Alle Artikel von Dennis Mombauer

Neun Seltsamkeiten in deutscher Sprache – NIGHTTRAIN: WINDSCHATTEN

Erik R. Andara, Sascha Dinse, Ina Elbracht, Christian Veit Eschenfelder, Alla Leshenko, Michael Perkampus, Tobias Reckermann, Philipp Schaab und Felix Woitkowski: Sie alle sind mit ihren „dunkelfantastischen Genregrenzgängen“ in einem Band versammelt, der nach „Next Weird“ nun das Projekt einer deutschsprachigen Weird Fiction weiter vorantreibt.


Den 6. März 2019 kann man sich getrost als wichtiges Datum für die deutschsprachige Weird Fiction merken. Es ist der Erscheinungstag von „Nighttrain: Windschatten“, einer 120-seitigen Anthologie mit Kurzgeschichten von neun deutschen Autoren und Autorinnen. Sie versammelt alte und neue, etablierte und aufstrebende AutorInnen, die einen spannenden Querschnitt durch das bieten, was weit abseits des Mainstreams in den Schatten wächst und gedeiht.

Kurze Eindrücke der Weird Fiction

Die erste Geschichte, „Nachsehen“ von Ina Elbracht, gibt direkt den Ton vor. Altbekannte Themen von Hoffmanns „Sandmann“ bis zu „Blade Runner“ werden in eine zeitgemäße Form gebracht: Wer ist echt, wer ist künstlich, und wie erkennt man den Unterschied? Das Ende kommt abrupt, für meinen Geschmack hätte die Geschichte ruhig länger sein dürfen – aber das ist vielleicht auch den Beschränkungen einer Anthologie geschuldet.

Christian Veit Eschenfelders „Sagittarius“ ist eine Science-Fiction-Geschichte in einer wirklich sonderbaren, beeindruckend ausgearbeiteten Zukunft. Der Protagonist ist ein Hehler unmöglicher Waren und die Geschichte ein perfektes Beispiel für das, was diese Anthologie ausmacht: eindringliche Atmosphäre und echte Seltsamkeit. Wie bei „Nachsehen“ kommt für mich auch bei Erik R. Andaras Geschichte „Das Zittern der Welt“ das Ende zu plötzlich, viele Fragen bleiben offen – aber der Weg dahin ist wahrhaft lohnend. Andara bedient sich eines hypnotischen Stils, um den Leser tief in die Welt eines Mannes mit hämmernden Kopfschmerzen und zusammengekniffenen Augen zu versetzen. Unmöglich, die Geschichte nicht in einem Rutsch zu lesen!

Surreale Unheimlichkeiten

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ von Alla Leshenko ist die vierte Geschichte des Bandes. Ein Mann sieht Dinge und verliert die Kontrolle über sein Leben. Während er einen Account bei einer Online-Partnerbörse einrichtet, wird er von grausigen Visionen und schließlich einer handfesten Erscheinung heimgesucht. Die Autorin experimentiert mit zwei Perspektiven (Dittrich und Doris) und verleiht damit dem Schluss zusätzliche Wucht. „Die Stadt der Leuchtenden Schmetterlinge“ ist der Beitrag von Philipp Schabe und entführt seine LeserInnen in einen italienischen Friedhof, der für den Protagonisten zu neuem (altem?) Leben und grotesken Proportionen erwacht. Die Geschichte nimmt sich Zeit, bis sie plötzlich ins Grauenhafte abrutscht und der Protagonist verzweifelt versucht, in die normale Welt zurückzukehren.

Sascha Dinses „Mise en abyme“ ist surreal und unheimlich; die Stadt verwandelt sich in etwas Unbekanntes und Unverständliches, in eine von Ratten beherrschte Welt. Ist die Wirklichkeit das, wofür wir sie halten? Dinse erzeugt eine großartige Atmosphäre und treibt seinen Protagonisten mit gruseligen Gesprächen und Szenen voran. „Die Straße ‚Malheur‘“ von Michael Perkampus handelt von der titelgebenden Straße, die wie aus einer anderen Welt unheilvoll ins Herz einer Stadt eindringt. Die Sprache ist lyrisch und verspielt, lenkt jedoch nicht von den Schrecken der Straße ab: Und die Verortung in der Geschichte trägt sehr dazu bei, eine glaubhafte „Suspension of disbelief“ zu ermöglichen.

Vertrautheit, Unvertrautheit

Tobias Reckermann ist Herausgeber der Anthologie und hat selbst auch eine Geschichte beigetragen: „Weg hinauf“. Die Geschichte ist die kürzeste des Bandes und lebt vor allem von ihren plastischen Beschreibungen. Der Protagonist klettert in eine Höhle, in der sich insbesondere die Felszeichnungen einer Jagd dauerhaft ins Gedächtnis einbrennen. Die letzte Geschichte der Anthologie ist schließlich Felix Woitkowskis „Membran“, in der die nächtliche Erforschung eines Hauses schnell ins Bizarre abgleitet und sich zum Ende hin dramatisch zuspitzt. Sie mischt Kafka mit Urban Exploration und erzeugt dabei etwas ganz Eigenes, das ich in dieser Form vorher noch nicht gelesen hatte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass alle Geschichten in „Nighttrain: Windschatten“ mehr oder weniger kurze Ausschnitte darstellen, sie sind streifende Schlaglichter in der großen Dunkelheit der deutschsprachigen Weird Fiction. Sie sind im Alltag angesiedelt, in den plötzlich das Unvertraute eindringt: entweder als Seltsamkeit in die gewöhnliche Welt oder als unerwartete Seltsamkeit in eine ohnehin seltsame Welt.

Viele Erzählungen haben ein offenes Ende ohne definitive Antworten, nur selten erfährt man das Wie, Was oder Warum. Die Schauplätze sind liebevoll ausgearbeitet und mit Details für alle Sinne zum Leben erweckt; sie erzeugen eine starke, greifbare Atmosphäre, die den Leser oder die Leserin regelrecht einsaugen kann. Die ProtagonistInnen sind oft verschrobene EinzelgängerInnen, die bereits zu Beginn von der Gesellschaft isoliert und somit anfälliger für die Sonderbarkeiten jenseits ihrer Sperrzäune sind. Es geht also um Grenzgänge, um die Seiten der Welt, die normalerweise in ihren Ecken und Falten verborgen sind: Und es geht um die Entfremdung, die oft unter der Last des Alltags verschüttet wird. Von mir eine klare Leseempfehlung.

„Windschatten“ erschien am 6. März 2019 bei Nighttrain und hat 120 Seiten.

Coverbild: © Nighttrain

Kunst und kosmisches Grauen – HINAUS DURCH DIE ZWEITE TÜR

Eine Vernissage im Wald. Ein heruntergekommener Wohnwagen. Zwei Freunde, zwei Künstler: einer, dessen echtes Talent verkümmert ist, und einer, dessen Teufelspakt mit den Musen sein verkümmertes Talent echt werden lässt. In einer nur hundertseitigen Novelle erweckt Erik R. Andara die alten Meister des kosmischen Grauens zu neuem Leben und geht gleichzeitig über sie hinaus, um mit seiner Geschichte über Kunst und deren Preis auf eigenen Füßen zu stehen.


Am 29. September 2018 erschien im Nighttrain (einem Imprint des Whitetrain) die auf 100 Exemplare und 100 Seiten limitierte Novelle „Hinaus durch die zweite Tür“ von Erik R. Andara. Wer bislang noch nie von Andara gehört hat, sollte sich den Namen nun merken: sein Roman-Debüt „Im Garten Numen“ wird in Kürze erscheinen und könnte eine Renaissance der deutschsprachigen Weird Fiction befördern.

„Hinaus durch die zweite Tür“ ist rasch zu lesen und auf der Erzählebene nicht allzu kompliziert. Alles beginnt auf einer Lichtung im Wald. Alfred hat sein unbestreitbares Talent und seine gleißende Zukunft als Maler für ein geregeltes Einkommen und eine ereignislose Ehe begraben. Sein weit weniger talentierter Ex-Kommilitone Claus Patera hat zu einer Freiluft-Vernissage in der Wildnis geladen: und alles, was in der Kunstwelt Rang und Namen hat, ist gekommen.

Doch die Dinge sind nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: Claus Patera hat sich verändert, und die Lichtung ist nun Teil seiner fremdartigen und verstörenden Welt. Die Novelle lässt sich im Wesentlichen in drei Teile gliedern: Sie beginnt mit Alfreds Ankunft auf der Lichtung, geht dann in die von Claus (der nicht nur wortwörtlich sein Gesicht verloren hat) erzählte Hintergrundgeschichte über, und kulminiert in einem letzten Akt, über den ich hier nicht zu viel verraten möchte.

Erik R. Andaras Sprache ist ganz leicht schwerfällig, manchmal etwas umständlich und altmodisch, aber sie hat einen Rhythmus, einen Sog, eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Andara versteht es meisterhaft, eine Stimmung zu erzeugen und seine LeserInnen in die Bilder (man könnte sagen: Gemälde) seiner Geschichte hineinzuversetzen. Es ist hart, das Buch zur Seite zu legen, und es verfolgt seine LeserInnen auch nach dem letzten Wort noch weiter.

Wie in Alfred Kubins „Die andere Seite“, von dem die Novelle mehr als nur einige Namen übernommen hat, geht es hier um Inspiration und um die Opfer, die Künstler für ihre Kunst zu bringen bereit sind. Sowohl der Protagonist Alfred als auch sein ehemaliger Freund Claus durchleben eine Schaffenskrise, und beide sind am Ende bereit, einen erschreckenden Preis für deren Überwindung zu zahlen. Es geht um Ambition und um Scheitern, um Talent und um den Rausch, den nur der Schaffensakt gewähren kann.

Thematisch mag die Novelle in der Tradition von „Faust“ oder „Das Bildnis von Dorian Gray“ stehen: verwandt ist sie jedoch enger mit Lovecraft und dessen besten Nachfolgern. Der zentrale Teufelspakt ist „klassischer“ kosmischer Horror, und die dichte Stimmung erinnert an die weitgehend totgesagte österreichische Phantastik.

Das Grauen der Geschichte bleibt in weiten Teilen mehrdeutig, und oft ist nicht klar zu sagen, was der Protagonist wirklich erlebt und was ein Traum ist. Die Musen und ihre Surrealität sind nur aus dem Augenwinkel zu erahnen, sie leben in der Welt zwischen zwei Lidschlägen und sind nicht wirklich fassbar: im Nebel, in den Wolken, hinter der zweiten Tür.

Die Grundidee um den Künstler und seinen Teufelspakt mit der Kreativität mag nicht komplett neu sein, aber sie wird kraftvoll und leidenschaftlich vorgetragen. Andara bleibt in manchem vage und lässt vieles offen, aber er findet gekonnt den logischen Schlusspunkt seiner Geschichte und das Ende einer Reise, die mit dem ersten Satz (in dem Alfreds größte Sorge noch der Lack seines Autos ist) beginnt.

„Hinaus durch die zweite Tür“ erschien bei Nighttrain und hat 100 Seiten.

Coverbild: © Nighttrain/Whitetrain

Von Fleischfalten und Schraubenknochen – Dempow Torishima: SISYPHEAN

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Cronenberg trifft Kafka trifft Ligotti trifft H. R. Giger in Dempow Torishimas Roman „Sisyphean“, einem japanischen New-Weird-Roman, der nun in englischer Übersetzung erhältlich ist und eine Zukunft voller Biotechnologie und Genmanipulation schildert, in der Fleisch, Haut und Körperflüssigkeiten das Baumaterial der Wahl zu sein scheinen.

Ein Gastbeitrag von Dennis Mombauer.


Der Haikasoru-Verlag hat sich zum Ziel gesetzt, ausgewählte japanische Literatur einem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen – den jüngsten Beitrag dazu leistet nun „Sisyphean“ (Kaikin no to) von Dempow Torishima. Der Roman ist etwa 300 Seiten lang und erschien ursprünglich 2011 in Japan. Er ist nun seit März 2018 in der englischen Übersetzung von Daniel Huddleston sowohl gedruckt als auch als eBook erhältlich.

Es ist schwer, der einzigartigen, exquisiten Fremdartigkeit des Romans und seines Universums in einer Rezension gerecht zu werden: er ist ein Vorstoß in unerforschte Regionen, ein unglaublich dichtes und komplexes Experiment in Sprache und Inhalt, das in der mir bekannten Literatur seinesgleichen sucht. Auf nur 300 Seiten entfaltet Torishima ein (von ihm selbst auch wunderbar illustriertes) Universum aus Raumfahrt und Bio-Horror, japanischer Mythologie und alptraumhaften Arbeitsabläufen, Genmanipulation und Sinnsuche, das viel Zeit zum Lesen und noch mehr zum Verstehen benötigt.

In vier Teilen werden die Geschichten eines Arbeiters in einer Organfabrik, eines jungen Taxonomisten in einer Welt von Mutanten, eines unsichtbaren „Dodgejobbers“ und einer Karawane von Yeti-Kreaturen erzählt, die jeweils eine andere Facette des Universums beleuchten.

Wuchern und Wachsen

Dabei zieht sich eine cronenbergsche Groteskheit durch den Roman, tropft und sickert von jeder Seite in einer Flut organischer Apparaturen und symbiotischer Biotechnologie. Allein in den ersten Abschnitten finden sich stringbeasts und coffin eels, bloodtide wayfarers, skinboad-panelled walls, fabric knitted with muscle fiber, corpuscytes, synthorganic digestive tracks, winedregs, meatpleats, slimecakes und skingloves, stillveins cords, guidejuices, neurofungi und vieles mehr.

Reizüberflutung und Abnutzungseffekte

Der Einfallsreichtum und das schiere Ausmaß von Torishimas Vorstellungskraft überwältigen zu Beginn des Romans vollständig, und die erste Hälfte verlässt sich auf die Neugier der Leser, in eine andere Welt einzutauchen. Dabei stellen sich jedoch auch Probleme ein: Die ausführliche Beschreibung von Räumen, Lebewesen und Gerätschaften erzeugt einen Abnutzungseffekt und erzielt manchmal paradoxerweise das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Das Fremdartige wird durch die Flut bizarrer Details nicht fremdartiger, sondern gewöhnlicher – und damit langweiliger. Was beispielsweise Thomas Ligotti mit wenigen wohlplatzierten Sätzen erzielt und was den Leser bis ins Mark erschüttert, stellt sich hier nicht im selben Maße ein.

Weniger Beschreibung hätte dem Roman an vielen Stellen gut getan: der Präsident in der ersten Geschichte erinnert beispielsweise an Ligottis „Our Temporary Supervisor“ oder auch „The Town Manager“, ist aber so sehr im (zugegebenermaßen höchst fremdartigen) Detail beschrieben, dass wenig Geheimnisvolles übrig bleibt. Und doch: Sätze wie „He showed the worker their still-beating hearts—about the size of sesame seeds—as they floated clear of the puffy cloads of red now spreading out in his fingers.” oder “The President did perceive sounds by way of a different sort of system, but it tended to interpret the worker’s voice as static.” sind brillant.

An manchen Stellen kommt es zum Fremdwort-Overload, so dass Sätze aus dem Zusammenhang gegriffen völlig unverständlich wirken: “He could see the groundship’s coaxer holding an emerald-hued magatama that it had extracted from the corpse of a canvasser.” An anderen Stellen wirken die Benennungen irritierend und (unfreiwillig?) komisch, beispielsweise wenn von Marrowpens mit Marrowink, Landsoup, Cobbleshell Roads, Exoshelletons oder Bonemeal Bread die Rede ist, oder driften gar ins Alberne ab (der Bonedriver löst die Screwbones).

Im Bio-Büro

Bemerkenswert ist, dass der Roman trotz aller Fremdartigkeit in weiten Teilen überraschend wiedererkennbare Probleme und Arbeitserfahrungen schildert, vor allem im ersten Viertel teilweise beinah enttäuschend banal ist – verärgerte Chefs und Schlafmangel, lange Schichten, die in der Erinnerung zusammenlaufen und sich vermischen; strikte Hierarchien, mechanische Abläufe und die Aufsicht übermächtiger Vorgesetzter; ein zu kaltes Büro, Arbeitszwang trotz Krankheit, alternativloses Kantinenessen, ungeliebte Kollegen und übermächtige Bosse, die in einer anderen Welt zu leben scheinen. Es ist dabei vielleicht kein Wunder, dass dieser Roman aus der japanischen Kultur geboren wurde: die komplette Aufopferung für die Firma („should the product not be ready on time, he would be the one literally cutting his own stomach open”) erinnern stark an das Klischee japanischer Firmenloyalität und an Karōshi, Todesfälle durch Überarbeitung.

Fazit

Die Handlung ist geschickt zusammengefügt und enthüllt die Mechanismen der Welt aus verschiedenen Perspektiven. Nach und nach erschließen sich die Vorgeschichte und die Hintergründe des Universums, was zwar unweigerlich eine gewisse Entzauberung mit sich bringt, aber auch für zahlreiche Aha-Effekte sorgt. Die verschiedenen Elemente sind nicht willkürlich eingestreut, sondern gehören mit System zusammen, und Torishima bedient sich einer Formensprache und Ideenwelt, die zumindest für mich sehr unverbraucht wirkt und einen frischen Hauch in die doch immer noch überwiegend westlich zentrierte Fantasy und Science Fiction bringt.

Von mir trotz gewisser Längen und hoher Anforderungen eine klare Kaufempfehlung: es gibt nichts Vergleichbares.


Autorenfoto MombauerDennis Mombauer, Jahrgang 1984, wuchs »am Rhein« auf und zog studienbedingt nach Köln, wo er heute lebt und arbeitet. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane und Flash Fiction und ist Mitherausgeber von »Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles« (http://novelle.wtf/de/). Dort Beiträge zu experimenteller Genre-Literatur und eigene experimentelle Texte. Diverse Veröffentlichungen in englisch- und deutschsprachigen Zeitschriften und Anthologien.

 

Genre-Experimente: Hugh Cook

Hugh Cook

Hugh Cooks Chronicles of an Age of Darkness ist ein zehnbändiger Fantasy-Zyklus, der mit literarischem Einfallsreichtum und experimentellen Techniken gegen die klassischen Genre-Grenzen anrennt, diese durchbricht und weit hinter sich lässt. Neben einer vielfältigen, abgedrehten Welt und der präzise-schwarzhumorigen Wiedergabe menschlicher Realitäten drückt sich die Experimentierfreudigkeit des Autors vor allem in einer Vielzahl von Stimmen und Blickwinkeln aus: in seinem von Band zu Band wechselnden Schreibstil sowie der Interkonnektivität der Bände, die separate Geschichten erzählen, sich dabei jedoch ständig begegnen, beeinflussen und überschneiden.

Ein Gastbeitrag von Dennis Mombauer.


Fantasy – zumindest immersive, d. h. sich komplett in einer Sekundärwelt abspielende – ist konträr zur vielleicht naheliegenden Intuition ein konservatives Genre. Eine von Null aufgebaute Welt, fremde Kulturen und Magie würden alle nur denkbaren Fern- und Höhenflüge der Vorstellungskraft zulassen, doch die Mehrheit der Fantasy-AutorInnen fällt auf dieselben Konventionen zurück, die Mitte des letzten Jahrhunderts von Tolkien und seinen Nachahmern etabliert wurden.
Am Anfang klassischer Fantasy-Geschichten findet sich stets ein sorgfältig zusammengesetztes, oft pseudo-mittelalterliches Setting-Puppenhaus, das vom Bösen bedroht und von Protagonisten gerettet wird, die von ihren AutorInnen aus der gemeinsamen Archetypen-Kiste hervorgekramt werden. Der Plot fährt auf den immergleichen, nicht selten messianischen, nach dem Campbellschen Monomythos gelegten Schienen, an deren Ende die Wiederherstellung des Status quo steht und die Leserschaft sich zufrieden zurücklehnen kann. Allzu häufig ist Fantasy ein »comfort genre« (Williams 2007), das seine Flughöhe aus Tradition unnötig selbst beschränkt und von reaktionären Ressentiments zu Boden gezogen wird.

Goldene Gulags und dunkle Zeitalter

Eine Ausnahme zu dieser Regel ist der britisch-neuseeländische Autor Hugh Cook (1956–2008), der außerhalb einer kleinen Fangemeinde nahezu unbekannt und kommerziell nur mäßig erfolgreich blieb, was bereits auf das Experimentelle seiner Literatur hindeuten könnte.
Sein Hauptwerk sind die »Chronicles of an Age of Darkness«, ein megalomanisch auf 60 Bände angelegter Fantasy-Zyklus, von dem am Ende zehn geschrieben und zwischen 1986 und 1992 veröffentlicht wurden: Und diese zehn Bände feuern mit einem solchen Feuerwerk an literarischem Einfallsreichtum und experimentellen Techniken gegen die Gitter des klassischen Genre-Käfigs an, dass von diesen kaum mehr als Asche und eingebrannte Schatten zurückbleiben.
Die von Cook für seine »Chronicles« erdachte Welt türmt sich als Gebirgsmassiv über jeder Puppenhaus-Fantasy auf, ist mehr Sand- und Baukasten als sorgfältig zusammengesetztes Spielzeug. Einzelne Romane überspannen Jahrzehnte, es werden diverse Kontinente, Inseln und Landstriche bereist, und nahezu alles ist möglich: pseudomagische »Synergetic Improbability«, wandernde Berge, zirkulär aneinandergereihte Teleportationstüren und Arenen mit monströsen Riesennerzen; eine Raumfahrtakademie, deren KI-Leiter weiterhin Piloten ausbildet, obwohl die Raumschiffe nur noch in Illusionstanks existieren; mächtige Bankenkonsortien, wunscherfüllende Maschinenblumen, magische Flaschen im Inneren von magischen Flaschen; geisterhafte Ilpse, die sich beim Stellen von Fragen auflösen, der Totenschädel des Tiefen Südens, Asmen, der Odex, etc. usw. pp.
Eingebunden in die interkosmische, wahrscheinlichkeitsmanipulierende Mega-Zivilisation des Nexus ist der Planet im Zentrum des Settings ein ehemaliger Gefängnis- und Therapiekomplex (der »Golden Gulag«), der vor Jahrtausenden alle Verbindung zum Nexus verlor und in eine teilweise mittelalterliche Postapokalypse zurückfiel. Eine solche Mischung aus Fantasy- und Science-Fiction-Elementen ist nicht neu, und obwohl Cook sie auf eine sehr eigene, oft bizarre Weise umsetzt (und das Außergewöhnliche dabei nicht hervorhebt, sondern nur beiläufig erwähnt), ist sie nicht das, wodurch die Romane dem Mainstream entschwimmen.

Menschliche und nichtmenschliche Realitäten

In Cooks Welt wird das Potenzial nahezu unbegrenzter Möglichkeiten voll ausgeschöpft, und dennoch bleibt sie zugleich bodenständig, realitätsnah in der Psycho- und Physiologie ihrer Bewohner. Menschen (und menschenähnliche Lebensformen) kommen in einer Vielfalt von Farben und Formen vor, von denen Schwarz und Weiß nur der Anfang sind: so existieren zum Beispiel die Inselbewohner von Ebrell mit ihrer roten Haut, die purpurfarbigen Frangoni, die metallisch-goldhäutigen, milchäugigen Einwohner von Ling oder der grünhaarige und –bärtige Slagger Mulps (»two thumbs and three fingers on each hand«; Cook 1988, 83); darüber hinaus gibt es auch eine Vielzahl verschiedener Ethnien, Kasten, Kulturen und Subkulturen:

“As had already been stated, Dog was a member of the Yara, the Unreal underclass of Dalar ken Halvar’s dominant people, the Pang. Dog wanted to join the Free Corps, but membership of that august body was largely restricted to Ebrell Islanders and members of the Chem, the wealthy upper class of Dalar ken Halvar’s Pang.” (Cook 1992, 46)

Zwischen den diversen Gruppierungen kommt es zu Rassismus, Diskrimination, Pogromen, Zwangsumsiedlungen und manchmal auch Toleranz; so gelten beispielsweise die Inselbewohner von Ebrell auf Untunchilamon als Alkoholiker, Unruhestifter und im Bedarfsfall Sündenböcke, während sie in Dalar ken Halvar zu den einflussreichsten Bevölkerungsgruppen gehören. Diverse Sprachen und Dialekte führen zu Un- oder Missverständnissen, lokale Bräuche sind mannigfaltig, und es gibt unterschiedliche Währungen, Gesetze, Religionen und Traditionen:

“›I demand‹, he repeated, ›to see the ambassador of the Narba Consortium. Don’t you understand? Ambassador!‹ But his captors spoke no Gaelish. Nor did they understand High Churl, City Churl, Field Churl, Ashmarlan, Lorp Talk, Estral, Rovac, Ligin or Ling, which was almost the sum-total of the languages Jon Arabin spoke.” (Cook 1988, 375)

Klassische Fantasy-Geschöpfe wie Drachen, Minotauren, Dämonen oder Orks (gejagt wegen ihres ölhaltigen Trans und vom Aussterben bedroht) existieren neben Hightech-Maschinen und post-lovecraftianischen Alptraumkreaturen, andere Protagonisten sind noch weit ungewöhnlicher: zum Beispiel Shabble, eine ehemals als Spielzeug gebaute, nahezu unzerstörbare Miniatursonne oder ein riesenhafter Einsiedlerkrebs, bei dem es sich in Wahrheit um eine anorganische, wahrscheinlichkeitsmanipulierende Wesenheit aus dem Herzen des lokalen Sterns handelt.
Cook baut eine farbenprächtige Welt auf, die voll von menschlichen (und nichtmenschlichen) Abgründen ist, alle hellen und dunklen Seiten der menschlichen Natur zur Schau stellt und ihren Protagonisten erbarmungslos entgegensteht. Unterdrückung, Folter, Krankheiten, Hunger, Durst, Alkoholismus, Verrat, Kannibalismus und Wahnsinn sind allgegenwärtig; Armeen auf dem Marsch sind ständig von Unruhen, hemmungsloser Plünderung, Gewaltexzessen und Desertation bedroht; Schiffe von Meutereien, Intrigen, Stürmen und Seeungeheuern; Reisende landen in Kerkern, weil sie kein Bestechungsgeld zahlen können, Krieger verlieren ihre Hände oder mehr (Guest Gulkan verliert in der Mitte seiner über siebenhundertseitigen Geschichte beide Arme und Beine).
Cooks Protagonisten sind meist keine Helden, nicht einmal Antihelden; sie sind Schurken und Herumtreiber, Egoisten auf der Suche nach dem eigenen Vorteil, denen sich oft selbstverursachte Schwierigkeiten in den Weg stellen, die an ihrer eigenen Gier zugrunde gehen oder mit ihrem skrupellosen Handeln große Erfolge feiern – und Cook versetzt den Leser in diese Figuren hinein, ohne dabei Partei für (oder gegen) sie zu ergreifen.

Ein Erzähler mit vielen Zungen …

Eine vielfältige, oft abgedrehte Welt und menschliche Realitäten sind für sich noch nicht experimentell, auch wenn sie an vielen Stellen mit den klassischen Konventionen des Fantasy-Genres brechen – Mixturen aus SciFi und Fantasy gibt es zuhauf, gnadenloser Mittelalter-Realismus hat spätestens mit »Game of Thrones« (wenn auch deutlich nach Cook) den Mainstream erreicht.
Es sind vor allem zwei Eigentümlichkeiten, welche die »Chronicles«-Reihe hervorheben und vielleicht nirgendwo sonst in vergleichbarer Form zu finden sind: Einerseits Cooks in jedem Band wechselnder Schreibstil, der stets eine gewisse Distanz wahrt und dadurch der Erzählung eine (oder mehrere) zusätzliche Ebene(n) verleiht; und andererseits die Tatsache, dass die Romane allesamt abgeschlossene Geschichten erzählen, sich dabei jedoch ständig überschneiden, kreuzen und dieselben Geschehnisse aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten.
Zuerst zu Cooks Schreibstil, der ihn zu einem allwissenden, ständig kommentierenden Erzähler macht, der sich in Exkursen (vergleichbar Moers’ Mythenmetzschen Abschweifungen) ergeht und »show, don’t tell«-Regeln mit Verachtung straft:

“[Gouda Muck] was, quite possibly, the only atheist in the city of Cam. Most citizens enjoyed the practice of religion – indeed, for many devout souls, its consolations were all that made life worth living. But Gouda Muck was born to be a dissident. He refused to believe in the demon Hagon, far less to worship that formidable eater of souls.
He also avoided those sacred religious duties usually accepted even by unbelievers, viz:
patronizing the temple casinos;
copulating with the temple prostitutes;
playing the temple numbers game;
going to the temple cockfights;
participating in the human sacrifices.
His main objection to all the above activities was that they cost an exorbitant amount of money.”(Cook 1988, 58–59)

Cook nimmt die typischen Genre-Elemente – der junge Held, der in die Welt aufbricht, die Schlachten, die Prophezeiungen, die uralten Magier – und konfrontiert sie mit den psychologischen Mechanismen und dunklen Stellen, die üblicherweise ausgespart werden. Der Held geht in die Welt und kommt zurück, ohne etwas gelernt zu haben; der rechtmäßige Erbe rückt aus, um seinen Thron zu erobern und wird auf dem Weg dorthin gebrochen und traumatisiert; der Revolutionär stellt fest, dass die Geschichte sich nicht um ihn dreht.
Klischees und Konventionen werden dekonstruiert, ohne dass die Geschichte dabei ins Stocken gerät, und Cook beobachtet und kommentiert dies alles aus einer zurückgenommenen Beobachterposition, die schwarzen Humor und trockenes Understatement kombiniert:

“Another vessel was connected to the Gol-sa-danjerk by grappling hooks. Copious quantities of blood on the deck suggested that the connection had not been entirely welcome. Indeed, Drake observed that most of the crew had become corpses.” (Cook 1988, 82)

Ein bemerkenswertes Element ist dabei die Tatsache, dass die Sprache sich zusammen mit dem Erzähler in jedem Band ändert und fast als eigener Charakter mit Idiosynkrasien und einer Vielzahl von Eigenarten auftritt. Was im ersten Band fast noch als Stimme eines traditionellen Fantasy-Autoren durchgehen könnte, ist im fünften Band der zynische Kommentator einer pikaresken Geschichte; in Band 3 wird ein in der Fantasy eher seltener weiblicher Blickwinkel eingenommen, nach Mutmaßung des Autors auch einer der Gründe für das kommerzielle Scheitern der Reihe. (Cook 2005)
Der sechste Band besteht aus den Aufzeichnungen eines Insassen der Dromdanjerie, der psychiatrischen Anstalt der Insel Untunchilamon, die à la House of Leaves in verschiedene Meta-Ebenen verpackt sind: So wurden die Aufzeichnungen erst von den »redactors of Odrum« mit enormen Mengen (»a full two million words«, Cook 1990, 5) an Erläuterungen und Einfügungen versehen, die dann ihrerseits von einer weiteren Instanz herausgekürzt wurden, so dass nur die Stimmen einiger prominenter Bearbeiter zurückblieben (wie das Vorwort zum Vorwort erklärt).
Der siebte Band besteht aus dem tagebuchartigen Geschreibsel desselben Insassen, der nun von seinem Wahnsinn geheilt scheint und auf die Kommentarebenen verzichtet; Band 8 orientiert sich thematisch an nordischen Sagas und findet vollständig bei Nacht statt, Band 9 verliert sich in technischen Ausschweifungen zum Nexus und (pseudo)wissenschaftlichen Erläuterungen.
Die meisten dieser Bände wären allein Grund genug, Cooks Werk für experimentell zu erklären, doch jeder von ihnen stellt nur eine der zehn Facetten von Innovation und Originalität dar, die sich als Gesamtwerk zu einem farbenprächtigen Kaleidoskop zusammensetzen.

… und ein Erzähler mit vielen Augen

Das andere große Experiment der »Chronicles« ist die Tatsache, dass zwar jeder Band eine eigene Geschichte erzählt, seine eigenen Protagonisten und Schauplätze hat, aber dennoch mit den anderen Geschichten verknüpft ist und ständig Schnittstellen aufweist.
So wird beispielsweise der zentrale Protagonist des zehnten Bandes bereits auf der ersten Seite des ersten Buches eingeführt und taucht in einer Vielzahl weiterer Bände auf, teilweise nur als kurze Begegnung, teilweise als scheinbarer Deus ex machina oder Antagonist. Ein häufig zitiertes Beispiel ist eine Szene aus The Walrus and the Warwolf, in der Drake Douay in die Folterkammer des lokalen Herrschers Watashi geführt wird:

“Watashi’s private torture chamber was a soundproof room containing a narrow wooden bench, which bore an ominous number of russet stains, and many ugly implements of iron. Drake did his thinking – and fast. Clearly posing as an innocent peddlar was not going to save him.” (Cook 1988, 352)

Dieselbe Szene wird im nächsten Buch aus der Perspektive von Watashi als psychologischer Trick entlarvt:

“[Drake] was gagged and taken to an abandoned store room. Over the last three days, this had been converted into a horror house. Many ugly implements of iron had been gathered together; a torture bench had been installed; and Jarl had slaughtered a chicken in the room to make sure it was suitably blood-bespattered.” (Cook 1989, 303)

Die Szene ist ein Element von vielen, und mehr noch als direkte Begegnungen sorgen zahlreiche Schilderungen und Berichte von Ereignissen dafür, dass die zehn Bände zusammengenommen an eine trashigere Version von Rashomon oder eine ausgedehntere und komplexere Vorwegnahme von Filmen wie Babel oder 21 Grams erinnern. Informationen verbreiten sich in unkontrollierbarer Weise, und die Ereignisse des einen Romans werden zu den verzerrten Gerüchten und Legenden des nächsten und übernächsten; durch geographische Entfernungen und unzureichende Transportmittel erreichen Nachrichten erst mit enormer Verspätung andere Orte, und es gibt kaum jemanden, der nicht ständig zu seinem eigenen Vorteil lügt.
Immer wieder spielen die Protagonisten anderer Bände Nebenrollen, werden in Berichten erwähnt oder setzen im Hintergrund Ereignisse in Gang, die aus der jeweiligen Perspektive wie unveränderliches Schicksal erscheinen, in ihrer eigenen Geschichte wiederum aber ganz normale Handlungen sind. Konflikte entstehen nicht daraus, dass einige Charaktere gut und andere böse sind, sie entstehen aus widerstreitenden Motivationen, unzureichenden Informationen und oft auch purem Zufall.

Begrenzungen und überschrittene Grenzen

Es wäre noch Vieles zu Hugh Cook zu sagen, zu seiner eng mit den Romanen verbundenen Biografie, seinen Kurzgeschichten, seiner durchgedrehten Homepage (leider nur noch über Wayback Machine o. ä. abrufbar), seinen späteren Romanen wie zum Beispiel To Find and Wake the Dreamer oder auch nur zu den Titeln seiner »Chronicles«-Bände, die vom klassischen (The Wizards and the Warriors) über das komische (The Walrus and the Warwolf) bis zum exotischen (The Wishstone and the Wonderworkers) reichen – doch Zeit und Platz sind begrenzt, und deshalb muss als Fazit genügen, dass er mit seinen Romanen die Reichweite des Genres ausgelotet, die Grenzen weit überschritten und die Experimente gewagt hat, die gerade die klassische Fantasy so dringend nötig hat.

Bibliografie:

Cook, Hugh (1988): The Walrus and the Warwolf. London: Corgi Books
Cook, Hugh (1989): The Wicked and the Witless. London: Corgi Books.
Cook, Hugh (1990): The Wishstone and the Wonderworkers. London: Corgi Books..
Cook, Hugh (1992): The Worshippers and the Way. London: Corgi Books.
Cook, Hugh (2005): http://zenvirus.com/hugh-cook/bibliography-novels.html (abgerufen über Wayback Machine; Stand 22.07.2012)
Willams, Tad (2007): Interview. http://fantasyhotlist.blogspot.de/2007/02/interview-with-tad-williams_15.html (Stand 28.11.2013)


Autorenfoto Mombauer

Dennis Mombauer, Jahrgang 1984, wuchs »am Rhein« auf und zog studienbedingt nach Köln, wo er heute lebt und arbeitet. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane und Flash Fiction und ist Mitherausgeber von »Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles« (http://dienovelle.blogspot.de/). Dort Beiträge zu experimenteller Genre-Literatur und eigene experimentelle Texte. Diverse Veröffentlichungen in englisch- und deutschsprachigen Zeitschriften und Anthologien.

Genre-Experimente: Cordwainer Smith

Die Science Fiction von Cordwainer Smith beschwört fremdartige und faszinierende Welten herauf und ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert: in ihrem Schreibstil, ihren Erzählstrukturen und ihren Inhalten. Seine Erzählungen sind sowohl inhaltlich als auch formal experimentell und gehen in ihrer überwältigenden Ausgefallenheit und Meta-Geschichtlichkeit weit über das konventionelle Repertoire des Genres hinaus.

ein Gastbeitrag von Dennis Mombauer

Dieser Text erschien zuerst in Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles #4: Perfekte Planeten (Januar 2015)


Die folgenden Zeilen leiten die Kurzgeschichte »Scanners Live in Vain« ein, die 1950 in der kurzlebigen Zeitschrift »Fantasy Book« unter dem Pseudonym Cordwainer Smith publiziert wurde:

»Martel was angry. He did not even adjust his blood away from anger. He stamped across the room by judgment, not by sight. When he saw the table hit the floor, and could tell by the expression on Luci’s face that the table must have made a loud crash, he looked down to see if his leg was broken. It was not. Scanner to the core, he had to scan himself. The action was reflex and automatic. The inventory included his legs, abdomen, chestbox of instruments, hands, arms, face and back with the mirror. Only then did Martel go back to being angry. He talked with his voice, even though he knew that his wife hated its blare and preferred to have him write. ›I tell you, I must cranch. I have to cranch. It’s my worry, isn’t it?‹« (Smith/Davis 2012, 113)

Bereits beim Lesen dieser ersten Zeilen stellen sich viele Fragen, die teilweise im weiteren Verlauf der Geschichte beantwortet werden, teilweise für immer offen bleiben, dabei in jedem Falle jedoch eine fremdartige und faszinierende Welt heraufbeschwören. »Scanners Live in Vain« ist der erste Baustein einer Zukunftshistorie, die sich in mehr als 30 Kurzgeschichten und einer Novelle (Norstrilia) herausbildet, insgesamt über 16.000 Jahre umspannt und das Oeuvre des Science-Fiction-Autors Cordwainer Smith darstellt, das zwischen 1950 und 1987 (21 Jahre nach seinem Tod) erstmalig veröffentlicht wurde. (Lewis 2000, 9–14 und 117)

Die »Instrumentality of Mankind«-Geschichten, wie Smiths Science-Fiction meist zusammengefasst wird, sind mindestens in dreierlei Hinsicht bemerkenswert: in ihrem Schreibstil, ihren Erzählstrukturen und ihren Inhalten. Ihre überwältigende Ausgefallenheit und Meta-Geschichtlichkeit gehen weit über das konventionelle Repertoire des Genres hinaus. Sie sind in einigen Aspekten klassisch und linear, in anderen aber sowohl inhaltlich als auch formal experimentell – und diese Experimente sollen nun im Rahmen einer Vorstellung dieses vergleichsweise unbekannten, jedoch extrem kennenswerten Autors nachvollzogen und illustriert werden.

Ein ungewöhnliches und schillerndes Leben

Cordwainer Smith, alias Paul Myron Anthony Linebarger, alias Lin-Bai Lo (sein chinesischer Geburtsname) alias Carmichael Smith, Felix C. Forrest und Anthony Bearden (Pseudonyme für Romane und Gedichte außerhalb der Science-Fiction), lebte ein ungewöhnliches und schillerndes Leben an den Schauplätzen internationaler Politik, in die er nicht selten involviert war.

Er wuchs in China und Europa als Sohn eines Anwalts und Aktivisten mit engen Verbindungen zu Sun Yat-Sen auf (der Linebargers Taufpate wurde), promovierte mit 23 Jahren in Politikwissenschaft und wurde zum Experten für psychologische Kriegsführung. Er schrieb nicht nur ein Standardwerk dieses Fachgebiets, sondern war im Zweiten Weltkrieg innerhalb der US-Armee am Aufbau der ersten Abteilung für psychologische Kriegsführung beteiligt, diente im Koreakrieg und für die Briten in Malaya als Berater und arbeitete unter anderem für die CIA. Er gehörte als Asien-Experte zum Beraterstab von Präsident Kennedy und war Vertrauter von Chiang Kai-shek, lehrte als Universitätsdozent an der Duke University in Durham sowie der John Hopkins University in Washington D. C. und starb schließlich 1966 mit 53 Jahren an einem Herzinfarkt.

Seine als Cordwainer Smith veröffentlichte Science-Fiction, die mit »Scanners Live in Vain« ihren Anfang nahm, stieß aufgrund ihrer Absonderlichkeit und Kunstfertigkeit, aber auch ihres ungewöhnlichen Schreibstils, schnell auf großes Interesse bei den AutorInnen und LeserInnen des Genres, und die in den folgenden Jahren veröffentlichten Geschichten festigten Cordwainer Smiths Ruf als »einer der begabtesten Science-Fiction-Autoren des 20. Jahrhunderts« (Smith 2011).

Eine einzigartige Stimme

Smiths Schreibstil ist ikonisch und unverkennbar: »Nobody […] wrote science fiction that sounded like that. The lucid, unadorned prose setting forth the immeasurably strange—it was a new kind of voice.« (Smith/Davis 2008, ix) Die bizarrsten Dinge, Orte und Ereignisse werden in nüchterner, unaufgeregter Weise beschrieben, und zwar mit der Selbstverständlichkeit eines Bewohners dieses fremdartigen Universums. Es gibt keine einführenden Erklärungen für die LeserInnen, keine Erläuterung von Settingelementen (was ist ein »Scanner«? was »cranchen«?) – erst im Laufe der Geschichten können sich die LeserInnen langsam zusammenreimen, wie die Dinge aussehen.

Smith ist, im Gegensatz zu beispielsweise Dan Simmons, kein visueller, cinematischer Schriftsteller, und dennoch erzeugen seine simplen, oft leicht »verschoben« wirkenden Sätze (in denen sich auch der Einfluss chinesischer Literatur wiederspiegelt) das Panorama einer ganzen Welt, die im Kopf seiner LeserInnen durch deren eigene Fantasie Form und Farbe annimmt. Smith arbeitet mit Andeutungen, mit geschickt fallengelassenen Informationsbrocken und (siehe unten) oft erst aus der historischen Distanz erkennbaren Halbwahrheiten.

Ein weiteres wiederkehrendes Element sind Neologismen, für die Smith den eigenen umfangreichen Sprachfundus zum Steinbruch macht – am Ende seiner Jugend war er bereits mit sechs verschiedenen Sprachen vertraut. So wird aus dem deutschen »Menschenjäger« mit der Zeit und durch den Verlust von Wissen die Verballhornung »manshonyagger«; andere Begriffe sind zum Beispiel das bereits erwähnte »cranchen«, »haberman«, »pinlighting«, »planoforming«, »Go-captain« und »Stop-captain«, »Spieltier« oder auch »spieking« und »hiering« als Verben telepathischer Verständigung.

Das Experimentelle (zumindest im Rahmen klassischer Science-Fiction) ist also hier, dass den LeserInnen die Welt nicht erklärt oder von außen beschrieben wird, sondern Smith ihnen davon erzählt, wie ein Bewohner dieser Welt es einem anderen erzählen würde: ohne die Fremdartigkeit hervorzuheben oder zu benennen, sondern sie stattdessen, in gewisser Weise beiläufig, im Kopf der LeserInnen organisch entstehen zu lassen.

Erzählstrukturen und -traditionen

Doch diese Art des Schreibens ist nur ein zaghafter Fühler des Experimentellen, das sich tief in der Struktur des Textes versteckt, in den Abfolgen und Mustern seiner Wörter, Sätze und Abschnitte.

Smith weiß, dass es bei einer realen Geschichte nicht ausreicht, die »Fakten« zu kennen, ihre historischen Eckdaten und den groben Ablauf der Ereignisse; er weiß, dass tatsächliche Geschehnisse in keiner Erzählung festgehalten werden können, dass ein Ereignis beliebig viele Erzählungen hervorbringt und keine einzige davon »wahr« ist. Smith teilt diese Tatsache mit seinen LeserInnen und weist sie darauf hin, wie formbar und unstet Erzählungen – auch seine eigenen – sind, und dass sie mindestens so sehr vom Erzähler wie von den tatsächlichen Geschehnissen beeinflusst werden. So nimmt er im Prolog zu Norstrilia alle Rahmenbedingungen vorweg, ohne die LeserInnen damit tatsächlich auf die Geschichte vorzubereiten:

»Story, place and time – these are the essentials. The story is simple. There was a boy who bought the planet Earth. We know that, to our cost. […] The place? That’s Old North Australia. […] Time: first century of the Rediscovery of Man. […] What happens in the story? Read it. Who’s there? It starts with Rod McBan […] He gets away. He got away. See, that’s the story. Now you don’t have to read it. Except for the details. They follow.« (Smith 1988, 1–5)

Immer wieder nimmt er darauf Bezug, wie Ereignisse für die Nachwelt festgehalten werden, wie sie in späteren Geschichten erscheinen, wie sie ausgeschmückt, vereinfacht oder verfälscht werden. Ein Paradebeispiel dafür ist die Kurzgeschichte »The Dead Lady of Clown Town«, in der es um einen gescheiterten Aufstand der Untermenschen geht, der jedoch (neben anderen Ereignissen) das Fundament für spätere große Umwälzungen und schlussendlich die »Rediscovery of Man« bildet.

Wiederholt wird angeführt, dass es sich um ein historisches Ereignis handelt, das bereits längere Zeit zurückliegt und sich seitdem massiv in der Kultur niedergeschlagen hat. Ein Beispiel dafür ist ein (hier nur ausschnittsweise zitiertes) Gedicht: »Poets later tried to describe Elaine at the door with a verse which begins, There were brown ones and blue ones / And white ones and whiter, / In the hidden and forbidden / Downtown of Clown Town. / There were horrid ones and horrider / In the brown and yellow corridor. The truth was much simpler.« (Smith/Davis 2008, 25) An anderen Stellen werden Bilder erwähnt, Lieder, Filme und Theaterstücke, und immer wieder wird gleichzeitig erläutert, in welchem Kontrast diese Wiedergaben zu den tatsächlichen Ereignissen stehen:

»You all know about the trial, so there is no need to linger over it. There is another picture of San Shigonanda, this one from his conventional period, which shows it very plainly. […] The artist has it all. And you have the real view-tapes, too, if you want to go to a museum. The reality is not as dramatic as the famous painting, but it has value of its own. […] The words of the trial, they too have survived. Many of them have become famous, all across the worlds.« (Smith/Davis 2008, 86–87)

So wird zum Beispiel im Laufe von »The Dead Lady of Clown Town« zunehmend deutlich, dass selbst der Erzähler, der bis dahin als Einziger den »wahren« Verlauf zu kennen scheint, weder allwissend noch objektiv ist. Es handelt sich zwar um jemanden, der viele einzelne Puzzlestücke aus großer historischer Distanz zusammengefügt hat – dennoch kann auch er nur eine Variante der Erzählung anbieten, die ebenfalls ihre Fehler, Auslassungen und Verfälschungen enthält.

Das Experiment ist, Geschichte(n) zu erzählen (und sie gut zu erzählen), dabei jedoch deren »Geschichte-Sein« prominent in den Vordergrund zu rücken. Smith zeigt die Elemente, die Geschichten glaubwürdig machen, zum Beispiel technische Aufzeichnungen, betont aber gleichzeitig fast immer ihre Unwahrhaftigkeit:

»She opened [the door]— By sheer caprice. Or so she thought. This was a far cry from the ›I’ll be a witch‹ motif attributed to her in the later ballad. […] It was the tired caprice of a thoroughly frustrated and mildly unhappy woman. Nothing more. All the other descriptions of it have been improvements, embellishments, falsifications.« (Smith/Davis 2008, S. 12–13)

Er zeigt, wie groß die Wirkung von künstlerischen Wiedergaben eines Ereignisses ist (zum Beispiel von klassischen Sagen, Märchen, mündlichen Erzähltraditionen, Geschichtsbüchern, Propaganda), indem er denselben Eindruck, oder zumindest dieselbe Art von Eindruck, mit einer völlig (und offenkundig) fiktiven Geschichte erzielt: »Congohelium and stroon. Cat-people and laminated-mouse-brain roots. Mile-high abandoned freeways, and dead people who move and act and think and feel. Smith made wonderlands. And he made us believe they could be real.« (Smith/Davis 2012, 5)

Ein Biotop des Bizarren

Der letzte Auswuchs der Experimentalitätstriade im Werk von Cordwainer Smith kann hier nur angerissen werden, obwohl er alle Geschichten zutiefst durchdringt: die Ausgefallenheit und Andersartigkeit der erfundenen Welt. Smiths Fiktionen sind ein Biotop des Bizarren und Unerwarteten, das nicht nur berührt, sondern oft auch konsequent zu Ende gedacht wird.

Allein die Entwicklung der Raumfahrt wäre eine eigene Betrachtung wert: von den ersten primitiven Raketen unserer Zeit zu langsamen, weitreichenden Schiffen mit Solarsegeln, gesteuert von grauenhaft veränderten Piloten und pseudo-untoten Mannschaften, die von den ebenso pseudo-untoten Scannern (deren Gehirn nur noch direkt mit den Augen verbunden ist, um nicht an der »great pain of space« zu sterben; »The brain is cut from desire, and pain. The brain is cut from the world. Save for the eyes.« (Smith 1999, S. 14)); vom Überwinden besagter »great pain« zu den großen Kolonieschiffen; von dort zur Entdeckung von »Space2« und den wesentlich schnelleren Planoform-Schiffen, die jedoch lange Zeit auf Telepathen, deren Katzen-Partner in winzigen Begleitschiffen sowie ultrahelle photonukleare Miniatur-Bomben angewiesen sind, damit Besatzung und Passagiere nicht von mysteriösen Kreaturen in den Wahnsinn getrieben werden; und schließlich, gegen Ende der geschichtlichen Entwicklung, zur Enthüllung von »Space3« und damit wesentlich fortgeschritteneren Methoden der Transportation.

Diese kurze Übersicht über die Entwicklung der Raumfahrt soll die Tiefe und Breite von Smiths Kosmos nur andeuten und beispielhaft zeigen, dass es keinen Mangel an Ideen gebt, die erfolgreich auf dem dünnen Grat zwischen atemberaubendem Einfallsreichtum und Lächerlichkeit balancieren und sehr bewusst in die Entwicklung und Kultur seines erfundenen Universums eingebettet werden.

Probleme werden oft auf höchst unerwartete und absonderliche Arten gelöst; so erwehrt sich zum Beispiel ein Kommandant der Instrumentality (der einzige Mensch an Bord seines Erkundungskreuzers) in der Geschichte »The Crime and the Glory of Commander Suzdal« eines Angriffs der (un)menschlichen Arachosianer, die bereits über die Hülle seines Schiffes klettern, durch das Abfeuern von »life-bombs« auf den unbewohnten Mond von Arachosia, die er gleichzeitig in der Zeit zurückkatapultiert. Die Lebensbomben enthalten sorgfältig kodierte Katzen-DNA – und tatsächlich erscheint einen Augenblick später eine Schlachtflotte von Katzen-Menschen, die gerade noch nicht existiert hatten, sich nun aber seit zwei Millionen Jahren auf diesem Mond entwickelt und ideal auf diesen Moment vorbereitet haben.

Und bei diesem Beispiel handelt es sich noch um einen der konventionelleren Handlungsverläufe: es ist selten, dass ein Problem so physisch und offenkundig wie eine angreifende Flotte von (Un)Menschen ist, und die Lösung so simpel wie die Abwehr dieser Flotte mit einer anderen Flotte. Fast immer drehen sich die Geschichten um Probleme anderer Art, die nur innerhalb dieses Universums vorkommen können und fast nie mit reiner Gewalt zu lösen sind; das zentrale Plotelement in »Scanners Live in Vain« ist beispielsweise, dass die titelgebenden Scanner obsolet zu werden drohen und sich dagegen wehren, obwohl ihre Existenz (wie sie selbst wissen) eine qualvolle Zumutung ist und ihre Abschaffung einen echten Fortschritt der Menschheit bedeuten würde.

Es gäbe noch vieles mehr zu sagen, zum Beispiel zu den »underpeople« (die deutsche Übersetzung benutzt das historisch vorbelastetere Wort »Untermenschen«, die moderne transhumanistische Science-Fiction würden sie wohl »uplifts« nennen), die eine zentrale Rolle bei Smith spielen, zu den christlich-humanistischen Analogien und dem generellen Optimismus von Smiths Geschichten, der untypischerweise für die Science-Fiction kein technologischer, sondern ein sozialer und vielleicht auch spiritueller ist: doch für eine nähere Beschäftigung mit all diesen Themen kann nur empfohlen werden, sein Werk selbst zu lesen. Frederik Pohl beschreibt in seinem Vorwort zur Sammlung When the People Fell die Stoßrichtung der Instrumentality-Geschichten vielleicht am besten: »The Cordwainer Smith stories are science fiction of the special sort that C. S. Lewis called ›eschatological fiction‹. They aren’t about the future of human beings like us. The are about what comes after human beings like us.« (Smith/Davis 2012, 8)

Perfekt, aber nicht utopisch

Die »Instrumentality of Mankind«, die interstellare Superregierung, die von der alten Erde ausgehend über die gesamte Zeitlinie hinweg großen Einfluss auf die Entwicklung der Menschheit nimmt, hat eine Utopie geschaffen. »Stroon«, die Santaclara-Droge, erlaubt ein langes Leben (vier Jahrhunderte für die meisten, über tausend Jahre für manche), und es gibt keine Krankheiten, nahezu keine Unfälle, keine schwere Arbeit, keinen Mangel, keine Probleme – außer der unerträglichen Perfektion dieser Existenz: »They were dying off, just by being too perfect.« (Smith 1988, 237) Die Menschen haben sowohl das, was sie brauchen, als auch das, was sie sich wünschen, und dennoch hat die »Instrumentality« ihr Ziel verfehlt. Smith stellt die Frage, was Menschen zu Menschen macht und was Menschen brauchen:

»[…] long before these people built cities, there were others in the Earth—the ones who came after the Ancient World fell. They went far beyond the limitations of the human form. They conquered death. They did not have sickness. They did not need love. They sought to be abstractions lying outside of time. And they died, E’lamelanie—they died terribly. Some became monsters, preying on the remnants of true men for reasons which ordinary men could not even begin to understand. Others were like oysters, wrapped up in their own sainthood. They had all forgotten that humanness is itself imperfection and corruption, that what is perfect is no longer understandable. […] You and I are animals, darling, not even real people, but people do not understand the teaching of Joan, that whatever seems human is human.« (Smith 1988, S. 211)

Die Erde der fernen Zukunft unter der subtilen und wohlwollenden Herrschaft der »Instrumentality« ist nicht dystopisch, aber sie ist auch kein Paradies: es gibt Einschränkungen der Freiheit, die Bevölkerung lebt in Unwissenheit, und die Menschen leben und sterben wie Schlafwandler, glückliche Elois neben den Morlocks der Untermenschen.

Der Lösungsansatz »Instrumentality« für dieses Problem der Perfektion ist die sogenannte »Rediscovery of Man«:

»I’m still cat underneath it all, but even the cats which are unchanged are pretty close relatives of human beings. They make the same basic choices between power and beauty, between survival and self-sacrifice, between common sense and high courage. So the Lady Alice More worked out this plan for the Rediscovery of Man. Set up Ancient Nations, give everybody an extra culture besides the old one based on the Old Common Tongue, let them get mad at each other, restore some disease, some danger, some accidents, but average it out so that nothing is really changed.« (Smith 1988, 237–238)

Diese Wiedereinführung der Gefahren und Unsicherheiten des Lebens durch die »Instrumentality«, das heißt »von oben«, funktioniert nicht auf Anhieb, scheint aber schließlich die Situation zu verbessern, indem sie diese wieder verschlechtert:

»We today know that variety, flexibility, danger, and the seasoning of a little hate can make love and life bloom as they never bloomed before; we know it is better to live with the complications of thirteen thousand old languages resurrected from the dead ancient past than it is to live with the cold blind-alley perfection of the Old Common Tongue.« (Smith/Davis 2008, S. 89)

 

Bibliografie:

Lewis, Anthony R. (2000): Concordance to Cordwainer Smith. 3. Auflage. Framingham, MA: NESFA Press.

Smith, Cordwainer (1988): Norstrilia. London: VGSF.

Smith, Cordwainer (1999): The Rediscovery of Man. Mit einem Vorwort von Graham Sleight. London: Gollancz.

Smith, Cordwainer/Hank Davis (Hrsg.) (2008): We the Underpeople. Mit einem Vorwort von Robert Silverberg. Riverdale, NY: Baen Books.

Smith, Cordwainer (2011): Was aus den Menschen wurde. Mit einem Vorwort von John J. Pierce. München: Wilhelm Heyne Verlag.

Smith, Cordwainer/Hank Davis (Hrsg.) (2012): When the People Fell. Mit einem Vorwort von Ferderik Pohl. Riverdale, NY: Baen Books.

Beitragsbild © The Estate of Cordwainer Smith


 

Autorenfoto Mombauer

Dennis Mombauer, Jahrgang 1984, wuchs »am Rhein« auf und zog studienbedingt nach Köln, wo er heute lebt und arbeitet. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane und Flash Fiction und ist Mitherausgeber von »Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles« (http://dienovelle.blogspot.de/). Dort Beiträge zu experimenteller Genre-Literatur und eigene experimentelle Texte. Diverse Veröffentlichungen in englisch- und deutschsprachigen Zeitschriften und Anthologien.