weniger volljährig, aber doch Frauen.
Wann und warum der Trend aufgekommen ist, als erwachsene Frau „etwas mit seinen Mädels zu machen“, ist schwer nachzuvollziehen. Umso wichtig ist es, ihn zu hinterfragen.
„Meine Mädel verstehn’s Handwerk, wie man zu Männern kommt.“ – F. Müller
Man stelle sich vor, Heidi Klum würde statt von ihren „Mädels“ von ihren „Schlampen“ sprechen. Dann wäre das Geschrei aber groß. Auch das Buchholzer Shoppingevent wäre wohl kein großer Erfolg gewesen, wenn dieser Begriff vorherrschen würde. Zugegebenermaßen, diese Bedeutung des Wortes „Mädel“ ist weit hergeholt – nämlich aus der deutschen Sprachgeschichte.
„Mädel“ stammt wie „Mädchen“ von „Magd“ ab. Während im norddeutschen Sprachgebiet das Wort „Mädchen“ verwendet wurde, so war im süddeutschen Raum das Wort „Mädel“ geläufig. Doch ab dem 18. Jahrhundert tauchte „Mädel“ plötzlich auch in norddeutschen Texten auf. Und wie kommentiert das Wörterbuch der Brüder Grimm diese Wendung?
„[W]ährend mädchen der edeln sprache zufällt, bleibt mädel überall auf die trauliche und niedrige rede beschränkt.“ [Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961]
„Mädel“ ist in dieser Zeit keineswegs positiv konnotiert, sondern beschreibt abfällig Frauen, die wüssten, „wie man zu Männern kommt“, [F. Müller: Adams Erwachen und erste selige Nacht] und „bei drei vier kerls liegen und sie eben der reihe herum lieb haben“ [J. W. v. Goethe: Götter, Helden und Wieland] könnten. Auch wenn der Dichter Johann W. L. Gleim das Wort „Mädel“ als Synonym für „junge Frau“ verwendete, er tat es, so urteilt das Grimm-Wörterbuch, „ohne dasz ihm der sprachgebrauch dazu irgend welches recht gegeben hätte“.
„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?“ – Goethe
Die Vergangenheit des Wortes hinterlässt einen üblen Nachgeschmack. Aber abgesehen von der Bedeutung der „leicht zu habenden Frau“: Ist es nicht auch beunruhigend, dass „Mädel“ und „Mädchen“ von „Magd“ abstammen? Zwar werden beide Wörter heute nicht benutzt, um eine Leibeigene oder eine Bedienstete zu benennen oder gar sich selbst als eine solche zu bezeichnen. Aber schlägt sich hier nicht die (damalige) Ungleichstellung von Mann und Frau, ja, die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter in der Sprache nieder? Gewagte These, die sich nicht bestätigen lässt. Denn die Begriffsgeschichten der männlichen Pendants „Junge“ und „Knabe“ sehen ähnlich aus: So war der Junge ein „junger mensch in dienender oder in einem handwerk lernender stellung“ und der Knabe einst ein Knecht [s. Grimm: Deutsches Wörterbuch].
„Spinne, Mädlein, spinne! So wachsen dir die Sinne.“ – Volkslied
Trotzdem muss ein bedeutender Unterschied zwischen dem Gebrauch von „Mädel“ und dem von „Junge“ berücksichtigt werden. Zwar gibt es auch den Ausspruch: „Ich mache etwas mit den Jungs“. Jedoch ist „Mädel“ sowie auch „Mädchen“ im Gegensatz zu „Junge“ der Diminutiv, eine Verkleinerungs-, ja, Verniedlichungsform, wie auch „Fräulein“ oder „Mäuschen“. Im Gegensatz zum Wort „Fräulein“ – das laut Duden nicht als Anrede für eine erwachsene weibliche Person, […], benutzt werden sollte – werden „Mädchen“ und „Mädel“ im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr als Verkleinerungsformen wahrgenommen. Zu sehr haben sich beide als eigenständige Wörter etabliert.
Aber macht sich eine Frau nicht trotzdem klein, wenn sie sich selbst als „Mädel“ bezeichnet? Wird sie nicht verniedlicht, ja, wenig ernst genommen, wenn sie von anderen so genannt wird? Denn obwohl „Mädel“ und „Mädchen“ den gleichen Ursprung und ähnliche Bedeutungen aufweisen, kaum eine Frau würde sich selbst als „Mädchen“ bezeichnen. Denn während der Duden darauf hinweist, dass „[i]m modernen Sprachgebrauch […] das Wort Mädchen nur noch in der Bedeutung Kind weiblichen Geschlechts verwendet werden“ sollte, da es in „den weiteren veraltenden oder veralteten Bedeutungen […] zunehmend als diskriminierend“ gilt, ist unter dem Wort „Mädel“ kein solcher Hinweis zu lesen. Dabei hat die Geschichte des Wortes „Mädel“ eine noch viel dunklere Vergangenheit.
„[E]rzieht mir die Mädel zu starken und tapferen Frauen!“ – Hitler
„Bei ,Mädel’ weiß […] kaum noch jemand, dass es von den Nazis okkupiert wurde“, so der Sprachforscher Thorsten Eitz im SZ-Interview. Aber was war ein „Mädel“ im Dritten Reich? Die Reichsrefererentin Trude Mohr formulierte 1935 die Zielsetzung des Bundes Deutscher Mädel so:
„Unser Ziel ist der ganze Mensch, das Mädel, das gesund und klar seine Fähigkeiten einsetzen kann für Volk und Staat. Deshalb liegt uns nichts an der Anhäufung irgendwelcher Wissenschaften […], deren Sinn wir nicht verstehen, sondern alles an der Heranbildung der Gemeinschaft und der Mädelhaltung.“ [Trude Mohr: „Mädel von heute – Frauen von morgen“. In: Wille und Macht, Heft 1, Jahrgang 3, 1935]
„Mädelhaltung“? War das Wort „Mädel“ ein Synonym für „im Sinne des Nationalsozialismus zu formendes weibliches junges Wesen“, das mit der „richtigen Haltung“ zu einer – wie Hitler es formulierte – „starken und tapferen Frau“ und zur „kommende[n] Mutter“ [aus: Mein Kampf] herangezogen wird?
Ja, Bedeutungen von Wörtern ändern sich. Nichtsdestotrotz gehörte dieses Wort unzweifelhaft dem „Wortschatz der Gewaltherrschaft“ an, wie es die Autoren des „Wörterbuch der Unmenschen“ von 1957 formulierten. In diesem Buch wird „Mädel“ neben 28 weiteren Wörtern aufgelistet, die nach Meinung der Sprachkritiker Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind aus dem Sprachschatz gestrichen werden sollten. Ihr Ziel war es, die deutsche Sprache von Ausdrücken, die im Dritten Reich für Propaganda verwendet wurden, zu reinigen und diese Wörter wieder fremd zu machen.
„[U]nser Mädelring sucht aufrichtige, stolze und deutsche Mädels und Frauen.“ – Mädelring Thüringen
Hat das funktioniert? Wohl eher nicht. Zwar herrscht die Wortbedeutung des Dritten Reiches nicht mehr vor, jedoch wird „Mädel“ besonders heute inflationär verwendet. Wenn also die Begriffsgeschichte passé, ja, vergessen ist, kann das Wort dann nicht bedenkenlos als Synonym für „junge Frau“ benutzt werden? Nein, denn dieser Frage gehen ganz andere Fragen voraus – nämlich: Ist es nicht bedenklich, dass die Begriffsgeschichte nicht mehr mitgedacht wird? Sollte man sich nicht bewusst von dieser distanzieren? Denn der Begriff „Mädel“ im Sinne des Nationalsozialismus ist alles andere als vergessen. Er wird in rechtsextremen Kreisen noch genauso verwendet. So heißt es auf der Internetseite des Mädelring Thüringen:
„Wir nationale Sozialistinnen aber sind keine Emanzen (!), sondern stolze und selbstbewusste Mädels & Frauen, denen ihre Heimat und ihr Volk noch etwas wert sind.“ [Internetseite des Mädelring Thüringen; zur Recherche kurz ertragen am 20.7.2017]
„Okay, Mädels, jetzt möchte ich aber mal was sehen hier!“ – Klum
Natürlich werden Wörter benutzt – dafür ist Sprache da. Natürlich gehen sie durch verschiedene Epochen und durchlaufen Bedeutungswandel. Natürlich kann nicht jedes Wort, das im Dritten Reich benutzt wurde und noch heute in der rechtsextremistischen Szene gebraucht wird, gestrichen werden. Wie sähe dann unser Wortschatz aus? Und zugegebenermaßen zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Heidi Klum liegt ein sehr, sehr langer Weg, ja, liegen ganze Welten.
Trotzdem ist es manchmal wichtig zu wissen, welche Bedeutungen in einem häufig benutzten Wort mitschwingt und wofür es einst missbraucht wurde – besonders wenn es zur Bezeichnung der eigenen Person dient. Um sich dann zu fragen: Möchte ich mich selbst so nennen oder vom Focus, einem Buchholzer Kaufhaus, von Kolleg٭innen oder Freund٭innen so genannt werden?