Ein Donnerwetter geht um in Europa, so auch in Karl-Marx-Stadt. Ein Tagebuch zum Kosmonaut Festival.
Am frühen Freitagmorgen der Schock aus sechs Buchstaben: Brexit, die Briten wollen nicht mehr. Dachte sich das Kosmonaut Festival: wir auch nicht. So wurde in Chemnitz am vergangenen Wochenende nahezu gänzlich auf den Import britischer Acts verzichtet und stattdessen der heimischen Musik gefrönt. Erwartete uns deswegen eine Veranstaltung, die sich ohne Umschweife dem aktuellen Trend des wiederentdeckten Nationalismus innerhalb Europas verschreibt? Durchaus naheliegend, schließlich sind in Chemnitz, wie wir ja alle bereits wissen, sonst nur Nazis, Rentner und Hools unterwegs. Glücklicherweise schlägt das Kosmonaut Festival in eine andere Kerbe.
Tag 1
Dementsprechend machen wir unerschrockenen Festivalreporter von postmondän uns hoffnungsvoll auf den Weg Richtung südwestliches Sachsen, dort, wo das Erzgebirge seine ersten Wellen schlägt. Am Chemnitzer Hauptbahnhof angekommen, erwartet uns bereits freudestrahlend der Shuttlebus, der uns gerne zum Gelände fahren möchte. So nehmen wir das Angebot an und bekommen obendrein eine kleine Stadtrundfahrt, die uns immerhin aus der Stadt herausführen soll. Ein städtebaulicher Wahnsinn versetzt uns alsbald in eine andere Welt, was ja durchaus im Sinne eines Festivals ist. Pittoreske Straßenzüge stehen hier in einem mehr oder weniger symbiotischen Verhältnis zu sozialistisch-klassizistischen Bauwerken. Quasi ein Melting Pot aller architektonischen Vorlieben, von Mendelsohn über Stalin bis hin zu Erika Mustermann. Marx‘ sieben Meter großes Konterfei drückt jedoch alles andere als Begeisterung aus, also schnurstracks zum Stausee Oberrabenstein am Stadtrand, wo sich zum vierten Mal die Kosmonauten versammeln.
Mit Blick über grüne Wiesen und die Dächer der Stadt steht mittlerweile das Zelt, sodass die Umgebung erkundet werden kann. Schnell fällt auf, dass Helga auch mal wieder mit am Start ist. Wir freuen uns selbstverständlich über ihre vermeintliche Anwesenheit. Schließlich ist es ihr angesichts der Tatsache, dass Festivals in den vergangenen Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen, inzwischen unmöglich geworden, sämtliche Veranstaltungen zu besuchen. Folglich wurde bereits das Rufen ihres Namens das ein oder andere Mal schmerzlich vermisst. Da wir uns schon mit dem Thema Rumgegröle beschäftigen: Ein bisschen britisch wird es dann doch. Als Konsequenz der Fußball-EM wird während des gesamten Wochenendes der nordirische Nationalspieler Will Grigg besungen. Eingewechselt wird er hier jedoch ebenso wenig wie in Frankreich.
Zwei lauwarme Cervisiae aus der Blechbüchse später wird nun endlich die erste Bühne erreicht. Den von abstrusen Verschwörungen schwadronierenden Prinz Pi haben wir leider versäumt. Also schauen wir uns den Auftritt der beiden Girls von Boy an. Dabei knistert es so sehr in der Luft, dass die Technik versagt und der Gig unterbrochen werden muss. Derweil spielen auf einer der Nebenbühnen Mule & Man, einem Hybrid aus Kid Simius und Bonaparte. Die Bühnenshow ist zwar nicht ganz so stark von faszinierender Absurdität geprägt, wie man es seit vielen Jahren von der zweitgenannten Band gewohnt ist. Dennoch lassen die elektronischen Arrangements Kid Simius‘ und die alten Schlager von Bonaparte das Publikum mit Enthusiasmus erfüllt zurück.
Anschließend kommt es zur ersten, von vielen Besuchern heiß ersehnten, Aufführung eines Headliners. Der Bielefelder Kasper namens Casper gibt seinen einzigen inländischen Auftritt in diesem Festivalsommer und neben bedeutenden Teilen seines Œuvres gar einen neuen Song zum Besten. Das versetzt nahezu das gesamte Festival in Ekstase, denn gefühlt 93,47 % der Besucher tragen uniform ein weißes T-Shirt des bemützten Rappers. Das darauf stehende mysteriöse Datum sowie der obskure Hashtag „#lldt“ (lang lebe der tod) ließen uns zuvor rätseln, ob es sich dabei um eine Neuberechnung des Maya-Kalenders durch Nostradamus handelt. Es stellte sich jedoch heraus, dass es unwesentlich schlimmer kommen soll. Denn das Datum verweist auf das Release seines neuen Albums, das uns nun droht. Die Shirts hatte der bescheidene Geschäftsmann Casper in einer Stückzahl von 7.000 eigenständig unter das Volk gebracht.
So endet der erlebnisreiche erste Tag auf dem Kosmonaut Festival und sogleich wird feiernd der zweite eingeläutet. Während auf dem Gelände noch an verschiedenen Bühnen aufgelegt wird, kommt auch der Backstage-Bereich bis zum frühen Morgen nicht zur Ruhe. Boy haben sich die Laune nicht vermiesen lassen und zeigen mit ihren adrett-flotten Tanzbewegungen zu Gang of Four, dass es ihnen einerlei ist, am Nachmittag bereits das nächste Festival bespielen zu müssen.
Tag 2
Am nächsten Morgen (bzw. Mittag) dann der nächste Donnerschlag, dieses Mal aber verbaliter. Schwarze Wolken, grummelnder und flackernder Himmel lassen die Veranstalter an die unschönen Ereignisse während des diesjährigen Rock am Ring denken. Da gerade zeitgleich das Geschwisterpaar Hurricane und Southside stattfindet und bereits ähnliche Meldungen verkündet, werden verständlicherweise umgehend die Zeltplätze sowie das Festivalgelände abgesperrt. Möglichst viele Besucher werden in ihre Autos bzw. in die Shuttlebusse gestopft, wo sie dann für drei Stunden ausharren dürfen und mit ihrer unerschütterlich guten Laune dem miesen Wetter die Laune vermiesen.
Mit etwas Verspätung können daraufhin die ersten Bands ihre geplanten Gigs spielen. Den Anfang macht Dota, f.k.a. Die Kleingeldprinzessin. Auch sie hat mit technischen Problemen zu kämpfen, muss den letzten Titel unterbrechen und beschließt das Konzert nach Absprache mit dem Publikum durch das Spielen der letzten 30 Sekunden des Songs, sodass alle zufrieden sind. Zu DIE NERVEN haben sich leider nur wenige Leute eingefunden, dabei bestechen sie mit ihrer eigenen Auffassung von Noise-Rock. Drummer Kevin rächt sich später jedoch gekonnt am Publikum für die ausbaufähige Aufmerksamkeit, indem er lediglich mit einem durchsichtigen Regenponcho bekleidet über das Gelände streift.
Quelle: Facebook
Das Unwetter hat inzwischen endgültig die Lust verloren, sodass sämtliche Acts wie geplant über die Bühne gehen können. Feine Sahne Fischfilet, seines Zeichens vom unfehlbaren Verfassungsschutz als linksextrem eingestuft, vertritt gemeinsam mit Frittenbude das beim Festival beliebte Audiolith-Label und berichtet von der interessanten Erfahrung des Wasted-Seins im vorpommerschen Jarmen. Drangsal holt uns zurück in das Jahrzehnt unserer ersten Lebensjahre und Wanda singen von den Flaschen von gestern. Dabei dürften sie durchaus etwas mehr Selbstwertgefühl besitzen, ihren großen Durchbruch hatten sie schließlich erst im vergangenen Jahr. Abgesehen davon hat man aber das Gefühl, dass sich ihr Werk schnell abgenutzt hat. Dieser Eindruck, der bereits beim Hören ihres zweiten Albums aufkam, wird auf gewisse Weise in der Live-Performance bestätigt.
Die bei postmondän erwiesenermaßen beliebte Band Turbostaat befindet sich in dieser Hinsicht auf einem anderen Pfad. Während die fünf Herrschaften aus dem hohen Norden einige Songs ihres mittlerweile sechsten Albums präsentieren, hat es den positiven Anschein, dass sie in diesem Leben ihre Instrumente wohl nicht mehr an den Nagel hängen. Anschließend geht es weiter mit Alligatoah. Der feine Herr Gatoah singt mir von einem regenbogenfarbenen Heißluftballon, dass ich schön sei, dafür aber nichts könne. Ich nehme es dennoch wohlwollend zur Kenntnis. Um den Altersdurchschnitt zu heben – was uns beim Blick in die große Runde absolut entgegenkommt – hat der mittlerweile auch aus Rundfunk und Fernsehen bekannte Singer-Songwriter Olli Schulz seine Stunde Ruhm am Stausee Oberrabenstein. Passenderweise erzählt er den Heranwachsenden, dass es gar nicht so schlimm sei, älter zu werden. Mit diesen tiefgehenden Worten neigt sich der zweite und letzte Tag des Kosmonaut Festival dem Ende entgegen.
Ach ja, einen geheimen Headliner gibt es auch noch. Der trägt den Namen Die Fantastischen Vier. Das Lüften des sagenumwobenen Geheimnisses hat ambivalente Reaktionen zur Folge. Zwar bleibt es vor der Hauptbühne recht voll, doch andererseits treibt es Scharen von enttäuscht dreinblickenden Menschen vom Gelände. Sie ahnen bereits, dass anstelle des folgenden lustlosen Auftritts der Hip-Pop-Veteranen eventuell mehr hätte gehen können. Die Veranstalter werden es für das nächste Jahr auf dem Zettel haben. Apropos, was machten eigentlich die Gastgeber von Kraftklub? Sie begnügten sich dieses Jahr damit, am offiziellen Flunkyball-Turnier teilzunehmen.