Alle Artikel von Gregor van Dülmen

Otremba Funeral Service – Das Erbe der Science-Fiction

Hendrik Otremba singt bei Messer und feierte erst 2017 mit Über uns der Schaum sein Debüt als Autor. Jetzt legt er in diesem Nebenjob nach und präsentiert: Kachelbads Erbe. Damit hat er schon wieder ein Buch geschrieben, das im Grunde niemand erwartet hat. Denn hinter dem sperrigen Titel und merkwürdigen Cover verbirgt sich ein im Grunde nicht weniger sperrig aufgebauter Roman mit merkwürdigem Thema. Allerdings im besten Sinne.


Das Jahrhundert der Kryonik

Das Romanthema muss man sich als Autor auch erstmal zutrauen. Und Hendrik Otremba handelt es nicht bloß oberflächlich ab, sondern taucht tief hinein. Im Zentrum steht die Geschichte der Kryonik, erzählt anhand mehrerer Schicksale, die mit dieser wissenschaftlichen Bewegung eng verbunden sind. Die Schicksale liefern praktischerweise unterschiedliche Erzählperspektiven gleich mit und tragen zu einer Handlung bei, die sich durch einige kulturelle Epizentren des 20. Jahrhunderts windet, vom Wien der 20er über Mexiko, Deutschland, Frankreich, Spanien und Vietnam bis zum New York und Chernobyl der 80er-Jahre. Aber was war noch gleich die Kryonik?

Die Forschungsrichtung, welche ab den 1960er Jahren ein paar Institute und Firmen beschäftigte, ging und geht noch heute der Frage nach ewigem Leben nach: Es ist momentan, wie allgemein bekannt ist, ja leider noch nicht möglich, gestorbene Körper wiederzubeleben – aber könnte man Leichen nicht trotzdem schonmal einfrieren für den Fall, dass es doch eines Tages möglich sein wird? Wissenschaftlich betrachtet hätte man dadurch eine valide Forschungsgrundlage, wenn sich irgendwann realistische Möglichkeiten zur Reanimation von Leichen bieten sollten. Subjektiv betrachtet produziert dieser Gedanke Hoffnung auf Unsterblichkeit. Und tatsächlich lassen sich, ähnlich wie im altägyptischen Totenkult, auch heute noch Menschen in der starken Hoffnung auf Wiederbelebung ihrer toten Körper konservieren. Nur dass der mit der Wiedergeburt verbundene Glaube nicht, wie im Altertum, eschatologisch sondern modernetypisch wissenschaftspositivistisch ist: also nicht jenseitig, sondern diesseitig.

Kachelbads Erbe erschien bei Hoffmann und Campe:

Quelle: Instagram

Die ersten Einfrierungen im Sinne der modernen Kryonik fanden Ende der 1960er Jahre statt, und inzwischen lagern nicht wenige konservierte Leichen in Tanks, deren Seelen zu Lebzeiten von einer Auferstehung in einer besseren Zeit träumten – in der zum Beispiel körperliche Gebrechen heilbar oder vielleicht sogar Altern und Sterblichkeit insgesamt überwunden ist. Das Anliegen der modernen Kryonik liegt, im Gegensatz zur Mumifizierung im Altertum, stärker auf der funktionalen Erhaltung aller Organe als auf einer reinen Konservierung der äußeren Erscheinung. Es ist daher auch keine Pyramide, sondern eine Halle mit Tanks voll kahlrasierter Leichen, in dem die Handlungsstränge von Kachelbads Erbe zusammenlaufen.

Eine Science-Fiction-Geschichte

Eigentlich bedient sich der Roman damit eines klassischen Science-Fiction-Stoffs. Denn die Krynonik tauchte unter einem anderen Namen schon Ende des 19. Jahrhunderts in der Literatur auf: 1888 zum Beispiel ließ Edward Bellamy einen Protagonisten durch einen Magnetismus konservieren und das ferne Jahr 2000 besuchen. Auch späteren Autor*innen dienten kryonische Überlegungen für Zeitsprünge in Zukunftswelten, bis die Wissenschaft sich des Themas tatsächlich annahm. Zum Beispiel Stanisław Lem oder die Serie Futurama greifen es auf. Bei Hendrik Otremba, der sich mutig in die Reihe stellt, liegt der Fokus weniger auf den Science-Fiction- und stärker auf kulturgeschichtlichen Aspekten. Was bedeutet die Kryonik, die ja zumindest, was das Einfrieren betrifft, inzwischen tatsächlich angewendet wurde, als soziale Praxis, und welche Schicksale verband sie?

So begleitet Otremba einige Mitarbeiter des fiktiven Unternehmens Exit US, darunter ein gewisser H.G. Kachelbad, durch ihren Alltag Mitte der 1980er Jahre, als die erste große Öffentlichkeitswelle der Kryonik eigentlich schon wieder abgeebbt ist und die Praxis aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verschwinden beginnt, aber dennoch einige Aufträge offen sind. In der Kryonik wartet man ja meist den natürlichen Tod ab. Teil ihrer Tagesordnung ist es somit, nach dem Ableben von Klient*innen von Exit US die Leichen mit einem Kühlwagen abzuholen (der aus verschiedenen Gründen die Aufschrift „OTREMBA FUNERAL SERVICE” trägt), diese auszubluten, das Blut durch ein Frostschutzmittel zu ersetzen, und in einen Tank mit -196° kaltem flüssigen Stückstoff einzulagern.

„Wenn die Sprache an ihre Grenze kommt, betreten wir eine neue Welt.“

Hendrik Otremba – Kachelbads Erbe

Da das Unternehmen zu dieser Zeit schon einige Jahre auf dem Markt ist, sind bereits zahlreiche Leichentanks zusammengekommen, die in einer Lagerhalle in Los Angeles stehen und regelmäßiger Wartung bedürfen. Nebenbei bieten sie als futuristischer Friedhof auf Zeit einen ausgezeichneten Schauplatz, an dem die Handlungsstränge von Kachelbads Erbe zusammenlaufen. Von dort aus richtet Kachelbads Erbe neben einem literaturwissenschaftlich obligatorischen Blick in die Zukunft auch ausführliche Rückblicke auf Lebensgeschichten der gefrorenen Leichen, ihren Platz in der Zeitgeschichte und die Gründe, die sie zur Kryonik brachten. Der Roman stellt große Fragen, thematisiert zum Beispiel die Grenzen der Sprache, etwa dann, wenn die Nachbereitung eines Lebens plötzlich wieder zu ihrer Vorbereitung wird. Oder fragt, was es eigentlich bedeutet, einen kleinen Gegenwartsmoment in der großen Seinsgeschichte zu durchlaufen. Aber er stellt auch sehr profane Fragen, die ebenfalls ihr Gewicht haben. Zum Beispiel: Was wird eigentlich aus den vielen Leichen, wenn ein Kryonik-Unternehmen sich wirtschaftlich nicht mehr trägt?

Die Kunst der Unsichtbarkeit

Und obwohl der Roman ein Science-Fiction-Thema aufgreift, glänzt er vor allem darin, vermeintlich Übernatürliches einzufangen und unter profanen Aspekten zu betrachten. Es mag zunächst aufstoßen, dass in einem Buch, das wissenschaftliche Sprache verwendet, plötzlich Unsichtbare, Zeitreisende und Seelenwanderer auftreten. Aber Otremba gelingt es, vermeintlich Übernatürliches logisch greifbar zu machen. Unsichtbarkeit zum Beispiel lässt sich von Seite zu Seite immer weiter als eine Eigenschaft nachvollziehen, die manche Menschen oder gesellschaftliche Gruppen zweifelsfrei tatsächlich haben, die man sich grundsätzlich aber auch antrainieren könnte. Auch die meisten anderen Phänomene, die auftreten scheinen zunächst undenkbar, später im Roman aber greifbar und völlig praktikabel. Die wenigen am Ende noch verbleibenden fantastischen Elemente lassen den komplexen Roman an einigen Stellen surreal verschwimmen.

Der fragmentarische Stil von Kachelbads Erbe, der auch an Buchprojekte wie Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen von Philipp Weiss oder Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste erinnert, und bei Otremba eine schlanke Form findet, ist in zwei Hinsichten geschickt gewählt. Zum einen kann der Autor damit zahlreiche Epochen abhaken, die er vermutlich selbst spannend genug findet, um ihnen ein Buch zu widmen, zum anderen lassen die Episoden kaum Aspekte unbeleuchtet, um den umkreisten Betrachtungsgegenstand, die Kryonik, auszuerzählen. Er achtet zwar auf den logischen Zusammenhalt zwischen den Fragmenten, traut das letztendliche Zusammenführen der Passagen zu einem Roman aber weitgehend seinen Leser*innen selbst zu. Diese werden mit jedem neuen Kapitel kurz mit dem Gefühl konfrontiert, plötzlich ein anderes Buch zu lesen. Was sich teilweise auch bewahrheitet. Als nachhaltig irritierend fällt höchstens eine aus der Sicht einer Katze erzählte Passage heraus, deren Weltbild trotz starkem Hang zur Verschmustheit und instinktiven Werturteilen doch sehr menschlich erscheint.

Sprünge im Erzählstil, die man während des Lesens ankreiden möchte, werden durch den Einbau von Metaebenen abgefedert. Diese schwanken zwischen wissenschaftlicher Beschreibung, surrealer Betrachtung und persönlichem Erzähler. Bloß manchmal würde man sich wünschen, dass der Roman noch stärker verschachtelt wäre und lieb gewonnene Charaktere noch zumindest ein zweites Mal zurückkehren würden. Aber nicht nur in seinem Thema, auch in seinem Aufbau bleibt der Roman durchgehend unbequem. Damit beweist Hendrik Otremba sein erzählerisches Talent. Zwischen den fragmentarisch zusammengefügten Kapiteln lässt er nicht zuletzt einen gesamten Roman unsichtbar werden.

Kachelbads Erbe von Hendrik Otremba erschien am 5. August 2019 bei Hoffmann und Campe und hat 432 Seiten. Er kostet 24 €, die ersten Seiten sind jedoch auch gratis vorgetragen verfügbar:

Quelle: YouTube
Titelbild: © Kat Kaufmann

Schellenmann – ein Schwäbisch Noir

Philipp Böhms Schellenmann überzeugt vor allem durch seinen sphärischen Schreibstil, der expressionistische Unschärfe erzeugt. Und ein ungewöhnliches Romandebüt freisetzt.


Philipp Böhms Debütroman Schellenmann spiegelt eine Situation, die der Autor und vielleicht auch einige seiner Leser٭innen selbst ganz gut kennen: Die Jugend in einer Kleinstadt geht zu Ende, die wichtigste Lebensentscheidung besteht für einen Moment in der Frage: bleiben oder wegziehen? Das gespiegelte Bild jedoch verzerrt sich durch den Umstand, dass Protagonist Jakob sich fürs Dableiben entscheidet. Statt herauszuwollen und einer Ausbildung nachzugehen, folgt er seinem Freund Hartmann ungelernt in die Fabrik am Stadtrand. Von der er noch nicht einmal genau weiß, was produziert wird, deren Maschinen im ganzen Betrieb fast niemand wirklich versteht und deren Charaktere Böhm ihn in ihren Eigenheiten studieren lässt.

Fremd bleiben sie ihm und den Leser٭innen dennoch. Wie alles fremd bleibt, in dieser Stadt, in die Jakob erst ein paar Jahre vor Einsetzen der Handlung zugezogen ist. Das eigentliche Problem am Bleiben jedoch ist, wie er dann auch erfahren muss, dass um einen herum ja trotzdem vieles wegbricht. Und sei es nur die endende Jugend oder das Wegziehen von Freund٭innen. Bei Böhm wird es noch dramatischer: Selbst die Natur scheint zu protestieren und Jakob forttreiben zu wollen, was dramatische Züge annimmt.

Die Überspitzung dieses Konflikt führt Philipp Böhm auch ein Stück weit ins Fantastische, vielleicht, weil er eine Realität durchspielt, die er selbst hätte wählen können, die ihm dann aber selbst zu abstrakt und unrealistisch erscheint. Ein wertvolles Stilmittel dieser Fantasie ist die von ihm in die Handlung eingefügte Figur des Schellenmanns, die er sich aus der schwäbisch-allemannischen Fastnachts-Folklore leiht. In dieser tritt der Schellenmann, auch „Gschell“ genannt, seit einigen Jahrhunderten als Repräsentant des Sommers und Gegenspieler des Federahannes auf, der den Winter verkörpert. Letzterer soll mit lauten Glocken ferngehalten werden, die ersterer am Körper trägt. Auch in Böhms Schellenmann will ein Sommer nicht enden und hält an, bis selbst die Tiere beginnen, vor sich hinzusterben, und der Schellenmann Realität wird – eine Entscheidung des Autors, die maßgeblich dazu beiträgt, dass man als Leser٭innen mitfühlen kann, wie fremd Jakob, dem Zugezogenen, sein Umfeld eigentlich ist – die Riten, Verspanntheiten und Dynamiken eines verschlossenen Raums.

Der Roman lebt inhaltlich vor allem durch die persönliche Inhaltsebene und seine Porträts der Mikrokosmen Kleinstadt und Fabrik. Die noch größeren Stärken hat das Debüt aber in seinem Sprachstil, der es schafft, einen Farbfilter über die Handlung zu legen. Beschrieben wird so wenig wie möglich, was zum einen ein gewisses Desinteresse der Protagonist٭innen an ihrer Umwelt aufarbeitet, die eben nicht die spannende weite Welt ist, sondern der kleine, bedeutungslose Ort, an dem eben wohnt. Zum anderen setzt es Bilder frei.

Und wo doch etwas beschrieben wird, da ist es karg, unwirtlich und im Grunde auch nicht so richtig beeinflussbar, sondern einfach eine nutzlose Gegebenheit. Wie die Blätter und Zigarettenstummel in der Ecke des Fabrikhofs, die sich nach jedem Fegen neu sammeln oder „zusammgeknüllte Burger-Tüten, Bierflaschen, Umsonstzeitungen, Flip-Flops, Eierkartons“, die den Bach entlangtreiben – „und dann die Eichhörnchen“.

Ein einziges Manko dieses ausgereiften Erzählstils ist, dass die Handlung hinter ihm teilweise nur unscharf und benommen durchscheint und der eigentliche Plot, in dem immerhin auch noch eine Figur spurlos verschwindet, eher hintergründig wird. Das nimmt Böhm jedoch in Kauf, um der über allem schwebenden Warum-Frage und inneren Unruhe des Erzählten auf mehreren Ebenen gerecht werden zu können.

Wo es Schellenmann an Spannung fehlt, springt eine durchdringende Anspannung ein. Philipp Böhms Roman, der sich expressionistisch liest, entromantisiert das Idyll, stellt aber gleichzeitig die Sinnsuche junger Menschen überhaupt in Frage: Wieso löst es so einen starken inneren und äußeren Widerstand aus, sein Glück nicht in Selbstverwirklichung zu suchen, sondern einfach nur zu probieren, sich an dem Ort, an dem man lebt, einzurichten und ein kleines bisschen weniger fremd zu fühlen?

Schellenmann von Philipp Böhm erschien 2019 im Verbrecher Verlag und hat 224 Seiten.

 

 

Farbenfrohe Melancholie – Black Sea Dahu live in Berlin

Mit ihrem Album White Creatures haben sich Black Sea Dahu vom etwas zu geheimen Geheimtipp zur Indie-Band der Stunde gemausert. Live entführen sie uns auf ihre Insel. Wie zum Beispiel am 10. Februar in der Kantine am Berghain.


Schon erstaunlich, was eine Namensänderung bewirken kann. Nicht, dass die Schweizer Band Black Sea Dahu, als sie noch JOSH hießen, keine gute Musik gemacht hätten. Aber von der haben nicht viele etwas mitbekommen. Und ihr neues Album White Creatures, das gleichzeitig Debüt von Black Sea Dahu und Album Nummer drei der daran beteiligten Musiker٭innen um Sängerin und Songwriterin Janine Cathrein ist, ist eindeutig das Beste. Was nicht daran liegt, dass sie plötzlich aus dem Nichts Gesang und Instrumente beherrschen oder der Marktstrategie eines großen Labels folgen. Sondern, dass die Band sich etwas zugetraut hat, sich Zeit genommen und Raum geschaffen hat, um ihre künstlerische Sphäre gemeinsam auszuloten und ein für allemal festzuhalten.

Black Sea Dahu im Nordmeer

Noch als JOSH starteten sie ein Crowfunding, um sich für die Aufnahmen auf eine einsame norwegische Insel zurückziehen zu können. Dort angekommen verbrachten sie intensive Tage voller Aufnahmesession, in denen sie hinsichtlich Arrangement und Produktion gemeinsam, das kann man sagen, wirklich alles aus den mitgenommenen Songs herausholten, was sich herausholen ließ. Und zurück kamen sie farbenfroh: als Black Sea Dahu mit White Creatures im Gepäck, das nun beim Berner Independent Label Mouthwatering Records erschien.

Und plötzlich brauchen sie sich keine Wohnmobil-DIY-Touren mehr selbst zu organisieren, sondern nehmen einfach die Konzerte der für sie gebuchten Europa-Tour wahr. Das Beste aber: Ihre Live-Performance schöpft unmittelbar aus den intensiven Sessions. Und das Publikum wird einfach unverhohlen mit auf die abgeschiedene, norwegische Insel mitgenommen, die ihnen zum perfekten Zusammenspiel verholfen hat. Der Plan ist also ganz gut aufgegangen.

Zwischen Singer-Songwriter, Country, Folk und Jazz

Ihre erfrischende genre-technische Unentschlossenheit und eine gewisse Grundspannung, die sich durchs gesamte Set zieht, unterstützen die Kurzweiligkeit ihrer Live-Performance. Sodass ihre Show in der Kantine am Berghain trotz holpriger (aber sympathischer (aber holpriger)) Ansagen, zur runden Sache wurde. Im weichen, zeitlos jazzigen Sound, der Welten vom Mainstream entfernt zu sein scheint, liegt ein breites Spannungsfeld, das gemeinsam erforscht wird. Bei Songs, die eher in eine Country-Richtung ausschlagen, wie zum Beispiel In Case I Fall For You, erinnert ihre Musik manchmal ein wenig an Bands wie Lola March, wenn auch melancholischer. Und dann wieder an überhaupt niemanden.

Quelle: YouTube

Denn unterm Strich werden die sehr vielseitigen Kompositionen und Dynamiken des Albums durch einen der Band ureigenen Sound verbunden. Die tiefe, durchdringende Stimme von Janine Cathrein wirft einen Anker in die Musik, der auch stürmischer See standhält. Immer wieder ziehen sich die Songs auf ihren ungewöhnlichen, unaufgeregten Gesang und ihr Gitarrenspiel zurück und denen sich auf die sechsköpfige Band und mehrstimmigen Gesang aus.

Viel Aussagekraft für ihre Musik hat etwa der Song Pure, dem man noch anmerkt, dass er um ein Gefühl herum entstanden ist, das sich zunächst im persönlichen Songtext niederschlug. Der Song, der auch in schlichter Singer-Songwriter-Bearbeitung funktionieren würde, wird mit aller gebotenen Vorsicht andächtig mehrstimmig getragen. Instrumental hebt die Band dabei die rhythmisch extrem feine Dynamik aus der Gitarrenspur heraus und entfaltet sie so weit, bis aus der verträumten Komposition ein voluminöser Folksong wird. Der Wirkung des Songs scheinen Black Sea Dahu sich durchaus bewusst zu sein. Nicht umsonst fand er in der Kantine am Berghain Einsatz als Eröffnungssong. Er ist die Fähre zur Insel.

Quelle: YouTube

Weiterlesen-Tipp:

Wikipedia: Das Schweizer Fabelwesen „Dahu“.


Black Sea Dahu sind noch eine Weile live unterwegs. Ihr Album White Creatures erschien am 12. Oktober 2018 bei Mouthwatering Records.

Titelbild: © Black Sea Dahu

Die Pyramiden von Kanada

In seinem Roman Kanada erzählt Juan Gómes Bárcena die Geschichte eines Auschwitz-Überlebenden, der versucht, ins Leben zurückzufinden. Um dessen Schicksal nachzuempfinden, hält er einen konfrontativen, eindrücklichen Stil bereit, der Schwächen bewusst in Kauf nimmt, um am Ende dann doch in der Magengrube seiner Leser٭innen einzuschlagen.


„Eine Armbanduhr kostet einhundertzwanzig Zigaretten, dreißig Zigaretten kostet eine Brotration, vier Brotrationen kostet es, den Kommandos mit der leichtesten Arbeit zugeteilt zu werden, und du verwaltest du Tarife verschwiegen, brutal, gleichgültig.“

Stell dir vor

Du hast Auschwitz überlebt. Du kehrst zurück nach Hause, findest dort aber kein Leben mehr vor, in das du wieder zurückkehren kannst. Immerhin steht dein Haus noch. Du suchst nach Ruhe und findest Isolation. Du kannst nichts dafür, doch du glaubst es dir nicht. Hättest du anders gehandelt, hättest du selbst nicht überlebt. Du kannst nichts dafür, dass du in „Kanada“, den Affektenlagern des Vernichtungslagers, arbeiten musstest.

Du findest es seltsam, vom Text in der zweiten Person angesprochen zu werden? Ist es auch. Und bleibt es auch dann noch, wenn man einen gesamten Roman lang mit dieser Ansprache konfrontiert wird. Irritierenderweise erinnert diese Erzählform, die Juan Gómes Bárcena für Kanada wählt, an Abenteuer-Jugendromane wie Die Insel der 1000 Gefahren, in denen Leser٭innen ständig aufgefordert werden, Entscheidungen zu treffen und auf eine andere Stelle im Buch zu blättern. Doch am Ende bleibt die Ansprache die einzige Gemeinsamkeit zu diesen Büchern, denn das in Kanada durchlebte Schicksal ist unausweichlich. Die Entscheidungen, die das Leben der angesprochenen Hauptfigur bestimmen, sind längst gefällt. Nun durchlebt sie den Konflikt, mit ihnen, die sie in der Hölle getroffen hat, außerhalb von ihr weiterleben zu müssen.

Die größten Verbrechen hinterlassen keine Spur

„– und wenn sie doch eine Spur hinterlassen, dann ist es eine, die die Henker noch größer macht.“

Dabei hatte diese Hauptfigur eigentlich ein unbescholtenes, ruhiges Leben als Astrophysiker an der Universität geführt. Gerade zu Beginn des Romans versucht sie noch, in diese Gedankenwelt zurückzukehren. Doch der Kosmos, den sie nun bewohnt, wird immer kleiner und es fällt ihr zunehmend schwerer, die Regeln des Universums damit zu verbinden. Sie findet gedanklich keinen Zugang mehr. Immer stärker entfalten sich Gedanken an Krieg, Deportation und Auschwitz, an Vorbilder für die Verbrechen der Nazis. Wie wird man Auschwitz gedenken? Wie wird sich der Millionen Opfer erinnert werden? Die Azteken hatten ja auch unzählige Menschen hingerichtet. Und heute bewundert man ihre Pyramiden, die Opferstellen, als Denkmäler der Baukunst und Monumente menschlicher Größe.

„Die Jahrhunderte werden über das Lager hinweggehen. Das Fleisch seiner Geopferten, dein Fleisch, wird verfaulen, und zurückbleiben wird nur die Absicht, der Glaube, der seine Schöpfer bewegte. Alles steht noch, Öfen, Schienen und Zäune – wie ein lebendes Museum, als wäre die Zeit ein Traum, und du würdest im nächsten Moment daraus erwachen. Auch die Pyramiden von Kanada sind noch da. Tonnenweise Schuhe, Brillen, Haarsträhnen – Touristen einer anderen Zeit werden sie betrachten, sie tun es bereits, fasziniert von der Größe der Henker und der Bedeutungslosigkeit ihrer Opfer.“

Im Reich der Pyramiden

Was die Person in dem Roman nun genau erlebt hat, setzt sich erst spät zusammen. Einen zentralen Wendepunkt hat die Erzählung an einer Stelle, in der der überraschende Anblick einer nackten Frau die Erinnerung an die zahllosen nackten Leichen hervorschießen lässt, die die größten der Pyramiden von Auschwitz bildeten, zwischen denen sie einige Jahre gelebt und Zwangsarbeit verrichtet hat. Den Leser٭innen, wie ihr selbst wird nun endgültig die Unfähigkeit weiterzuleben offenbar. Bilder der Leichenberge und Haufen von den Koffern der Deportierten, persönlichen Gegenständen und Wertsachen, die nach der Befreiung des Lagers vorgefunden wurden, sind heute vielen bekannt. Daran, dass Menschen, nicht nur deutsche Aufseher, auch Inhaftierte, jahrelang einen bizarren Alltag zwischen diesen Pyramiden führen mussten, deren eigene Arbeit aus dem Anhäufen dieser Berge bestand, erinnert Juan Gómes Bárcena in diesem Zusammenhang eindrücklich. Dafür, dass sie die Opfer eines monströsen Verbrechens sind und bleiben, aber sich, alleingelassen mit ihren Gedanken, auch selbst in Schuldgefühlen verlieren, findet er einen beklemmenden Erzählstil.

Unbehagen, Trauma, Nachhall

Dass die Vorgeschichte des Romans sich erst nach und nach zusammensetzt, ist eine Schwäche des Erzählstils, die Gómes Bárcena in Kauf nimmt: Hier wird eine Gefühlswelt nachvollzogen, über die die Leser٭innen beim Lesen die meiste Zeit nur sehr wenig wissen und die sie dennoch ständig auffordert, nachzuvollziehen, wie man selbst sich denn nun fühlen müsste. Das Buch zwingt uns als seinen Leser٭innen eine Rolle auf, über die wir aber lange nur wenige Informationen haben, zunächst bloß, dass wir in unsere Wohnung zurückkehren. Dann erhalten wir immer mehr merkwürdige Information über uns selbst, zum Beispiel, dass wir uns gewünscht hätten, sie wäre im Krieg zerstört worden. Dass der Nachbar die Wohnung, nachdem sie ausgeräumt wurde, mit gefundenen Möbeln neueingerichtet hatte, nehmen wir als weiteren Quell von Unbehagen auf.

In welchem Land die Wohnung sich befindet, warum wir deportiert wurden, welche Erfahrung wir im Konzentrationslager gemacht haben, warum uns nicht zuletzt das Gefühl der Scham umtreibt, setzen wir uns durch kleine Randinformationen zusammen. Den eigentlichen Konflikt während des Lesens nachzuvollziehen, wird dadurch fast unmöglich. Erst auf den letzten Seiten setzt sich alles vollständig zusammen, so als hätten wir es selbst eigentlich schon gewusst und verdrängt – und das ist wahrscheinlich der Grund dafür, warum der Roman nach dem Lesen noch so lange nachhallt. Nicht nur erzählt Juan Gómez Bárcena in Kanada eine der abermillionen unerzählten und auch in der Erinnerungskultur wenig Gehör findenden Schicksale des Holocaust. Er zeigt einmal mehr die Dimensionen des Verbrechens auf.


Kanada von Juan Gómez Bárcena erschien 2018 im Secession Verlag für Literatur und hat 192 Seiten.

Im leeren Raum

Josins Albumdebüt In the Blank Space war ein schlecht bewahrtes Geheimnis, klingt fast schon nerdig stilisiert und ist ein krasser Downer. Wie großartig.


Auf diesen Moment hatte Josin sich gut vorbereitet. Dass sie Klavier, Produktion, Synthesizer und Singen ganz gut beherrscht, kam ja inzwischen schon einige Jahre lang bei ihren Konzerten, auf EP- und Single-Veröffentlichungen durch. Nun erschien das überfällige Debütalbum der Perfektionistin, bei dem glücklicherweise eine goldene Regel greift: Wenn Perfektionist٭innen sich Zeit nehmen, lohnt sich das Warten. In the Blank Space heißt die Platte, die diesen Freitag beim Stockholmer Indie-Label Dumont Dumont sowie beim Londoner MVKA veröffentlicht wurde. Allein schon der Umstand, dass sie Josins Vielseitigkeit als Sängerin und Multiinstrumentalistin aufgreift und in einen künstlerisch geschlossenen Kontext setzt, macht es zu einem Album der Stunde.

Klassik und Ambient, Intuition und Diskurs

Josins sphärisch-stilisierte Musik klingt völlig eigen und intuitiv, was ja bekanntlich das Gegenteil von diskursiv ist. Dabei greift sie einen experimentellen Ansatz auf, nämlich Ambient Sounds und klassisches Klavierspiel zu verbinden, der in den letzten Jahren schon von mehreren zeitgenössischen Pianist٭innen, zum Beispiel Federico Albanese und Midori Hirano, aufgegriffen wurde. Diese Melange aus klarem Klavier und tragenden Electro Sounds entwickelt sich in Josins Musik weiter, zum einen offensichtlich, weil er von eindringlichem opernhaften Gesang getragen wird. Zum anderen, weil sich von Song zu Song der Fokus zwischen den drei Elementen verschiebt und keinen so klaren Ausgangspunkt hat wie die Kunst der anderen Musiker٭innen. In den Fokusverschiebungen, die auch Genregrenzen schlicht ignoriert, deutet sich die Komplexität ihrer anspruchsvollen Kompositionen an, die in Wahrheit noch viel weitergetrieben wird.

Quelle: YouTube

Josins depressiver Mikrokosmos

In der insgesamt 40-minütigen Laufzeit von In the Blank Space wird der gesamte Mikrokosmos deutlich, den Josins Musik einnimmt. Mal introvertiert zusammengezogen, mal dramatisch entfaltet, erkundet das Album musikalisch viele Wege, um Unruhe zu erzeugen. Teils treiben, wie bei Healing, subtile Beats die Songs voran, teils bringt Josin mit dem Klavier allein eine innere Unruhe in ihre Musik, wie bei Once Apart (der übrigens ein bisschen an Rufus Wainwrights The Art Teacher erinnert). Bedrückende Texte tun ihr übriges. Auch wenn Josin bei Instagram und Facebook zeigt, dass sie Humor hat und noch nicht ganz an der Welt verzweifelt sein kann, ist ihr Album ein krasser Downer. Und die albumtitelgebende Leere fällt angespannt aus, weil sie stilisiert, weil sie künstlich ist, wie eine eingeredete Freiheit oder eine unter hohem Aufwand hergestellte Ruhe.

Ein insgesamt nicht mehr als melancholisch, sondern schon depressiv anmutender Gesamteindruck, zeigt facettenreich auf, was eigentlich alles geht, wenn man ein bisschen mehr kann als die anderen. Das Album begibt sich in die beste Gesellschaft mit anderen depressiven Künstler٭innen, die nicht viel auf Genres, dafür durch enormen Aufwand auf eine maximale Entfaltung intimer Kompositionen geben. Zum Beispiel Sóley und Hundreds, die Josin ja sogar schon bei Konzerten supportet hat. Andere Beispiele wären vielleicht Sufjan Stevens oder Thom Yorke, die sie allerdings bisher nicht supportet hat.

Einziger Wermutstropfen des Albums: Wer sich schon vor dem Release mit Josins Veröffentlichungen beschäftigt hat, erlebt wenig Neues. Zwar bietet der Albumkontext einen kunstvollen Rahmen, der viele Kreise schließt, doch bisher unveröffentlicht waren eigentlich nur zwei der Songs. Dass Josin die anderen sieben Kompositionen bereits social-media-freundlich entweder in EP-Form, als Singles oder Remixes zur Verfügung gestellt hatte, ist ja eigentlich dankbar, macht In the Blank Space aber im Nachhinein zu einem schlecht bewahrten Geheimnis. Anhören sollte man es sich dennoch.

Josins In The Blank Space erschien am 25. Januar 2019 bei Dumont Dumont und MVKA.

Titelbild: © Dumont Dumont

Judith Schalanskys neuentdeckte Sachlichkeit

Was bleibt uns von verlorengegangenen Gegenständen, Kunstwerken, Orten, Tierarten oder Personen? Erinnerungen vielleicht? Oder Ruinen, schlechte Gewissen, Kopien, Textfetzen, Mythen? Judith Schalansky wagt mit „Verzeichnis einiger Verluste“ eine erstaunlich breite Aufstellung einiger solcher Verluste der Weltgeschichte, vom Kaspischen Tiger über Sapphos Gesamtwerk bis zum Palast der Republik, und führt uns dabei auch die Weite und Brutalität erzählerischer Grenzen vor.


Ein Sachbuch? – Eben nicht.

Eine Frage wirft das Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ schon vor dem Aufschlagen auf: Ist es eigentlich ein Sachbuch oder ein Belletristikband? Von außen betrachtet definitiv Sachbuch. Die nur grundsätzlich thematisch zusammengehaltenen Kapitel erzählen ja keine geschlossene Geschichte. Die Perspektiven sind unstet und der Aufbau erscheint wissenschaftlich und um die Klärung einer Forschungsfrage bemüht. Doch das vermeintliche„Verzeichnis“ stellt sich schon kurz nach dem Aufklappen als literarische Anthologie heraus, dessen wissenschaftsartiger Ausgangspunkt bloß ein Stilmittel ist.

Jedes Kapitel beginnt mit der Benennung eines Verlustes, der in knapper Form sachlich beschrieben wird – mit einer kurzen Datierung von dessen historischen Auftauchen und Verschwinden. Doch anstatt an diese wenigen Zeilen eine nüchterne Ausführung mit dem Anspruch auf Ausführlichkeit zu hängen, entscheidet die Autorin sich für einen anderen Anspruch: verständlich zu machen, was da verloren gegangen ist. Dabei erfindet sie Miniwelten, die sich radikal voneinander unterscheiden und den Lesefluss teilweise ganz bewusst blockieren.

Hooklines der Freejazz-Belletristik

Andersherum betrachtet zeigt sie mit ihrem nerdigen, ja, teils abweisenden Schreibstil, dass sie ihre Leser٭innen ernstnimmt, indem sie sie herausfordert. Diese begeben sich Kapitel für Kapitel auf Suchen, nicht zuletzt nach der Verbindung des verzeichneten Verlustes zur darauf aufgebauten Erzählung. Denn die Verbindungen sind teilweise weit hergeleitet. Ein Beispiel: Wir betrachten den Verlust des 1919 gedrehten Stummfilms „Der Knabe in blau“. Anstatt dessen Entstehungsgeschichte, die Biographie seines Regisseurs Wilhelm Friedrich Murnau oder etwa den Grund dafür nachzuvollziehen, warum er nie uraufgeführt wurde und heute kein Exemplar von ihm mehr existiert, widmet Schalansky sich lieber Greta Garbo.

Die hat zwar keine Verbindung zu dem verlorenen Film, (außer dass sie, worauf Schalansky allerdings nicht eingeht, große Verehrerin Murnaus war,) aber hat in jungen Jahren einen eigenen großen Verlust verursacht und erlitten, als sie sich völlig vom Filmgeschäft abwandte und für ihre letzten 50 Lebensjahre völlig ins Privatleben zurückzog. Ihren Alltag füllte sie seitdem unter anderem mit langen Spaziergängen durch New York, was Schalansky in einem nachdenklichen Monolog aufgreift, der zum einen nachfühlen lässt, wie in Hollywood oder in den Medien überhaupt oder in der menschlichen Wahrnehmung generell vergessen wird und zum anderen, wie sich Vergessensein anfühlt.

Judith Schalansky baut an vielen Stellen ihrer fragmentarischen Kurzgeschichtensammlung kleine literarische Denkmäler, wem diese gebühren, und findet für die verschiedensten Themen prägnante Außenseiterperspektiven. Zum Palast der Republik wählt sie eine Kurzgeschichte, die in der DDR spielt und nur ganz am Rande die damalige Bedeutung des Gebäudes, das es nicht mehr gibt, in einem Alltag, den es nicht mehr gibt, in einem Staat, den es nicht mehr gibt, beleuchtet.

Ein anderer Glanzpunkt ist die archaische Erzählung über ein Kaspisches Tigerweibchen, das am Rande des Römischen Reichs gefangengenommen, wochenlang in dessen Zentrum transportiert, in den Katakomben des Kolosseums ausgehungert und gequält wurde, um schließlich im Vorprogramm eines Gladiatorenkampfs gegen einen Löwen anzutreten, den beide gemäß der Tagesordnung und des Publikumsgeschmacks nicht überleben sollten. Am Aussterben der Art tragen die Römer natürlich keine Schuld. Denn die starb ja erst im 20. Jahrhundert aus, als der Mensch schon viel weiterentwickelt war und sich statt blutigen Kämpfen lieber der Wildtierdressur im Zirkus widmete.

Verzeichnis einiger Versuche

Dadurch, dass das Buch sich eindeutig als Belletristik, wenn auch einer Freejazz-Variante davon, identifizieren lässt, kann man ihm nachsehen, dass es Judith Schalansky nicht an jeder Stelle gelingt, eine kritische sprachliche Distanz zu den Themen und ihren Begriffssystemen aufzubauen – auch wenn das in einigen Kapiteln gerade das Besondere ihres Erzählstils ist: diese Metaebene, die Verbindungen herstellt, ohne unnötig zu moralisieren. Viel lieber taucht sie an anderen Stellen tief in die unterschiedlichsten Materien ein, dringt in kleinste Details vor und bohrt in Emotionen, um verlorene Lebenswelten nachzuvollziehen. Was an manchen Stellen genial und wunderbar zu lesen ist, kann an anderen auch überfordern, verrennt sich manchmal gar und lässt den Gedanken zu, dass die Entstehung der einzelnen Kapitel den Regeln von Versuch und Irrtum folgten, wobei nicht nur die erfolgreichen Versuche am Ende ihren Platz im Buch fanden.

Man kann dem Buch andererseits beileibe nicht vorhalten kann, es sei angepasst, bequem oder oberflächlich. Es möchte nicht um jeden Preis gefallen, sondern ohne Rücksicht auf Konventionen den gesamten sprachlichen Horizont einer Frage beleuchten: Wie funktionieren Verlieren, Vergessen und Erinnern? Am Ende der Lektüre bleibt auf der einen Seite das Gefühl, die Antwort verstanden zu haben, ohne sie mit anderen Worten oder Mitteln erklären zu können als Judith Schalansky es tut. Auf der anderen Seite bleibt eine große Anhäufung wahllosen Wissens. Darüber, dass der Gründungskern von Greifswald im 30-jährigen Krieg zerstört und nie rekonstruiert wurde. Dass Stahl des Palasts der Republik eingeschmolzen wurde und im Burj Khalifa wiederverwendet wird. Dass das gedruckte Buch noch nicht verloren ist.

Judith Schalanskys „Verzeichnis einiger Verluste“ erschien am 22.10.2018 im Suhrkamp Verlag und hat 252 Seiten.

Beitragsbild:
Ausschnitt einer Kopie des 1931 zerstörten Gemäldes des Hafens von Greifswald aus dem Jahr 1810 vom 1840 verstorbenen Caspar David Friedrich
(Quelle: Wikimedia Commons)

Über, neben und zwischen Komplizen

Ralph Hammerthaler liefert uns mit Unter Komplizen ein vielseitiges, ja kubistisches, Porträt einer gut vernetzten, globalen Künstlerszene – über die er verdächtig gut Bescheid weiß.


Vielen Künstler٭innen wird vor allem in zwei Lebensphasen Aufmerksamkeit geschenkt: zur jungen, progressiven Schaffenszeit, als sie gerade anfangen, einen Unterschied zu machen, und dann wieder, wenn sie tot sind. So dreht sich auch die meiste Literatur über Künstler٭innen entweder um wilde Frühphasen (bspw. Sven Regeners Wiener Straße), in denen nicht wenige denken, ihnen gehört die Welt, oder aber um die großen, bereits verewigten Ikonen – denen wirklich die Welt gehört (wie das Graphic Novel Pablo). Aber was ist eigentlich mit denen dazwischen, also den nicht mehr ganz so jungen nicht mehr ganz so Wilden der Kunstwelt? Taugen die nicht auch für literarische Porträts?

Unter nicht mehr ganz so jungen nicht mehr ganz so Wilden

Genau dieser Frage widmet sich Ralph Hammerthalers jüngst erschienener, fast 500-seitiger Roman Unter Komplizen. Und wird mit seiner Antwort eindeutig der Komplexität dieser Frage gerecht. Denn um zu sehen, ob sie wirklich dafür taugen, muss eine differenzierte Betrachtung her. Und so widmet er sich einer umfassenden Beobachtung einer kleinen, aber global verstreuten Szene befreundeter Künstler٭innen verschiedener Disziplinen sowie einiger Personen aus ihrem Umfeld. Schauen wir mal hinein: Was treiben Künstler٭innen heutzutage denn so, wenn ihnen gerade niemand die große Bühne anbietet? Der eine wohnt vielleicht noch immer im provinziellen Kunstquartier und hangelt von Stipendium zu Stipendium. Der andere finanziert seine Avantgarde-Kompositionen und sein Großstadtleben mit Soundtracks für Spielautomaten. Wieder eine sucht in Russland mit Sex-Performances globale Aufmerksamkeit für die eigene Unterdrückung. Ein Vierter versucht noch immer, Schiller im mexikanischen Theater zu etablieren.

Die Liste, die der Roman anstellt, ist lang und erstaunlich vielseitig. Außer in dem Punkt, dass alle, die auf ihr stehen, sich so etwas wie einen Alltag eingerichtet haben, der hier sehr gut eingefangen wird. In dessen Zentrum steht uneingeschränkt die Kunst, über die sie sich ein Staunen bewahrt haben. Und für deren Platz in ihrem Leben sie doch auch widerstandslos ihren Preis zahlen. Aber der Roman dreht sich nicht bloß um Alltage, sondern erfasst auch die Banalität und Absurdität der Lebenswelten, und lässt uns teilhaben an Kämpfen um Anerkennung und das schiere Überleben, berichtet von Herausforderungen des Schicksals und nicht zuletzt von Ausbrüchen.

Im Komplizen-Milieu

Einiges spricht am Ende dafür, dass die abgebildeten Personen und Schicksale vielleicht gar nicht so weit von der Lebenswelt Ralph Hammerthalers entfernt sein könnten. Zum Beispiel diese verdächtig unaufgeregte Erzählweise, die er der sprunghaften, schauplatzreichen Handlung abgebrüht entgegenstellt. Fast wirkt sie wie ein Understatement auf das Erzählte, oder so, als wäre die Handlung tatsächlich unbeeindruckend. Dabei ist sie im Gegenteil immer wieder für überraschende und dramatische Wendungen gut, die durch die undramatische Erzählweise nur umso besser einschlagen. Viel Potenzial zieht der Roman aus unvermittelten Sprüngen zwischen unzähligen Erzählperspektiven. Vielleicht mögen die betrachteten Biographien nicht ganz so fiktiv sein, wie man erst denken und manchmal hoffen möchte. Aber die unsteten Betrachtungsweisen sind ein wertvolles Stilmittel, besonders dann, wenn sie gerade unscheinbare, aber ertragreiche Außenperspektiven auf unsere Hauptcharaktere richtet.

Unter Komplizen schafft über all seine Kapitel hinweg Raum für ein umfassendes Szeneportrait, das teils weniger Literatur und mehr einer Milieustudie gleicht – aber nur deswegen, weil es so glaubhaft erzählt ist und Hammerthaler unter den unscheinbarsten Perspektiven genau die richtigen findet, um ein klares, glaubhaftes Gesamtbild zu präsentieren. Das ist so vielseitig, dass sogar getrost das offene Ende verraten werden kann. Der Roman findet Worte für den vielleicht kunstvollsten Ausblick, den die Menschheit sich je geschaffen hat, den Panoramablick auf –. Obwohl nein, Enden verrät man nicht.

Unter Komplizen von Ralph Hammerthaler erschien im Verbrecher Verlag und hat 493 Seiten. Es fühlt sich aber kürzer an.

Beitragsbild: © Gregor van Dülmen

Fenster. Gute Überraschungen

Schon passend, dass Fenster sich zum Ende des Supersommers geschlossen wie nie zurückmelden. Ein Zufall? Vermutlich.


Aber ein guter Zufall. Denn was Fenster inzwischen schon seit ein paar Alben auszeichnet, ist diese ureigene Verbindung aus Stilsicherheit und Genre-Offenheit. Wie wenig anderen Indie-Bands gelingt es, enorm vielseitige Songideen zuzulassen und diese gleichzeitig schon ihrem Sound unterzuordnen. In jedem Part ist jedes Bandmitglied so vollkommen fixiert auf Ausdruck und Rhythmus, dass ihre Musik niemals ins Treiben gerät, was sie inzwischen perfektionieren konnten. Im Zentrum aller Subgenres, in die sie verfallen, steht die Stilisierung selbst. In diesem Sinne sind sie eine sehr kunstvolle Band, die sich mit The Room nun ein weiteres Denkmal gesetzt hat, aber mit dem Album auch ein gewisses Lebensgefühl trifft.

Auf der Platte perfektionieren Fenster letztlich vieles, was sie sich über ihre zwei früheren Studioalben und dem gemeinsam realisierten Sciene-Fiction-Kunstfilm und -Soundtrack Emocean erspielt haben. Auf Bones hatte 2011 noch Folk durchgeklungen, was ja schon der Ausgangspunkt vieler wichtiger Bands war. Genauso wichtig war jedoch für all diese Bands auch, sich später vom Folk zu emanzipieren. Nicht zuletzt, weil eine Band, die sich komplett auf ein Genre festgelegt hat, schon tot ist. Aber die Emanzipation haben Fenster im Grunde noch während des ersten Albums selbst vollzogen und war 2013 auf Album zwei, Pink Caves, schon komplett abgeschlossen. Hier widmete man sich schon vollkommen dem perfekten Sound, graste eher im Experimentellen und suchte und fand den gemeinsamen künstlerischen Ausdruck als Gruppe. Den transportierten sie mit dem Film Emocean 2015 aus der Musik heraus in eine visuelle Kunstwelt, um ihn weiter zu vergrößern. Der Soundtrack dazu pendelt sich für sich betrachtet zwischen Psychedelic und Launchmusik ein. Um es als eigenständiges Album werten zu können, fehlen ihm aber Antrieb und Richtung. Aber das geht ja den meisten entkoppelten Soundtracks so.

© Simon Menges

Umso besser, dass The Room, dem es an Antrieb nun wirklich nicht fehlt, sich weniger an Emocean und stärker an Pink Caves anlehnt und vom Film-Experiment nur freigestzte Sounds in ihr Songwriting einbringen. Sie fließen einfach mit hinein und zu einem Album zusammen, das gleichzeitig bunt, fließend und glatt wie keines der bisherigen klingt. Fast könnte man bei alledem vergessen, dass Fenster musikalisch eigentlich noch immer gar nicht allzu sehr festgelegt sind. Zwischen Dreampop, Shoegaze, Nintendo-Pop, Disco und Psychedelic scheint gerade ihre Entschlossenheit, ihr schlichter Groove das verbindende Element in fassettentreicher Umgebung. Zusammenfassend könnte man es wohl Surprise Pop nennen.

Aber Fenster sind auch eine Band, die in gewisser Weise einen Berliner Zeitgeist verkörpert und musikalisch konserviert. Immerhin fanden die internationalen Bandmitglieder hier zueinander. Und ihr Album spiegelt in seinem Aufbau ein Lebensgefühl wider, das schon viele Künstler*innen in die Stadt trieb und aktuell wieder eine brodelnde Szene formt: die kunstvolle Wahrnehmung einer vielseitigen Umwelt, ein Fokus auf das, was erfüllt, was Spaß macht und was dadurch teilbar wird. Und lebt als eine Adaption dieser Vielfalt. Ein solcher Berliner Zeitgeist lässt sich nicht auf eine Band, einen Sound oder ein Album herunterbrechen. Aber wollte man in ein paar Jahrzehnten einen Film über die 2010er Jahre in Berlin machen, täte man gut daran, Fenster in den Soundtrack aufzunehmen. Vielleicht drehen sie diesen Film ja sogar selbst.

Quelle: YouTube

The Room von Fenster enthält Two Doors sowie neun weitere Songs und erschien beim Label Altin Village & Mine.

Beitragsbild: © Fenster

US Emo, Level drei. Foxings Rundumschlag

2018. Die USA sind tief zerrissen in verfeindete Lager. Zumindest, was ihren Indie-Rock angeht. Gut, dass eine Band es schafft, die Subgenres zu einen. Auf Nearer My God trumpfen Foxing groß auf.


Vorweg eine These: Das neue Album einer Band ist immer dann automatisch ihr bestes, wenn in ihm alle früheren Alben aufgehen. Denn wo die alten mitgedacht sind, brauchen diese gar nicht mehr weiter angehört zu werden. Wenn dem so ist, ist Foxing nach zwei erfolgreichen Alben nun tatsächlich ein Genie-Streich gelungen. Sollte jemand wirklich seinen Musikgeschmack auf solche diskursiven Thesen reduzieren wollen, so bräuchte er sich nun weder jemals wieder die ersten beiden Foxing-Alben anzuhören noch irgendein anderes Album jüngerer US-Indierock-Geschichte. Denn auf Nearer My God ist schon alles mitgedacht, wodurch sich das Album sehr geschickt selbst in die Plattensammlung einräumt und dort sogar zum Bindeglied wird.

Nachdem Foxing auf Albatross noch teilweise hardcorige Songs ins Zentrum rückten, schien sich der Band-Fokus auf Dealer eher in Richtung ruhigerer, impulsiver Balladen zu bewegen, was ihnen immerhin Platz drei der US-Charts einbrachte, aber auch ein böses Omen fürs nachfolgende Album war. Denn wenn sie nun schon in diese Richtung gestartet sind – wohin soll der nächste Schritt führen? Auch Song eins von Album drei beruhigt nicht unmittelbar, beginnt tendenziell sogar eher unheilvoll, zumindest vor dem Hintergrund der Bandgeschichte, denn das Intro klingt definitiv nach weißem, wenn nicht sogar europäischem R’n’B, wie ihn zum Beispiel inzwischen die Arctic Monkeys oder die skandinavische Szene betreiben: gekonnt arrangiert, aber unterm Strich etwas dünn und künstlich. Zum Glück wechseln sie noch während des Songs das Genre, was sie auf dem Album zur Gewohnheit machen.

Immer wieder finden sich ungewohnte Elemente, mal gesampelter Gesang, dann Streicher, dann wieder der rifflastige Bombast-Rock, mit dem sie angetreten sind. Davon abgesehen gehen in Nearer My God auch verschiedenste Einflüsse der jüngeren US-amerikanischen Indie-Rock-Subkultur-Flügel auf: vom Indietronic, den Bands wie Owl City geprägt haben (zum Beispiel in der Vorabsingle Slapstick), bis zum guten alten Crossover á la Hot Action Cops oder Alien Ant Farm (zum Beispiel in der jüngsten Single Gameshark). Auch der Dance Rock kommt nicht zu kurz. Selten waren Songs eines dieser Genres so gut ausproduziert wie bei wie bei Foxing. Ein Glück, dass auch der vielseitig einsetzbare Frontmann Conor Murphy alle Flügelwechsel problemlos mitmacht, was das Album ebenfalls weiter glättet.

Quelle: YouTube

Am häufigsten lässt sich dann aber doch wieder diese neue Emo-Welle heraushören, zu denen neben Foxing vor allem andere Südstaaten-Bands wie Blis. oder Microwave, aber auch Künstler wie The Hotelier oder The Antlers gehören. Gegenüber ihren schwarzgefärbten, kajalbelegten Vorbildern der 2000er-Jahre pflegen sie optisch zwar ein authentischeres Auftreten, akustisch lassen sie aber keine Punkte in Sachen Verzweiflung oder großen Gesten liegen. Obwohl die Betitelung als Emo vielen Bands seit jeher verhasst ist, zeichnet sich hier eben doch ab, dass Drama und Pathos feste Größen im US-Independent-Bereich sind. Foxing jedenfalls gelingt nicht nur die Selbstverortung im eigenen Schaffen, das seit ihrer Gründung auf das neue Album zugelaufen zu sein scheint, sondern auch die Bündelung des Genres, das keines sein will.

Bloß ein Manko hat das Ganze am Ende doch: Die in der Theorie sympathische Aktion, den Titelsong Nearer My God in fünf Sprachen als Singles herauszubringen, führt, vorsichtig ausgedrückt, zu irritierenden Ergebnissen, und fand zum Glück außerhalb des Albums statt. Klingt die japanische Variante aus der Ferne noch recht muttersprachlich, hat die deutsche, so zumindest ein subjektiver Eindruck, etwas Befremdliches. Aber auch hierzulande scheitern ja nach wie vor viele Projekte daran, deutschsprachigen Indie gut klingen zu lassen. Und auch Foxing können am Ende nicht alles können. Wie beruhigend.

Quelle: YouTube

Nearer My God von Foxing erschien am 10. August 2018 bei Triple Crown Records.

Titelbild: © Hayden Molinarolo

Driftmachine – Shunter. Ein Lehrstück in Post-Music

Mit ihrem neuem Album präsentieren Driftmachine einen avantgardistischen Grenzgänger, der Sphären freisetzt zwischen Ambient- und Industrial-Sounds. Mit dramatischen Folgen.


Shunter ist das vierte Album des Berliner Duos Driftmachine – allesamt innerhalb der letzten vier Jahre beim mexikanischen Label Umor Rex veröffentlicht – und macht gegenüber der letzten Platte Radiations einen großen Sprung in Richtung Eigenständigkeit. Wobei Eigensinn und Eigenart es hier auch treffen würden. Nicht nur verabschieden Driftmachine sich weitgehend von Beats und typischen Synthesizer-Sounds. Teilweise verlassen ihre Sounds gar komplett die Klangsphären, die man klassischerweise als Musik bezeichnen würde, hin in eine, nomen est omen, maschinenhaften Geräuschkulisse – was auch durch den Einsatz von Field Recordings gestärkt wird.

Teilweise löst diese sich melodisch auf und schließt Kreise zu frühem Electro. Teilweise sind die Songs nur durch Wissen darüber, dass sie von Musikern aufgenommen wurden, überhaupt als Musik erkennbar. Eine Parallele zu Andy Warhols Brillo Boxes – die Arthur C. Danto als Schlüsselmoment einer Wende der Kunst bezeichnet hatte. Vielleicht ist die Zeit ja reif, eine solche Wende nun endlich auch in der Musik zu vollziehen. Der erste Bote eines solchen Prozesses wäre Shunter nicht. Psychedelische Elemente gibt es seit langem und Driftmachines Album ist auch nicht das erste, das in diese, wenn man es so nennen kann, Post-Music-Kerbe schlägt, Moonsynch von Mimicof wäre ein anderes Beispiel, aber Shunter führt den Ansatz ungewohnt konsequent aus. Zwar entstehen immer wieder Takte und regelmäßige Rhythmen. Aber die haben Maschinen ja nunmal auch.

Ein Eindruck:

Ein anderer Ausgangspunkt sind, wie schon bei Rayon, Film-Soundtracks, die ja auch gerne zwischen Musik und Geräusch springen und sich schon viel mehr Freiheiten erarbeitet haben, als Musik außerhalb von Filmen sie hat. Tatsächlich klingt Shunter wie der Soundtrack eines düsteren, dramatischen Films. Der Film dazu entsteht jedoch erst im Kopf. Und der namensgebende Rangierbahnhof wird kunstvoll eingehüllt in ein abstraktes, nicht-sprachliches Narrativ.

In bester Ambient-Manier bietet Driftmachine seinen Hörer*innen ein Entkommen in einen neuen Sinnkontext ihrer Umwelt an, der stilisiert ist. Nur, dass die Welt, in die hier entkommen wird, eher dystopisch und unbehaglich ist. Womit Driftmachine vielleicht andererseits auch genau einen Zeitgeist treffen. Es ist ja nicht das einzige düstere Konzeptalbum, das in diesen Tagen veröffentlicht wird, Get Well Soon etwa haben in dieser Woche ein Album über Albträume draußen:„The Horror“. Bei letzteren, die musikalisch natürlich aus völlig anderer Richtung kommen, werden Zusammenhänge und Bilder teilweise konkret: „I don’t think I can relax here anyway with nazi bitches speaking at my hood“. Bei Driftmachine verbleiben sie abstrakt, als verschwommene Halluzinationen. Doch „Shunter“ untermalt einen unbehaglichen Eindruck: Der Horror ist real, aber wir können ihn kunstvoll gestalten, um ihn auszuhalten.

Shunter von Driftmachine erscheint am 15. Juni 2018 bei Umor Rex.

Titelbild: © Misha Shkurat