Alle Artikel von Franziska Friemann

Last Night in the Bittersweet von Paolo Nutini

Lange war es still um den schottischen Künstler Paolo Nutini. Ganze acht Jahre sind vergangen seit seiner letzten Veröffentlichung. Im Juli meldete sich Nutini mit einem Album und Sound zurück, mit dem wohl niemand gerechnet hat. Über einen Künstler, der sich ständig weiterentwickeln will und dies auch kann.


Paolo Nutini ist zurück. Nach „These Streets“ (2006), „Sunny Side Up“ (2009) und „Caustic Love“ (2014) veröffentlicht Nutini sein viertes Studioalbum „Last Night in the Bittersweet“ (2022). Und man darf sagen: endlich! Acht Jahre musste man sich in Geduld üben. Nicht zum ersten Mal, denn Paolo Nutini ergibt sich nicht dem gewohnten Release-Rhythmus von zwei bis drei Jahren. Er nimmt sich Zeit. Nutini möchte sich weiterentwickeln und nicht wiederholen. Das, so viel sei schon vorab verraten, ist ihm mehr als nur gelungen. „Last Night in the Bittersweet“ ist eine 72-minütige in 16 Songs verpackte Masterclass, die sich so leicht nicht in Worte fassen lässt. Aber einen Versuch ist es wert.

Das Album eröffnet mit unerwarteten Klängen: In „Afterneath“ baut sich die Musik bedrohlich schleichend auf, durchsetzt von Klagerufen Nutinis, gefolgt von einem Sample von Patricia Arquette aus Tarantinos „True Romance“ (1993) sowie Beatnik-Poesie. Das ist erst einmal eine Ansage! Mit „Radio“ folgt eine melancholische Ballade, die ganz unaufgeregt daherkommt und gleichzeitig entwaffnend ehrlich ist.

Radio (Live In The Bittersweet)

Gemeinsam mit „Through the Echoes“ spannt „Radio“ eine verbindende Brücke zum 2014 erschienen Album „Caustic Love“. Sie bieten sicheres Geleit für die Hörer*innen ins neue Album, um dann sofort Platz zu machen für basslastigen Post-Punk-Sound („Acid Eyes“) und mit „Lose It“ Krautrock wieder aufleben zu lassen.

„Lose It“ bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022

In der zweiten Hälfte lässt sich Nutini weiter treiben durch die weite Welt der Musik-Genres: Von Fleetwood-Mac-/Stevie-Nicks-Hippie-Rock („Children of the Stars“) über New-Wave-Pop („Petrified in Love“) bis hin zur Piano-Ballade „Julianne“, die ganz im Stile Paul McCartneys ist. Dieser Sound-Mix dürfte eigentlich nicht funktionieren und wenn dann nur in Form eines Compilation-Albums. Doch „Last Night in the Bittersweet“ funktioniert. Gut sogar. Sehr gut. Denn alles wird von zwei Dingen zusammengehalten: viel Emotion und Paolo Nutinis Stimme.

„Through the Echoes” bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022

Und das Album funktioniert auch live. Auf der Bühne ist die Transformation des Künstlers sogar noch deutlicher zu sehen. 2007 stellte Rod Stewart in einer BBC-Dokumentation, die Nutini auf US-Promo-Reise seines ersten Albums „These Streets“ begleitete, fest: „He’s a bit awkward on the microphone at the moment. (…) He’s got to look at the audience more.“ Nutini hat damals noch fast ausschließlich vorneübergebeugt (man kann es nicht anders sagen) und mit geschlossenen Augen gesungen. Im Laufe der Jahre hat er sich aufgerichtet und angefangen, auf der Bühne zu tänzeln, das erinnerte aber eher an den etwas hüftsteifen Onkel auf einer Hochzeitsfeier. Und 15 Jahre später?

Als Paolo Nutini am Montagabend, den 26.9.2022, die Bühne des ausverkauften Leipziger Täubchenthals betritt, ist von Unbeholfenheit am Mikrofon nichts mehr zu sehen. Völlig gelöst, grinsend von einem Ohr zum anderen, steht und tanzt Nutini über die Bühne, hält lange und intensiven Blickkontakt mit dem Publikum. Als hätte dieses Album auch für die Liveshows eine Befreiung gebracht. Nutini und seine grandiose Band haben sichtlich Spaß an dem, was sie tun. Und das Publikum dankt es ihnen lautstark.

© Shamil Tanna / Atlantic Records UK

Am Ende des Konzertabends sitzt Paolo Nutini allein auf der Bühne: ohne Backdrop, ohne Video im Hintergrund, ohne Lichteffekte, ohne Band. Nichts lenkt ab, nichts, womit er konkurrieren müsste aber auch nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Er beendet den Abend wie auch das Album mit „Writer“, dem wohl persönlichsten Lied des Albums. „This is as honest as I can possibly be”, erklärt Nutini. Und das geht am besten mit der Akustikgitarre und dieser einzigartigen Stimme.


„Last Night in the Bittersweet“ erschien am 1. Juli 2022 bei Warner.

Titelbild: © Last Night in the Bittersweet, Shamil Tanna / Atlantic Records UK 

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Falling – Über die Unbarmherzigkeit von Demenz

„Falling“ ist schonungslos, fordernd und gleichzeitig von seltsamer Schönheit. Über das ambitionierte Regiedebüt von Viggo Mortensen.


Altern, toxische Männlichkeit, Demenz und der stetige Kampf um die Liebe und Akzeptanz des eigenen Vaters. Das sind sensible und anspruchsvolle Themen für einen Film, noch dazu für ein Regiedebüt. Liest man jedoch den Namen des Mannes, der sich dieser Themen angenommen hat, schwindet die Skepsis und das Interesse steigt: Viggo Mortensen. Der Schauspieler, Fotograf, Maler, Schriftsteller, Musiker (und rechtmäßiger König von Gondor) scheint so gar nicht in die glitzernde Welt Hollywoods zu passen. Seinen Weltruhm der Herr-der-Ringe-Saga hat Mortensen genutzt, um an Filmprojekten außerhalb der Hollywood-Blase und in Sprachen abseits von Englisch mitzuwirken. Jauja von Lisandro Alonso und Loin des hommes (Den Menschen so fern) von David Oelhoffen sind hier besonders sehenswerte Beispiele.

Nun hat sich Mortensen zum Regisseur entwickelt, und zu einem Drehbuchautor – das Drehbuch zu „Falling“ hat er nämlich auch selbst geschrieben.

Sohn John (Viggo Mortensen) mit Vater Willis (Lance Henriksen), © PROKINO

Ein Wiedersehen von Vater und Sohn

Der Film „Falling“ handelt von einer Vater-Sohn-Beziehung, die geprägt ist von konservativen Rollenbildern, Gewalt und Enttäuschung. Sohn John (Viggo Mortensen) konnte seit seiner Kindheit den Erwartungen seines Vaters Willis (Lance Henriksen) nicht entsprechen. Dies lässt ihn sein Vater bei jeder Gelegenheit spüren. Der nun erwachsene John hat sich komplett vom Vater abgewandt, ist ans andere Ende der USA gezogen und führt ein glückliches Leben in Kalifornien mit Ehemann Eric und Adoptivtochter Mónica. Sein mittlerweile verwitweter Vater lebt allein auf der im ländlichen New York gelegenen Familienfarm. Als dieser an Demenz erkrankt und nicht mehr für sich selbst sorgen kann, erklärt Willis sich widerwillig bereit, zu seinem Sohn nach Kalifornien überzusiedeln, in eine Welt, die er zutiefst verabscheut.

Willis (Lance Henriksen), © PROKINO

Ring frei für Lance Henriksen

Vater Willis ist ein alter, knorriger Mann, gezeichnet vom harten Farmleben, mit schneeweißen Haaren und konservativ bis aufs Mark. Die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau scheint für ihn naturgegeben, ebenso, was einen echten Mann auszumachen hat.

Willis ist direkt, geradeheraus und sagt ohne Umschweife was er denkt – ohne Rücksicht auf seine Umgebung. So gehören rassistische Ausdrücke ebenso zu seinem Standardrepertoir wie homophobe Beleidigungen. Wenn er flucht und schimpft, dann sind das keine beiläufigen, vor sich hingemurmelten Bemerkungen, seine Beleidigungen knallen wie Peitschenhiebe und seine Worte hängen lange im Raum und drohen die Luft zu vergiften. Ziel seiner Beleidigungen ist der eigene Sohn. Dieser gibt ihm nur selten kontra, versucht diplomatisch zu sein und Schwester Sarah, gespielt von Laura Linney, ist ihrem Vater gegenüber absolut hilflos. Weglächeln kann man die Beleidigungstiraden gegen seinen Sohn und seine Familie nicht, zu persönlich, zu verletzend und zu ehrlich empfunden sind diese.

Lance Henriksens ist großartig als Vater Willis. Seine sonore Stimme füllt jeden Raum und strotzt geradezu beängstigend vor Kraft. Doch Henriksen trifft auch die leisen Töne. Auf subtile Weise schafft er den Wechsel von Aggression zu Verzweiflung und Hilflosigkeit. Plötzlich sieht man Willis in einem anderen Licht. Man sieht den alten Mann, der er ist, der die Kontrolle verliert über sein Gedächtnis und seinen Verstand.

Der junge John (Grady McKenzie) mit dem jungen Vater Willis (Sverrir Guðnason), © PROKINO

Rückblenden: Zwischen Realität und Verklärung

In vielen Rückblenden lernen wir den jungen Willis kennen, gespielt von Sverrir Guðnason (bekannt aus Mankells Wallander), der sich zunächst Mühe gibt, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen. Die allmähliche Enttäuschung über die Entwicklung, die sein Sohn und Willis‘ Frau, die den Jungen zu schützen versucht, vollziehen, lässt ihn immer dominanter, aggressiver und bedrohlicher werden. Guðnason verkörpert die Rolle eines Mannes, der sich mehr und mehr verloren und überfordert fühlt und dieses Gefühl mit Aggression und Gewalt zu kompensieren versucht, erschreckend überzeugend. Ein glücklicher Gesichtsausdruck und ein verliebtes Lächeln wechseln in einem Bruchteil einer Sekunde zu einem eiskalten und fiesen Blick voller Verachtung für seine Mitmenschen.

Die Rückblenden offenbaren zudem Willis Zustand im Hier und Jetzt. Je unsicherer der nun alte Willis ist, desto schöner, wärmer und verklärter werden seine Erinnerungen. Je idyllischer Willis Erinnerungen jedoch sind, desto stärker drängen sich die grausamen Erinnerungen des verletzten, jetzt erwachsenen Sohns in den Vordergrund. Wessen Erinnerungen der Wirklichkeit entsprechen, bleibt offen, vermutlich aber beide.

Beruhigendes Naturidyll

Der beschwerlichen Vater-Sohn-Beziehung stellen Mortensen und der dänische Kameramann Marcel Zyskind Naturaufnahmen entgegen. Jede Komposition ist dabei so schön, dass man sie gerne Rahmen möchte. Dieser Blick in die Natur gibt der Geschichte und den Emotionen Raum und ermöglicht gleichzeitig Momente, die verkrampften Fäuste zu lösen und tief durchzuatmen. Um sich dann wieder der Wut und Verachtung des Vaters ausgesetzt zu sehen, sodass der Atem wieder stockt und der Körper verkrampft.

Mit „Falling“ hat sich Viggo Mortensen viel vorgenommen und viel geschafft. Er beleuchtet die Unbarmherzigkeit der Krankheit Demenz und zeichnet eine Vater-Sohn-Beziehung, die neben der Krankheit vielen Belastungen ausgesetzt ist, nicht zuletzt der Vergangenheit, die mehr und mehr verschwimmt.

Titelbild: © PROKINO

Die Weltpremiere fand im Rahmen des Sundance Film Festivals im Januar 2020 statt. Seinen deutschlandweiten Kinostart hat „Falling“ am 12. August 2021.

Hier gibt es schon mal den Trailer:

Quelle: YouTube

NAHSCHUSS

Nahschuss, Regie: Franziska Stünkel, Kamera: Nikolai von Graevenitz, Bild: Lars Eidinger (Franz Walter)

Inspiriert von der Geschichte Werner Teskes erzählt Franziska Stünkel in ihrem Film NAHSCHUSS auf berührende und eindringliche Weise über die Todesstrafe in der DDR und die Geschichte eines Mannes, der seinen Halt und sein Vertrauen in und durch ein System nach und nach verliert.


Die Premiere des Films NAHSCHUSS findet am 4. Juli beim Filmfest München statt. Der Film thematisiert die Todesstrafe in der DDR – nicht unbedingt ein Thema, das nach Open-Air-Sommer-Popcorn-Kino schreit. Die Regisseurin Franziska Stünkel, die wir am Premierentag über Zoom sprechen, ist dennoch glücklich, ihren Film jetzt endlich auf der großen Leinwand einem Publikum präsentieren zu können:

„Es ist eine große Freude, dass Kino wieder möglich ist. Dass es diesen Raum wieder als kollektives Seh- und Fühlerlebnis gibt, um Themen zu sich zu lassen und in den Diskurs zu gehen.“

Franz Walter (Lars Eidinger) mit seiner Frau Corina (Luise Heyer), © Alamode Film

Werner Teske und die Todesstrafe in der DDR

Auf das Thema ist die in Göttingen geborene Fotokünstlerin und Filmregisseurin eher zufällig gestoßen. Von der Todesstrafe in der DDR hat sie beiläufig, in einem Nebensatz eines Artikels, erfahren. Bei der Recherche ist sie dann auf ein Foto von Werner Teske gestoßen, dem letzten offiziellen Hinrichtungsopfer der DDR. Stünkel wird schnell klar, dass dies das Thema ihres neuen Filmes sein wird. Das Schicksal dieses Menschen interessiert und bewegt sie:

„Das Foto war die Initialzündung. Denn man macht Filme nicht über ein Thema, sondern über Menschen. Und dann bin ich diesem Menschen gefolgt“

Die Geschichte von Franz Walter

Inspiriert vom Schicksal Werner Teskes erzählt Stünkel in NAHSCHUSS die Geschichte von Franz Walter (Lars Eidinger). Frisch promoviert wird Franz eine Professur an der Universität in Aussicht gestellt, eine Position, die manche nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit nicht erreichen. An diese Stelle sind Bedingungen geknüpft. Bevor Franz diese antreten kann, soll er für die HVA (Hauptverwaltung Aufklärung der Staatssicherheit) arbeiten, wie ihm Dirk Hartmann (Devid Striesow) in einer konspirativen Wohnung eröffnet – alles unter strenger Geheimhaltung. Diese Position bringt viele Vorzüge mit sich und Franz genießt sein neues Leben mit Freundin Corina (Luise Heyer). Als die Anforderungen an ihn steigen und die Aufträge nicht mehr mit seinem Gewissen zu vereinbaren sind, ist es zu spät. Franz findet sich in einem System wieder, das ihn und alles kontrolliert und aus dem es kein Entkommen gibt.

Franz Walter (Lars Eidinger), © Alamode Film

Seite an Seite mit Franz

In ruhigen, langen Einstellungen und ganz ohne spezielle Effekte oder leitende Musik, schafft Franziska Stünkel in kürzester Zeit eine enorme Nähe zu Protagonist Franz herzustellen. Als Zuschauer٭in weicht man Franz nicht von der Seite, es gibt keine Szene ohne ihn. Wir sehen, was er sieht und wir erleben, was er erlebt. „Man schaut Franz zu wie ein Gefühl entsteht und eine Entscheidung“, erklärt Stünkel. Und man bleibt weiter bei ihm. Franz‘ persönlicher Entwicklung wird damit viel Zeit und Raum gegeben. Die Entscheidungen werden dadurch nachvollziehbar und es schafft zudem eine Intimität und intensive Beziehung zwischen Publikum und Protagonist.

Die entstandene Empathie für Franz weckt ehrliches Bangen um sein Schicksal. Was den Zuschauer٭innen viel Stärke abverlangt. Man ist erschüttert über die Wendungen, die Franz‘ Leben nimmt, über plötzlich ins Wanken geratenes Vertrauen zu nahestehenden Personen und über Entscheidungen, die sich als Fehler herausstellen. Hätte man nicht gleich gehandelt an Franz‘ Stelle? Franziska Stünkel beschreibt dazu: „Man muss es auch aushalten, einem Menschen lange zuzusehen, seinem Gegenüber. Da spürt man dann erst: die Angst, Ablehnung, Zuneigung oder Unsicherheit.“ All das spüren wir in Franz und in uns.

Das Team: „Lars, Devid und Luise waren große Wunscherfüllungen.“

Für diese rohe und intime Erzählweise braucht man einen fähigen Schauspieler. In Lars Eidinger hat Franziska Stünkel einen solchen gefunden: „Mir lag es sehr am Herzen, für den Franz diesen Menschen und Schauspieler zu finden, der diese Radikalität und Authentizität vermag herzustellen, da war Lars Eidinger der absolute Wunsch von mir.“

Stünkel war es wichtig, mit Schauspieler٭innen zu arbeiten, denen bewusst war, worum es in der Geschichte im Eigentlichen geht. Auch war es ihr wichtig, an Originalschauplätzen zu drehen. Sie betont: „Ich glaube sehr an die Kraft von Orten.“ Hier waren die Schauspieler٭innen und das Team hinter der Kamera eine Einheit, wofür Stünkel sehr dankbar ist. Dort konnten sie, wie Franziska Stünkel sagt, „eine Konzentration erzeugen, in der wir die Räume auch wahrnehmen konnten, sodass Lars, Devid und Luise in ihren Rollen dort einfach waren.“

So endgültig Franz Walters Schicksal im Film ist, so unausgesprochen bleibt vieles. Ganz bewusst, wie Stünkel sagt, denn der „Film möchte auch Fragen stellen dürfen.“ Er wirft viele Fragen auf: historische, politische und persönliche. NAHSCHUSS ist:

„… die Geschichte von Franz. Und dieser Film erzählt die Todesstrafe in der DDR. Mir geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen und einen Diskurs aufzutun.“

Alle Zitate: Franziska Stünkel

Das ist ihr unserer Meinung nach gelungen. Wir möchten an dieser Stelle Franziska Stünkel ganz herzlich für das schöne, aufschlussreiche Gespräch danken und allen Leser٭innen sehr ans Herz legen, NAHSCHUSS im Kino anzusehen. Der deutschlandweite Kinostart ist am 12. August 2021.

Regie & Drehbuch: Franziska Stünkel

Kamera: Nikolai von Gravenitz

Montage: Andrea Mertens

Musik: Sebastian Karim Elias

Szenenbild: Anke Osterloh

Vor der Kamera: Lars Eidinger, Luise Heyer, Devid Striesow, Paula Kalenberg, Moritz Jahn, Peter Lohmeyer u. v. m.

„Die einzige Heilung von Ängsten ist, sich ihnen zu stellen“ – Lars Eidinger im Interview

Der Jude Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) kann seiner Exekution entkommen, indem er vorgibt Perser zu sein. Diese Lüge rettet ihn und bringt ihn doch weiter in Gefahr. Gilles wird beauftragt SS-Offizier Koch (Lars Eidinger) Farsi beizubringen – eine Sprache, die Gilles nicht spricht und nun Wort für Wort erfinden muss. Mit seinem Film „Persischstunden“ fordert Regisseur Vadim Perelman sein Publikum heraus. Dass dies auch schmerzhaft für ihn als Schauspieler war, erzählt uns Lars Eidinger im Gespräch.


Herr Eidinger, für Regisseur Vadim Perelman waren sowohl Sie als auch Nahuel Pérez Biscayart seine erste Wahl für die Besetzung der Protagonisten Koch und Gilles. War Ihnen das auch sofort klar?

Dass ich die erste Wahl bin? (lacht)

Dass Sie Koch spielen möchten?

Das war mir klar, nachdem ich das Drehbuch gelesen habe. Selten habe ich ein Buch gelesen, das mir so eingeleuchtet hat. Ich dachte, wenn man diesem Thema begegnen will, dann ist das die adäquate Form. Ich bin inzwischen sehr vorsichtig, was Drehbücher angeht, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielen. Hier besteht oft die Gefahr, dass man Geschichte verharmlost, banalisiert oder vielleicht sogar verfälscht.

Was genau hat Sie an diesem Drehbuch angesprochen?

Es ist ein genialer Kunstgriff, eine Verbindung zweier Menschen über eine Sprache zu erzählen, die einer der beiden nur erfindet. Dass sie sich in dieser Sprache treffen und eine Intimität entsteht. Gleichzeitig macht er uns bewusst, was Sprache – und auch Religion und Nationalität – eigentlich ist. Etwas, das von Menschen gemacht ist. Und umso absurder ist es, jemanden dafür zu verurteilen.

Kann denn Kochs und Gilles’ Beziehung wirklich auf Augenhöhe stattfinden?

Ja, auf einer emotionalen Ebene. Aber natürlich ist die Beziehung auch ein Missverständnis. Einmal, weil die Sprache gar nicht existiert. Aber auch, weil diese Sprache für beide eine unterschiedliche Bedeutung hat. Koch erzählt zwar, dass er die Sprache lernen will, weil er ein Restaurant in Teheran eröffnen möchte. Ich habe es mir jedoch so konstruiert, dass Koch sich in eine Perserin verliebt hat. Für mich als Klaus Koch war dieses „Fake-Farsi“ somit die Sprache der Liebe und für Gilles die Sprache des Überlebens. Bei dem einen geht es um Liebe, bei dem anderen ums Leben. Insofern missverstehen sie sich und begegnen sich gar nicht.

Nahuel Pérez Biscayart und Lars Eidinger in Persischstunden, © Alamode Film

Das „Fake-Farsi“ ist zwar die Sprache der Liebe und des Überlebens. Aber doch auch der Toten …

Ja, das Besondere an dieser Sprache ist, dass sie sich aus den Namen der Insassen speist. Gilles kann die Vokabeln nicht aufschreiben, da er vorgibt, die Sprache zu kennen. Er orientiert sich also an den Namen auf den Listen. „Ich“ heißt beispielsweise „il“, wie Gilles, und „duheißt „au“ wie Klaus.

Und ausgerechnet durch diese Sprache kann sich Koch öffnen.

Meine Figur wird eingeführt als jemand, der Schwierigkeiten mit der Sprache hat und im Deutschen stottert. Kochs Aggression und Dominanz haben viel damit zu tun hat, dass er seine Ängste und Minderwertigkeitskomplexe kompensiert. Diese kommen auch durch das Stottern zum Ausdruck. Das „Fake-Farsi“ ist eine Sprache, in der er plötzlich frei ist.

Inwiefern wird Koch frei?

Koch befürchtet die ganze Zeit, dass man sich über ihn lustig macht. Somit, glaube ich, ist es kein Zufall, dass er jemandem begegnet, der das tatsächlich tut und ihn hintergeht. Diese Person erklärt er zu seinem engsten Verbündeten. Und in letzter Konsequenz weiß Koch sogar, dass er belogen wird. Aber er spielt dieses Spiel mit. Auch Gilles weiß, dass Klaus Koch weiß, dass Gilles ihn betrügt. Beide spielen mit. Das ist wie eine Vereinbarung. Ich fand es interessant, zu behaupten, dass das die eigentliche Intimität ist: das Teilen eines Geheimnisses.

Warum lässt sich Koch hintergehen, obwohl das seine größte Angst zu sein scheint?

Ich glaube, weil die einzige Heilung von Ängsten ist, sich ihnen zu stellen. Ihnen nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sich mit ihnen zu konfrontieren.

„Konfrontieren“ ist ein gutes Stichwort. Als Zuschauer*in wird man mit dem Menschen Klaus Koch konfrontiert und kann ihm nicht den für Zuschauer*innen erlösenden Stempel „typischer Nazi, abnormal, böse“ aufdrücken, aber ihn auch nicht als glückliche Ausnahme freisprechen.

Das stimmt.

Wie haben Sie die Figur Koch mit sich und dem Regisseur Vadim Perelman verhandelt?

Wahrscheinlich ist „Konfrontation“ hier wirklich das richtige Stichwort. So versuche ich, allen Figuren zu begegnen. Ich glaube, das ist der Schlüssel. Sowohl für mich als auch für den Zuschauer, eine Erkenntnis zu gewinnen. Man konfrontiert sich mit diesen Figuren und begeht nicht den Fehler, sie von sich wegzuhalten. Denn gerade bei einer Figur wie Koch besteht die Gefahr, zu sagen: „Das hat mit mir nichts zu tun“. Ich glaube, so banal das klingen mag: Es gibt viele Leute, die sich nicht vorstellen können, im Nationalsozialismus auf der Seite der Nationalsozialisten gewesen zu sein. Dabei war es eine Mehrheitsbewegung. Das vergessen die Menschen. Im Nachhinein wird es oft verklärt: „Nazis waren eigentlich nur Hitler, Goebbels, Göring, Himmler. Der Rest waren nur Soldaten, die für sie gekämpft haben.“ Das Gegenteil ist ja der Fall. Und damit muss man sich auseinandersetzen. Es hilft also, zu versuchen, sich in jemandem wie Klaus Koch zu sehen und sich mit ihm zu identifizieren. Dieser Versuch ist natürlich schmerzhaft – auch für mich als Spieler. Es ist immer leichter, sich zu schützen und so etwas von sich wegzuhalten.

Es war sehr bedrückend zu sehen, wie – jetzt hätte ich beinahe menschlich gesagt – aber wie nahbar dieser SS-Offizier gezeigt wird. Menschlich waren und sind ja alle …

Ganz genau, das ist, finde ich, ein interessanter Punkt. Ich habe schon so oft auch im Zusammenhang mit Der Untergang gehört: Man zeige Hitler als Menschen. Das ist doch total abstrus. Natürlich wäre nichts schöner, als die Erkenntnis zu sagen: „Zum Glück, die Nationalsozialisten waren Außerirdische, die sich der Welt bemächtigt haben, und es hat mit uns nichts zu tun.“ Aber die Erkenntnis ist ja, zu sagen: „Das waren Menschen wie du und ich. Das waren wir. Da muss man sich stellen“.

Schon im Geschichtsunterricht bin ich darüber gestolpert, dass gesagt wurde, Hitler habe man am Anfang verharmlost und über ihn gelacht. Die größte Witzfigur unserer Zeit ist Donald Trump, der gefährlichste Mensch. Und ich glaube, es ist an der Zeit, aufzuhören, über diese Menschen zu lachen und anzufangen sie ernst zu nehmen. Und sich ihrer Gefährlichkeit zu stellen.

Wenn man jemanden als Witzfigur abtut, muss man sich nicht ernsthaft mit ihr auseinandersetzen …

Genau, und man erhöht sich und nimmt sich den Impuls zu rebellieren. Der Widerstand oder das Aufbegehren gegen eine Witzfigur verpufft. Ein Feindbild lädt ja viel mehr dazu ein, angegriffen zu werden, als jemand, über den ich lachen kann.

Hatten Sie trotz allem Bedenken, Ihre Figur zu nahbar darzustellen?

Ich war schon überrascht, dass Vadim Perelman der Figur Koch so viel Zuneigung entgegengebracht hat, bis hin zu einer gewissen Sympathie. Es hat, glaube ich, geholfen, dass Vadim Perelman selbst Jude und kein Deutscher, sondern Ukrainer ist, der in Kanada lebt und mit einer Distanz darauf schaut. Vielleicht erlaubt ihm das eher, sich eine Sympathie oder Identifikation einzugestehen. Aber ich denke, dass man solche Figuren gar nicht nahbar genug darstellen kann, eher erhört es den Konflikt. Denn wenn es gelingt, diese Figuren nachvollziehbar zu erzählen, dann ist es für den Zuschauer noch schwerer sie von sich wegzuhalten. Und das ist ja der Anspruch eines solchen Films. Dass der Zuschauer sich erkennt und in einen Konflikt gerät, auch mit sich selbst.

 

Quelle: YouTube

Die Weltpremiere von „Persischstunden“ fand am 22. Februar 2020 als Teil der 70. Berlinale in der Sektion Berlinale Special Gala statt. Am 24. September 2020 ist nun der Kinostart in Deutschland. Der Film von Regisseur Vadim Perelman und Drehbuchautor Ilya Zofin wurde 2019 in Deutschland und Russland produziert und ist 127 Minuten lang.

Vor der Kamera mit dabei: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger, Jonas Nay, Leonie Benesch, Alexander Beyer, Luisa-Céline Gaffron, David Schütter, Guiseppe Schillaci, Antonin Chalon, Mehdi Rahim-Silvioli, u.v.m.

Mehr über Lars Eidinger bei postmondän findet ihr hier.

Titelbild: © Alamode Film

 

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„Schwesterlein“ – nicht ohne ihr Brüderlein

Nina Hoss und Lars Eidinger arbeiten sich im Schweizer Wettbewerbsbeitrag „Schwesterlein“ von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond der 70. Berlinale an existenziellen Themen wie Kreativität als Lebenskraft, dem besonderen Band zwischen Geschwistern und der Angst, Abschied zu nehmen, ab und glänzen im einfühlsamen Spiel miteinander.


Lisa (Nina Hoss) ist Dramaturgin, kann jedoch seit der Leukämiediagnose ihres Zwillingsbruders Sven (Lars Eidinger) nicht mehr schreiben. Sie lebt mit ihrem Mann Martin (Jens Albinus) und ihren zwei Kindern in der Schweiz. Dort leitet Martin ein Eliteinternat. Lisa lenkt sich mit den Pflichten, die sich daraus für sie ergeben, mehr oder weniger erfolgreich von ihrer Kreativitäts- und Schreibblockade ab. Ihr Bruder Sven ist der Star der Schaubühne, Publikumsliebling und nicht zuletzt in seiner Paraderolle als dänischer Prinz Hamlet ein Garant für ein volles Haus. Der Wille, als Hamlet auf die Bühne zurückzukehren, treibt Sven an, gegen seine Krankheit zu kämpfen. David (Thomas Ostermeier) – seines Zeichens Regisseur der Schaubühne – probt derweil das Stück mit der Zweitbesetzung. Lisa glaubt wie ihr Bruder an seine Rückkehr auf die Theaterbühne und versucht ihn gesund zu pflegen. Nach einem erneuten Zusammenbruch und der Verschlechterung von Svens gesundheitlicher Verfassung, müssen beide jedoch die Realität akzeptieren. Lisa findet dadurch zurück zum Schreiben und Sven die Kraft mit dem Kämpfen aufzuhören.

David (Thomas Ostermeier) und Lisa (Nina Hoss), © Vega Film 

Schwester und Bruder gegen den Rest

„Schwesterlein“ beleuchtet eine ganz besondere Geschwisterbeziehung. Zwillinge, die ohne einander nicht können – die beiden gegen den Rest. Ihre Mutter (Marthe Keller): eine ich-bezogene, verhuschte und wenig bodenständige Frau, die einst selbst Schauspielerin war und nun dem politischen Theater Brechts nachtrauert. Lisa und Sven waren also schon immer auf sich gestellt und mussten sich gegenseitig Halt geben, um nicht unterzugehen. Auch dem Regisseur der Schaubühne treten die beiden entgegen. Dieser zweifelt an der Genesung Svens und lehnt seine Rückkehr auf die Bühne ab. Später streicht er sogar die geplante Wiederaufnahme Hamlets und setzt das Stück ab. Niemand scheint die beiden so zu verstehen, wie sie einander verstehen. So versteht auch niemand, dass Sven nicht gesund werden muss, um auf die Bühne zurückzukehren, sondern eben auf die Bühne zurückkehren muss, um gesund zu werden. Die zwei Minuten jüngere Schwester Lisa kümmert sich aufopferungsvoll um ihren „großen“ Bruder. Tut alles für ihn, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für ihr eigenes Leben.  Schlussendlich kann sie nur tun, was sie seit der Diagnose ihres Bruders nicht mehr tun konnte: Sie schreibt. Für ihn.

Sven (Lars Eidinger) als Prinz Hamlet, © Vega Film

Déjà-vu in einer parallelen Realität

Zu Beginn des Films wirken das Ensemble sowie der Schauplatz, die Schaubühne am Lehniner Platz, befremdlich real. Zu bekannt ist alles. Lars Eidinger spielt Sven, der Hamlet unter der Regie von David, also Thomas Ostermeier, an der Schaubühne spielt. Oder ist Sven doch einfach Lars Eidinger, der im realen Leben Hamlet an der Schaubühne spielt? Man könnte sich hier lange aufhalten und schwadronieren, wie viel Lars Eidinger in Sven, wie viel Thomas Ostermeier in David oder Nina Hoss in Lisa steckt, doch zielt dieses Spiel zwischen den Ebenen auf mehr ab, als Verwirrung beim Publikum zu stiften und Online-Publikationen Futter für Schlagzeilen à la „Selbstdarsteller Eidinger spielt sich selbst“ zu bieten. Es zeigt, wie sehr sich Fiktion und Realität in der Kunst verschränken. Wie sehr Kunst – und in Svens Fall das Schauspiel – kräftezehrend ist, aber gleichzeitig absolute Lebenskraft und -mut bedeutet. Dass die Realität ohne die Fiktion, also der Schauspieler und die Dramaturgin nicht ohne die Kunst sein können und zugrunde gehen. Wäre Sven als Hamlet genesen? Auf der Bühne kann ein٭e Künstler٭in unsterblich werden, doch was ist, wenn ein٭e Künstler٭in auf der Bühne stirbt?

Berührende Vertrautheit der Protagonist٭innen

Bleibt noch die überragende Schauspielleistung der Protagonist٭innen zu betonen. Unheimlich ehrlich und ernsthaft, stark und gleichzeitig verletzlich. In einem Moment erlebt man, wie Sven eine angsteinflößend reale Panikattacke beim Gleitschirmfliegen erleidet, dass sich selbst bei höhenerprobten Menschen kalter Angstschweiß auf der Stirn bildet, und im anderen Moment durchlebt man den kompletten Nervenzusammenbruch Lisas vor einem Krankenhaus-Kaffeeautomaten. Besonders beeindruckend ist, dass die beiden nicht nebeneinander, sondern eben miteinander spielen. Kleine, subtile Gesten und kurze Blicke, die sich die beiden zuwerfen, vermitteln eine Vertrautheit, eine Art Seelenverwandtschaft, die man selten so ernsthaft und frei von Kitsch gesehen hat. Eine der wohl rührendsten Szenen des Films zeigt genau das: Lisa umsorgt ihren Bruder, während dieser sich völlig erschöpft und betrunken übergibt. Sven wiederum sorgt sich um seine kleine Schwester Lisa. Sagt, weinend, kindlich hilflos, doch absolut ehrlich: „Du bist doch mein Schwesterlein, oder? (…) Ich muss auf dich aufpassen.“

Die Premiere fand 24.02.2020 im Rahmen der 70. Berlinale als Teil des offiziellen Wettbewerbs statt. Seinen Kinostart hat „Schwesterlein“ am 29.10. Bis dahin gibt’s schonmal den Trailer:

Quelle: YouTube
Titelbild: © Vega Film

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