Der tragikomische Kampf ums Überleben

Floß der Medusa

Unzählige bloße Nacherzählungen historischer und natürlicher Katastrophen definieren viele Kunstwerke jeder Art. Zunächst könnte man meinen, bei Das Floß der Medusa. Roman nach einer wahren Begebenheit des österreichischen Schriftstellers Franzobel handle es sich um einen solchen historischen Roman, der sich meist durch Einfallslosigkeit und wenig literarische Leistung definiert. Doch weit gefehlt: Franzobel macht aus dem Schiffbruch der Medusa im Jahr 1816 vor der Küste Mauretaniens ein tragikomisches Meisterwerk über den Mensch im Ausnahmezustand.


Die Medusa war im Juni 1816 mit vier anderen Schiffen im restaurierten Frankreich ausgelaufen, um Soldaten, Beamte und Siedler in die Kolonie Senegal zu bringen. Durch die Navigationsfehler und die Passivität des inkompetenten Kapitäns strandete das Schiff aber am 2. Juli auf der Arguin-Sandbank vor der afrikanischen Küste. Da es, ähnlich wie auf der Titanic etwa 100 Jahre später auch, zu wenig Rettungsboote gab, flüchtete die Elite auf die Boote. Die übrigen 147 Menschen bauten sich aus dem Schiff ein viel zu kleines Floß, um mit viel zu wenig Proviant die Küste zu erreichen. Damit begann ein brutaler Kampf ums Überleben, den nur 15 überleben würden.

Franzobel, der mit bürgerlichen Namen Franz Stefan Griebl heißt, macht aus diesem historischen Fall eine Allegorie des Überlebens. Dazu setzt er jedoch nicht erst bei der Strandung der Medusa an, sondern mit dem Ankommen von Besatzung und Passagieren am Schiff. Schon hier bietet sich ein bizarres, oft groteskes Bild der vermeintlich zivilisierten postnapoleonischen Gesellschaft. Es herrschen krasse Klassenstrukturen und ständiges Misstrauen vor. Es treffen sich allerlei ungleiche Protagonisten, die stets gegeneinander opponieren, vom führungsschwachen Kapitän, über Intriganten und Putschisten, Monarchisten mit Guillotine-Fetisch, versteckte Jakobiner, leichenfleddernde Schiffsärzte, nervige Matronen mit ebenso nervigen Kindern von hoffnungslosen Kaufmännern, abenteuerlustige und naive Idealisten bis hin zu sexuell dauerregten Jungfern und brutalen Matrosen. Diese aufgeklärte Gesellschaft offenbart ihr wahres Gesicht, der Lust am blutigen Spektakel und der Brutalität zur Zementierung der Hierarchien schon von Anfang an. Dies demonstriert Franzobel en détail an diabolischen Köchen, die ihre Untergebenen schinden, ekligen Initiationsritualen, von der die Gorch Fock nur träumen kann, und drakonischen Strafen, die tödlich enden. Die erste Hälfte des Romans beschäftigt sich alleine mit dieser Gesellschaft, bis Katastrophe und Wendepunkt in eins fallen.

Monstrositäten und Bewusstseinsströme

Die pure Brutalität und das Recht des Stärkeren, die schließlich auf dem Rettungsfloß herrschen werden, wenn die letzten Grenzen des Schams, des Gewissens und des royalen Rechts fallen, ist nur eine Steigerung der sozialen Erscheinungen, denen der Leser von Anfang an auf der Medusa folgte. Damit wird Franzobels Roman zu einem epochalen Kunstwerk über die Abgründe des Menschen und dem Schein der Zivilisation, wenn es um den Kampf um Ressourcen und das Überleben geht. Der Ausnahmezustand macht nur deutlicher, was dem vergesellschafteten Mensch schon inhärent ist – nämlich das Huldigen eines Gottes des Gemetzels, wie es im gleichnamigen Theaterstück von Yasmina Reza heißt.

Das Floß der Medusa ist schon durch die detaillierten Schilderungen der Rücksichtslosigkeit und Brutalität kein Buch für sanfte Gemüter. Doch Franzobel suhlt sich nicht, wie manch anderer, in monströsen Szenen, sondern verfremdet sie. Er fabuliert breit und kombiniert verschiedene Stile in wilder Manier. Die blanke Gewalt des nackten Lebens wechselt sich ununterbrochen mit surrealen Alpträumen, dem beißenden Sarkasmus eines allwissenden Erzählers, den traumatischen Perspektiven und der Angst vieler Täter und Opfer, Rachegeistern und irren Bewusstseinsströmen ab.

Genau das verleiht dem Roman seine literarische Tiefe, sein Fieber, seine tragikomischen Verfremdungsmomente. Das führt dazu, dass es sich hierbei um keinen historischen Roman, sondern ein Epos mit anthropologischen Prämissen über den Menschen in Not handelt. An diesem Meisterwerk ist dabei zusätzlich erstaunlich, dass es sich um ein literarisch komplexes Mischwerk handelt, das dennoch – oder eher gerade deswegen – einen gut zugänglichen philosophischen Lesegenuss bietet.

Titelbild: Das Floß der Medusa (Théodore Géricault)

Franzobel: Das Floß der Medusa

Erscheinungsdatum: 30.01.2017

592 Seiten

Zsolnay

26€

ISBN 978-3-552-05816-3

1 Kommentare

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